Erklärung der Opfer
Sachverhalt nicht aufgeklärt, Polizist ist plausibler Alternativtäter
Am Donnerstag wird das Urteil im NSU-2.0-Prozess erwartet. Die Empfängerinnen der Drohschreiben machen in einer gemeinsamen Erklärung deutlich, dass der Sachverhalt nicht aufgeklärt ist. Sie kritisieren die Einzeltäter-Theorie und haben einen „plausiblen“ Alternativtäter: ein Polizeibeamter. MiGAZIN veröffentlicht die Erklärung im Wortlaut:
Dienstag, 15.11.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.11.2022, 16:21 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Wir erhoffen uns von dem Gericht ein wichtiges Urteil mit einer starken Signalwirkung an den Angeklagten A. M. und alle Nachahmer:innen, die mit rechtsextremen, rassistischen und misogynen Drohschreiben ein Klima der Angst und Einschüchterung weit über den unmittelbaren Kreis der Betroffenen schüren wollten und wollen.
Ebenso erhoffen wir uns von dem Gericht ein Signal, dass die Drohserie nicht vollständig aufgeklärt und die hessische Polizei durch die Verurteilung des M. auch nicht entlastet ist. Deshalb hat die Nebenklage einen Freispruch für den Angeklagten M. in Bezug auf das erste Drohschreiben beantragt. Nach der umfangreichen Beweisaufnahme ist weiterhin die Rolle von mindestens einem Polizeibeamten und einer Polizeibeamtin des 1. Frankfurter Polizeireviers ungeklärt.
Plausibler Alternativtäter: Polizeibeamter
Am 2. August 2018 wurden durch eine fünf Minuten dauernde Abfrage mit 17 verschiedenen Abfragemodalitäten die privaten Daten von Seda Başay-Yıldız und ihrer Familie in polizeilichen Datenbanken abgerufen. Bereits 90 Minuten später wurde das erste mit NSU 2.0 unterschriebene Drohfax an sie versandt. Wir gehen nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Angeklagte M. die Daten von Seda Başay-Yıldız nicht durch einen Anruf auf dem Revier erhalten haben kann und dass er nicht die technischen Mittel zum Versenden dieses ersten Drohfaxes hatte.
Hingegen hat die Beweisaufnahme für den Datenabruf und das Verschicken des Drohfaxes einen plausiblen Alternativtäter ergeben: Den Beamten des 1. Polizeireviers Johannes S. Die als Zeugen geladenen Polizeibeamt:innen des 1. Polizeireviers haben in ihren Aussagen vor dem Landgericht nichts zur Aufklärung dieses Sachverhalts beigetragen und sich schützend vor den verdächtigen Beamten Johannes S. gestellt.
Urteil kein Freispruch für Polizei
Für uns ist es ein Skandal, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt sich auf den vermeintlichen Einzeltäter, den Angeklagten M. festgelegt und versucht hat, die Frage zu der Rolle von hessischen Polizeibeamt:innen und einer verfestigten Gruppe rechter Polizeibeamt:innen im 1. Polizeirevier zu Beginn der Drohserie NSU 2.0 aus dem Verfahren herauszuhalten.
Mit dem Urteil – so viel steht schon jetzt fest – ist kein Freispruch für rechte Netzwerke in der Polizei verbunden. Wir fordern die Ermittlungen in Hinblick auf die polizeilichen Datenabrufe weiter nachdrücklich zu betreiben, dies gilt insbesondere für die noch offenen Ermittlungsverfahren gegen in diesem Zusammenhang beschuldigte und namentlich bekannte Polizeibeamt:innen.
Frankfurt und Berlin, den 15. November 2022. Gemeinsame Erklärung von Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah.
Hinweis der Redaktion: Die Staatsanwaltschaft fordert für M. eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten. Der arbeitslose Berliner soll unter anderem wegen Beleidigung und versuchter Nötigung sowie Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung verurteilt werden. Die Hauptverhandlung läuft seit Februar vor dem Frankfurter Oberlandesgericht.
(mig) Aktuell Panorama
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Rechte Stimmung bedient Asylbewerber arbeiten für 80 Cent die Stunde
- Rassismus-Verdacht bleibt Staatsanwalt: Alle acht Polizeischüsse waren…
- Fluchtursachen? Deutschland kürzt internationale Klimahilfe
- Hamburg Bruch von Kirchenasyl empört Bischöfe und Politik
- Netzwerke Führen aus der zweiten Reihe hat bei der AfD Tradition
- Folgen der EU-Abschottung Wohl Dutzende Tote nach Bootsunglück vor Kanaren