Miriam Rosenlehner, Migazin, Portrait, Rassismus, Schriftstellerin, Buch
Miriam Rosenlehner © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Ansichten & Aussichten

Eine Weihnachtsgeschichte

Christlich-abendländische Flüchtlingspolitik? Die Weihnachtszeit eignet sich besonders, unsere Werte mit unseren Handlungen zu vergleichen.

Von Sonntag, 18.12.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 18.12.2022, 11:01 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Christen und viele Nichtchristen bereiten sich auf Weihnachten vor. In meiner internationalen Klasse lasen wir ein Gedicht über den Stern von Bethlehem. Die wenigsten Kinder kannten die Geschichte.

Sie handelt von Maria und Josef. Von einer schwangeren jungen Frau und ihrem Begleiter auf der Flucht. Sie fliehen vor unhaltbaren Verhältnissen. Sie müssen an viele Türen klopfen, bevor einer die beiden wenigstens in seinem Stall übernachten lässt. Dort, zwischen den Tieren, bringt Maria ihr Kind zur Welt, alleine, in der Fremde.

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Der Sohn des christlichen Gottes ist ein Fliehender, noch bevor er geboren wird. Er ist, was wir heute randständig nennen würden. Ein hilfloses Kind, seiner Rechte beraubt, unwillkommen, völlig mittellos, ohne Anspruch auf Hilfe und ausgeliefert. In der Geschichte geht über dem Stall ein besonderer Stern auf. Dem folgen die „drei Weisen aus dem Morgenland“ und finden Jesus.

Die Kinder meiner Klasse hören mir zu, als ich diese Geschichte in kindgerechte Worte fasse, während uns der Schein der feuersicheren Lichterkette bestrahlt. Ich versuche in ihren Gesichtern zu lesen, was bei dieser Geschichte in ihnen vorgeht.

Das Morgenland beschäftigt sie. Wo genau ist das, wo diese Weisen herkommen? Morgen ist dort, wo die Sonne aufgeht. Im Osten von Jesus aus gesehen. Wir nehmen eine Landkarte zu Hilfe. Man vermutet heute, dass die Weisen aus Persien kamen. Sie kamen von weither – und wohin waren sie unterwegs? Bethlehem liegt heute in Israel. Jesus war also keiner von hier.

„Gerade die Länder in der EU, die auf ihr christlich-abendländisches Erbe pochen, verschließen ihre Türen wie die, die in der Weihnachtsgeschichte ihre Türen vor Maria und Josef verschlossen.“

Als diesen Kindern klar wird, dass die Geschichte nicht in Europa spielt, dass Jesus einer wie sie gewesen sein muss, erlebt man, wie den jungen Menschen ein Licht aufgeht: Die Erkenntnis, dass das westliche Christentum eine Geschichte erzählt, die von einem Fliehenden handelt. Die Erkenntnis, dass Jesus nicht weiß gewesen sein kann, auch wenn er in unserer Version immer so blond daherkommt. Die Erkenntnis, dass die christlich-abendländische Kultur gar nicht so abendländisch begann. Die Erkenntnis, dass Flucht, Vertreibung und Fremdsein der Kern der Geschichte ist.

Man muss gar kein Christ sein, um die Botschaft der Weihnachtsgeschichte zu verstehen. Sie bietet auch viel Interessantes für Gesellschaftswissenschaftler.

Auch heute sind Fliehende nicht willkommen. Flüchtlingsunterkünfte am Rande von Europa sind in einem Zustand, dass man sich den guten alten Stall zurückwünscht. Gerade die Länder in der EU, die auf ihr christlich-abendländisches Erbe pochen, verschließen ihre Türen wie die, die in der Weihnachtsgeschichte ihre Türen vor Maria und Josef verschlossen.

„Auch wenn Borderviolence die bereits eintausendste Aussage von Betroffenen über das Unrecht aufgenommen hat: Wir glauben ihnen nicht.“

Während wir die Plätzchen in die heiße Schokolade stippen, ertrinken Menschen im Mittelmehr oder erfrieren im Niemandsland an europäischen Außengrenzen. Private Retter werden vor Gericht gestellt und ihre Schiffe werden festgesetzt, während wir unsere Hände in Unschuld waschen. Schiffe mit Fliehenden erhalten keine Landeerlaubnis, während an Bord Menschen sterben.

Illegale Pushbacks, also das gewaltsame Zurückbringen von Fliehenden über die EU-Außengrenze, kommen in den Nachrichten eher selten vor. Die Praxis sei unbewiesen, heißt es. Auch wenn Borderviolence die bereits eintausendste Aussage von Betroffenen über das Unrecht aufgenommen hat: Wir glauben ihnen nicht.

Vor kurzem schaffte es das Handyvideo einer Gruppe Fliehender in die Tagesschau. Sie hatten versucht, über die bulgarische Grenze in die EU einzureisen, als Schüsse fielen. Ein junger Mann wurde in die Brust getroffen. Er überlebte und die Presse traf ihn wenig später zum Interview.

Ungläubig sieht der junge Mann in die Kamera und sagt: „Ich hätte nie gedacht, dass auf mich geschossen wird, in einem Land, das sich europäisch nennt.“

„Unsere Werte passen einfach nicht zu unseren Handlungen.“

Was der 19-jährige Junge da formuliert, zeigt unser ganzes Dilemma. Unsere Werte passen einfach nicht zu unseren Handlungen. Zumindest nicht, wenn die Fliehenden aussehen, wie Jesus vermutlich aussah oder aus der Weltgegend kommen, aus der er vermutlich stammte.

Falls einem Weihnachten bei diesen Erkenntnissen noch nicht vergangen ist, kann man sich fragen, wie wir unseren Werten an Weihnachten ein bisschen Leben einhauchen können.

„Spenden Sie an die Organisationen, die Jesus aus dem Wasser ziehen würden: Seawatch, Alarm Phone, SOS Mediterranee, Sea-Eye, German Doctors, Seebrücke zum Beispiel.“

Stauben Sie auch immer noch den Nippes der Weihnachtsgeschenke von letztem Jahr ab? Machen wir es diesmal besser. Schenken wir Spendenbescheinigungen zu Weihnachten. Denn was wir brauchen, ist sicher nicht mehr blinkendes Zeug, sondern mehr Menschenrechte. Spenden Sie an die Organisationen, die Jesus aus dem Wasser ziehen würden: Seawatch, Alarm Phone, SOS Mediterranee, Sea-Eye, German Doctors, Seebrücke zum Beispiel.

Wenn kein Geld zum Spenden da ist, schreiben Sie Ihren Abgeordneten eine Weihnachtskarte und erinnern Sie sie daran, welchen Werten er/sie verpflichtet ist. Sagen Sie den Politikerinnen und Politikern, welche Politik Sie sich wünschen. Schreiben Sie an die Behörden, die Rettungsschiffe festsetzen oder verschenken Sie vorgeschriebene, frankierte und adressierte Postkarten, die sich an diese Behörden richten.

Wenn wir die schweigende Mehrheit bleiben, hört man die menschenverachtende Minderheit zu laut. Es ist Weihnachten. Ich glaube daran, dass die Mehrheit diese Zustände abschaffen will. Also tun wir etwas dafür.
Meinung

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