Nebenan
Al-maniacs
Warum ist das also so, dass wir nicht Schwaben, Sachsen oder Berliner für Randale verantwortlich machen, wohl aber „die Ausländer“? Und seit wann? Denn das ist ja längst nicht immer schon so gewesen.
Von Sven Bensmann Montag, 09.01.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.01.2023, 6:23 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Im Selbstverständnis der Deutschen hat das Deutsche per se heute nur noch selten Platz. Deutsche fühlen sich zwar oft als Europäer, aber eben oft auch als Schwaben, Berliner, Kölner oder Norddeutsche, in der Fremdzuschreibung gelegentlich auch als „Almans“ – aber sich so richtig als deutsch zu identifizieren, dass tun eigentlich nur noch die gehörig Zurückgebliebenen.
„Lokalpatriotismus ist ein interessantes Konzept, denn er ist weit weniger exklusiv als nationaler Patriotismus: Wo die Zurückgebliebenen auf deutsches Blut und deutschen Boden verweisen, um Zugewanderte auszuschließen, funktioniert das beim Lokalpatriotismus einfach nicht.“
___STEADY_PAYWALL___
In Zeiten zunehmender Flexibilisierung und immer mehr Pendlern hat sich als Ersatz dafür ein wohl ziemlich deutscher Begriff gefunden: Lokalpatriotismus. Und Lokalpatriotismus ist ein interessantes Konzept, denn er ist weit weniger exklusiv als nationaler Patriotismus: Wo die Zurückgebliebenen auf deutsches Blut und deutschen Boden verweisen, um Zugewanderte auszuschließen, funktioniert das beim Lokalpatriotismus einfach nicht: Auch ein Dortmunder kann nach Schalke ziehen, ohne sich größere Sorgen um seine Sicherheit zu machen, als jeder andere, der nach Schalke zieht – und sei es auch vielleicht nur, weil man beide sowieso nicht auseinander halten könnte, wenn man wollte. Selbst Kölner und Düsseldorfer können sich ja am Ende noch darauf einigen, dass es normal sei, Pisse zu trinken – um allein darüber zu streiten, ob sie ins Kölsch- oder ins Alt-Glas gehört.
Auch einen Satz wie: „Diese scheiß Eckernförder – kommen hierher zu uns nach Kiel und nehmen uns anständigen Kielern die Frauen weg!“ habe ich in meinem Leben erst ein einziges Mal gelesen: an diesem Wochenende, als ich selbst ihn scherzhaft einem Freund schrieb.
Ich hatte mich zuvor geärgert, dass die US-Republikaner sich nicht noch weiter zerfleischten, und auch Silvester würde zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Textes zu lange kalter Kaffee sein – zumal man den rechten Trollen um Union und AfD ja auch nicht unnötig Aufmerksamkeit schenken will. Damit war mir mein Aufhänger allerdings flöten gegangen. Jener Freund hatte gerade, beim Verweis auf Silvester, direkt auf die besoffenen, deutschen Landeier verwiesen, mit denen er gerade im Zug nach Kiel saß, unterwegs zu einem Date – und sich daraufhin jenen scherzhaften Kommentar eingefangen, der mich dann anschließend noch zum Nachdenken brachte.
„Warum ist das also so, dass wir nicht Schwaben, Sachsen oder Berliner für Randale verantwortlich machen, oder eben dafür, „uns die Frauen wegzunehmen“, wohl aber „die Ausländer“? Und seit wann? Denn das ist ja längst nicht immer schon so gewesen.“
Warum ist das also so, dass wir nicht Schwaben, Sachsen oder Berliner für Randale verantwortlich machen, oder eben dafür, „uns die Frauen wegzunehmen“, wohl aber „die Ausländer“? Und seit wann? Denn das ist ja längst nicht immer schon so gewesen.
Selbst einmal als Landei geboren, erzählte mir mein Vater vor langer Zeit nämlich davon, dass er selbst in seiner Jugend „auf die Fresse“ bekommen hatte, als er es gewagt hatte, seine Zukünftige nicht aus seinem eigenen inzestuösen Kuhkaff zu wählen, sondern aus dem inzestuösen Kuhkaff nebenan. Die dortige Jugend hatte es offenbar eben auch nicht geschätzt, dass man sich nun kuhkaffübergreifend die Frauen „wegnahm“. Heute kommt das zumindest in diesem spezifischen Kuhkaff nicht mehr vor, doch die deutsche Jugend ist heute wie damals verkommen und gewalttätig, zumindest wenn man der jeweiligen Großelterngeneration Glauben schenkt. Dabei hatte die Generation zuvor noch ganz Europa in Schutt und Asche gelegt, statt nur in ein paar Berliner Straßen an einem Tag im Jahr Silvesterfeierwerk zu zünden – so viel zur wohlerzogenen arisch-deutschen Jugend im Kontrast zu den unflätigen Berliner Türkenbengeln, wie der Vergleich durch rechte Hetzer von CDU bis CSU (und darüber hinaus) die letzten Tage gezogen wurde.
