Ukraine-Reise
„Dort, wo der Asphalt endet, leben die Roma“
Romeo Franz, Sinto und EU-Abgeordneter, macht sich ein Bild von der Situation der Roma in der Ukraine - nicht trotz, sondern wegen des Krieges. Was er sieht, offenbart dringenden Handlungsbedarf.
Von Alexandra Senfft Montag, 14.11.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.11.2022, 6:15 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
„Dort, wo der Asphalt endet, leben die Roma“, sagt Romeo Franz, als eine Straße in Ushhorod, eine Stadt in der Ukraine, abrupt in einen staubigen Schotterweg mündet: Radwanka, ein Stadtteil mit 3.000 Einwohnern. Der Sinto, Musiker und Grüne EU-Abgeordnete will sich ein Bild von der Situation der ukrainischen Roma machen – nicht trotz, sondern wegen des Krieges. Denn die Roma leiden als nicht anerkannte und strukturell benachteiligte Minderheit am meisten unter der Situation.
Schätzungen nach leben bis zu 400.000 Angehörige der romanessprachigen Minderheiten, überwiegend Roma aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen in der Ukraine. Sie sind auf allen Ebenen benachteiligt: in der Bildung, dem Gesundheitswesen, auf dem Arbeits- und Wohnmarkt, bei den Behörden. Roma, die schon in sowjetischer Zeit keine Dokumente besaßen, müssen riesige Hürden überwinden, um sich Ausweise zu beschaffen, ihre Lage ist besonders prekär. 30 Prozent dieser Ukrainer wohnen laut Aussagen von NGOs integriert in Städten, die meisten verleugnen jedoch ihre Identität aus Angst vor Diskriminierung. 70 Prozent leben in Siedlungen – in bürgerlichen Verhältnissen, angemessen versorgt oder in tiefster Armut.
Romeo Franz begleitet den im März berufenen Antiziganismusbeauftragten der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler. Deutschland ist das erste Land, das den jahrhundertealten Rassismus gegen Sinti und Roma mit mehr als nur Lippenbekenntnissen bekämpfen will. Anlass für seine erste internationale Reise waren diverse Zwischenfälle in Deutschland, in denen ukrainische Roma auf der Flucht einzig aufgrund ihres Äußeren schlecht behandelt wurden: willkürlich von Polizei aus dem ICE geholt, Zugang zum Raum für Geflüchtete am Bahnhof verwehrt und Ähnliches. „Unerträglich, dass die Deutsche Bahn als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn, die die Sinti und Roma in die Konzentrationslager deportierte, diese Menschen in ihren Zügen rassistisch angeht“, so Daimagüler.
Auf Augenhöhe
Er will die Hintergründe von Binnenflucht innerhalb der Ukraine und in die EU am Ort recherchieren, um daraus Handlungen abzuleiten. Ein Novum ist, dass er mit Vertretern der deutschen Sinti und Roma reist – auf Augenhöhe. „Wir müssen mit den Menschen reden, nicht über sie“, so seine Überzeugung. Zur Delegation gehört neben Romeo Franz auch Daniel Strauß, Co-Vorsitzender der Bundesvereinigung der Sinti und Roma sowie Vorsitzender des Bundesverbands der Sinti und Roma Baden-Württemberg. Ihre Reise von der Westukraine bis nach Kiew und zurück nach Lviv ist immer wieder begleitet von Fliegeralarmen, die die Bürger vor russischen Angriffen warnen.
Uschhorod mit rund 120.000 Einwohnern liegt in Transkarpatien an der Grenze zu Ungarn und der Slowakei. Hier wird Ungarisch, Ukrainisch, Russisch gesprochen – und Romanes, denn mindestens 7.000 Roma sind am Ort ansässig. Die meisten leben in Siedlungen wie Radwanka, keine zwei Kilometer vom Zentrum entfernt. Swetlana Adam, Leiterin der Gesellschaft der Roma in Transkarpatien, empfängt die Delegation mit Vertreter:innen von Roma NGOs. Darunter Nikolaj Burluckij, Leiter der NGO Chachimo (Wahrheit) für Bildung und Rechtsberatung. Der in Russland geborene Rom ist im Krieg aus Charkiw geflohen und hilft in Ushhorod nun anderen Flüchtlingen. Als Pastor der Dreifaltigkeitskirche hat er besonderen Zugang zu den Menschen, von denen viele gläubig sind und Freikirchen angehören. Burluckij will einen Dialog zwischen der Minderheit und Mehrheit herstellen und den Roma zu ihren Bürgerrechten verhelfen: ein gegenseitiger Lernprozess. Doch davon ist man in der Ukraine noch weit entfernt. Er berichtet von regelmäßiger, oft tödlicher Gewalt gegen Roma. „Ein Ende der Diskriminierung erleben wir wohl erst im Himmel“, sagt er.
„Ende der Diskriminierung wohl erst im Himmel“
Den Roma fehlt aufgrund der generationsübergreifenden Traumata und Diskriminierungserfahrungen oft das Vertrauen gegenüber Fremden und Institutionen. Die Anwesenheit der beiden Deutschen mit Romanes-Hintergrund macht es ihnen leichter, sich zu äußern. Eleonora Kutschar erzählt, wie sie Kinder auf die Schule vorbereitet, um sie vor der üblichen Bildungsfalle zu schützen. Das ist Pionierarbeit, denn 85 Prozent der Roma in Ushhorod gehen auf segregierte Schulen, allein 15 Prozent schaffen es auf die besseren regulären Schulen.