Vermutlich irgendwann während der gewalttätigen Revolte des ungewaschenen langhaarigen Studentenpacks (damals noch weitgehend sortenrein und ohne verzogene Türkenbengel) am Ende der 60er und dem durch sie erreichten, langsam aus den Städten aufs Land schwappenden, gesellschaftlichen Fortschritt muss sich hier also etwas geändert haben. Vielleicht hat man vom linken Lager bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein auch einfach keine Angst mehr davor, dass einem irgendwelche Frauen weggenommen werden könnten, weil das Konzept eines solchen Besitzverhältnisses in den Köpfen gar nicht mehr existierte, während im rechten Lager Konzepte wie Rassismus (a), Nationalismus (b) und Sexismus (c) eine gewisse Prävalenz aufweisen, die eine perfekte Melange bildeten aus (a) die Ausländer nehmen (b) uns Deutschen (c) unsere Frauen weg. Und da liegt wohl die Antwort: Die, die sich heute noch als deutsch identifizieren, sind dieselben, die Frauen noch als jemandes Besitz verstehen – und das schließt erstaunlicherweise sogar viele derjenigen ein, die nicht in Deutschland geboren sind, aber alle paar Jahre mit Deutschlandflaggen am Benzinschlucker über die Autobahn knattern.
Ich weiß nicht woran es liegt; vielleicht daran, dass die Gleichstellung der Frau so langsam wirklich in allen Bereichen der Gesellschaft ankommt, oder daran, dass die LGBTQI+Community (fehlt da noch wer?) langsam eine angemessene Repräsentanz in der Öffentlichkeit findet, aber Sex überhaupt scheint in der extremen Rechten gerade eine immer wichtigere ideologische Stellung einzunehmen und geradezu sinn- und identitätsstiftend zu werden – sei es in Form der selbsternannten Männerrechtler, der untervögelten InCels („ungewollt zölibatär lebend“) oder in Form des amerikanischen Übernazis Nick Fuentes, neuer best friend des nicht mehr ganz frisch als Nazi geouteten Yedolf Yeetler (formerly known as Kanye West) und Dinnergast Donald Trumps, der sich öffentlich äußerte, dass es seines Erachtens total schwul sei, als Mann mit einer Frau auszugehen oder gar Sex mit einer solchen zu haben, überhaupt sei jede Form von sexueller Aktivität „gay“ – und er als 24-jährige Jungfrau sei daher der „straightest guy“ überhaupt: Er ist damit nicht einmal allein, die VolCels oder MGTOWs werden ebenfalls immer mehr.
„Jeder Anflug von gesundem Menschenverstand ist nun vollständig aufgelöst.“
Auf Höhe der alten Nazis ist das allerdings nicht mehr – deren Hetero-Wahn fand seine Begründung immer in einem perversen „Volkswohl“, in der Erhaltung des Staates durch Diskriminierung aller, deren Liebe nicht zur Nachzucht neuer Soldaten geeignet war. Das hat immerhin ja auch noch so etwas wie eine gewisse innere Logik, zumindest, wenn man schon wieder den nächsten Weltkrieg plant – und lässt sich als konservatives Dogma damit sogar noch verargumentieren. Aber 24-jährige Jungfrauen, die im Keller ihrer Mama laut aufschreien: „Iiiihhhh! Du hast ne Frau geküsst! Das ist ja sooo schwuuul!“? Eher nicht. Hierin hat die antifeministische rechte Ideologie ihren verdienten irrationalen Höhepunkt erreicht, jeder Anflug von gesundem Menschenverstand ist nun vollständig aufgelöst.
Und am Ende gilt eben auch ganz einfach, was immer schon galt: Wer selbst keinen hat, muss halt ständig über Sex reden. Meinung
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Rheinland-Pfalz-Studie Jeder zweite Polizist lehnt muslimfeindliche…
- Neue Integrationskursverordnung Bundesregierung will Integrationskurse verschlanken
- Drama im Mittelmeer Seenotretter bergen hunderte Geflüchtete
- Studie Deutschland braucht Einwanderung – und diskriminiert
- Wie und warum? Doku zum Feuertod des Asylbewerbers Jalloh in einer…
- Auftrag des Grundgesetzes Menschenwürde in der Einwanderungsgesellschaft