Die strukturellen Benachteiligungen und deren sozialen Folgen sind für diesen Missstand verantwortlich. Viele Eltern verstehen die Abläufe zur Einschulung nicht, können sich das teure Schulmaterial nicht leisten, kennen ihre Rechte nicht. Eine informelle Absprache unter Ushhorods Regelschulen führte dazu, dass pro Schule nur maximal fünf Roma zugelassen werden. Viktor Tschowka kämpfte dafür, dass die Kinder eines Verwandten auf eine gute Schule kamen, damit sie bessere Chancen haben. Doch sie wollten nicht lange bleiben: „Vom Direktor bis zu den Schülern wurden sie gemobbt“, sagt der Journalist und Aktivist. Jetzt gehen sie auf eine andere Schule. „Das Wichtigste für die Menschen ist das Gefühl, gebraucht zu werden“, sagt er.
Kaum jemand hat je gefragt, schon gar nicht Deutsche
Tschowka leitet Patiw, Romanes für Würde. Die NGO hat von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ eine einmalige Soforthilfe bekommen, um Roma, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt haben, mit dem Notwendigsten zu versorgen, vor allem mit Lebensmitteln und Medikamenten. Im Gemeinschaftsraum der Gesellschaft erzählen betagte Roma der Delegation von ihrer schweren Kindheit während der Zeit des Nationalsozialismus. Kaum jemand hat sie je danach gefragt, schon gar nicht Deutsche, geschweige denn, dass sie für das erfahrene Leid angemessen entschädigt worden wären.
Sie lebten mit ihren Familien wohl situiert, mit Haus und Vieh, bis die Nazis kamen und alles zerstörten. Viele erlebten Trennungen von den Eltern, verloren Angehörige in den Konzentrationslagern, erinnern sich an Vergewaltigungen und Verfolgung. Als Fabrikarbeiterinnen, Musiker oder Möbelhändler sind sie durchs Leben gekommen. Die 81-jährige Anna Pawlova weint. Die Fliegeralarme erinnern sie an damals. Romeo Franz und Daniel Strauß sind berührt, denn das ist auch die Geschichte ihrer eigenen Angehörigen, die in den KZs ermordet wurden oder traumatisiert überlebten.
Roma helfen einander, nur so kommen sie zurecht
Im Nebenraum des Roma-Vereins sind die Teenager aufgewacht, die am Boden auf Matratzen geschlafen haben. Momentan nutzen rund 80 Binnenflüchtlinge die Gesellschaft als temporäre Notunterkunft, über 800 wurden hier seit Kriegsbeginn schon versorgt, obwohl die Mittel sehr knapp sind. Die Fluktuation sei groß, erzählt Swetlana Adam, manche seien wieder nach Hause zurückgekehrt oder weiter in die EU geflohen. Die Roma helfen einander, nur so kommen sie zurecht, insbesondere in dieser Krisensituation.
Ein anschließender Besuch im nahegelegenen Slum Tel’mana ist bedrückend: Müll und Elend. Die mindestens tausend Bewohner hier sind nicht ans Stadtwasser oder die Elektrizität angeschlossen, der Müll wird nicht abgeholt. Ihre aus Beton, Holz, Wellblech und anderen Materialien gebauten Unterkünften sowie eine Baracke, die als Kirche dient, sind trotzdem sauber. „Wie oft schon habe ich mit Privatleuten den Müll entsorgen lassen, die Verwaltung kümmert sich einfach nicht!“, stöhnt Myroslaw Gorvat, Stadtrat mit Romanes-Hintergrund. Selbst in der Hochphase von Covid ließ man die Menschen allein.
Ukrainische Strategie zum Schutz der Roma ist Papiertiger
Ohne Hilfe zur Selbsthilfe unter aktiver Beteiligung der Betroffenen seien die Fortschritte zu langsam, so Gorvat. Der Stadtrat betont, dass viele Roma gegen die Russen kämpften und zeigt stolz Fotos von Soldaten. Denn es gehört zu den Vorurteilen, dass Roma eigentlich keine Bürger der Ukraine, sondern Nomaden seien. Das ist antiziganistische Rhetorik, die die deutsche Delegation auf ihrer Reise von anderen Ukrainern immer wieder zu hören bekommt.
In Gesprächen in Kiew mit NGOs und Regierungsvertretern, zuständig für Menschenrechte und Minoritäten, wird deutlich: Die von der Ukraine verabschiedete Strategie zum Schutz und zur Integration der nationalen Minderheit der Roma ist ein Papiertiger, weitaus schwächer noch als die ebenfalls nicht erfolgreiche Roma-Strategie der EU. Kein Roma war bei der Ausarbeitung beteiligt, die besonderen Bedürfnisse von Frauen wurde ignoriert, es gibt kein Budget. Erst müsse der Krieg gewonnen werden, dann könne man den Roma-Plan nochmals aufgreifen, heißt es immer wieder.
„In Deutschland kämpfen wir mit ähnlichen Problemen“, sagt der Co-Vorsitzende der Bundesvereinigung der Sinti und Roma, Daniel Strauß, „aber immerhin haben wir mittlerweile Instrumente und Rechtsmittel, um dagegen anzugehen“. Der Kampf um die gleichberechtigte Teilhabe der Sinti und Roma ist eine europäische Aufgabe, die die Minderheit nur in Zusammenarbeit mit der gesellschaftlichen Mehrheit bewältigen kann.
Dieser Beitrag erschien zuerst in „Der Schlepper“. Im MiGAZIN erscheint er in einer ergänzten Fassung.
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