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Günter Wallraff © Superbass, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Günter Wallraff

Der türkische Leiharbeiter Ali aus „ganz unten“ wird 80

Günter Wallraff ist bekannt für entlarvende Undercover-Reportagen aus der Arbeitswelt, ob „ganz unten“ als Ali oder bei „Bild“. Jetzt wird er 80. Und freut sich, sagt er, dass auch Jüngere sich „solchen langwierigen Recherchen aussetzen“.

Von Donnerstag, 29.09.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.09.2022, 13:38 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Er war als türkischer Leiharbeiter Ali „ganz unten“ in der deutschen Arbeitsgesellschaft, schuftete auf Baustellen, im Schnellrestaurant, im Stahlwerk. Als „Hans Esser“ deckte er auf, wie bei Deutschlands größter Boulevardzeitung „Bild“ Nachrichten verfälscht wurden, oder er ging in der Rolle als Schwarzer durch die Republik und erntete scharfe Kritik wegen „Blackfacing“. Günter Wallraff, der am 1. Oktober 80 wird, hat mit dem journalistischen Prinzip der Rollenreportage die deutsche Gesellschaft durchleuchtet wie kein zweiter. Er ist „eine Institution“, sagte der Grünen-Politiker Cem Özdemir 2021 anlässlich der Verleihung des Hermann-Kesten-Preises an den Schriftsteller Wallraff.

Dessen „unerwünschte Reportagen“ aus der Arbeitswelt wurden früh in Schulbüchern nachgedruckt. Seine Bücher wurden Bestseller. „Ganz unten“, das 1985 erstmals erschien, verkaufte sich in Deutschland mehr als fünf Millionen Mal und wurde in fast 40 Sprachen übersetzt. Mit diesem entlarvenden Bericht darüber, was Einwanderer in Deutschland erleben, habe Wallraff „Menschen eine Stimme gegeben, die damals noch keine vernehmbare Stimme hatten“, sagt Cem Özdemir. Das Buch stehe daher in vielen türkischen Haushalten in Deutschland. Wallraff selbst erklärte, es sei „ein erlebtes, ein erfühltes, ein erlittenes Buch“.

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Er sei „kein Journalist im klassischen Sinne“, sagt Wallraff über sich. Gleichwohl wurde er mit seinen kritischen Reportagen aus der Arbeitswelt für Journalistinnen und Journalisten mehrerer Generationen zum Vorbild. Die ständigen Rollenwechsel seien „eine Art Identitätssuche“, sagte der Autor dem „Evangelischen Pressedienst“, manchmal auch Eulenspiegeleien. In der Rolle sei er „meist authentischer, als wenn ich bei einer Podiumsveranstaltung oder in einer Talkshow sitze und kluge Sachen absondern muss“.

Zahlreiche Prozesse

Bei aller Subjektivität der Schilderungen muss das, was er schreibt, jedoch stimmen. Die Fakten müssen belegbar sein und vor Gericht standhalten, denn kaum ein Autor ist so viele Jahre lang so heftig angegriffen worden wie Wallraff. Die Unternehmen, deren ausbeuterische und oft illegale Praktiken der Journalist enthüllt hat, haben häufig versucht, die Veröffentlichung seiner Recherchen gerichtlich zu verhindern. Die Prozesse, die er wegen seiner Bücher und Reportagen geführt hat, hätten oft genauso viel Arbeit gemacht wie die Reportagen selbst, berichtet der Autor.

Doch Wallraff hat sich nicht einschüchtern lassen, und seine Anwälte haben für ihn wichtige Urteile erstritten. So entschied das Bundesverfassungsgericht 1984 in dem Verfahren, das der Springer-Konzern gegen Wallraff angestrengt hatte, dass auch die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter Informationen von der Meinungsfreiheit gedeckt sein könne – nämlich dann, wenn die Bedeutung der Informationen für die öffentliche Meinungsbildung die Nachteile überwiege.

Wo alte Nazis noch das Sagen hatten

Mit anderen Worten: Zwar hat Wallraff sich als Journalist mit falscher Identität illegal Informationen über die Arbeitsweise bei „Bild“ beschafft, doch die Öffentlichkeit hat ein großes Interesse daran zu erfahren, wie in einer publizistisch so mächtigen Redaktion wie „Bild“ gearbeitet wird. Auf dieses Urteil können sich Journalisten und Journalistinnen bis heute berufen, wenn sie verdeckt recherchieren.

Ein Schlüsselerlebnis für sein Leben war die Zeit bei der Bundeswehr, wie Wallraff erzählt. Er habe seinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu spät gestellt und sei dann 1963 zehn Monate bei der Armee gewesen, „wo damals alte Nazis noch das Sagen hatten“. Schnell hätten seine Vorgesetzten gemerkt, dass er „unbelehrbar“ sei. Schließlich sei der unbotmäßige junge Mann, der Blumen in die Gewehrmündungen seiner Kameraden steckte, in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts Koblenz eingewiesen und anschließend mit der Diagnose „abnorme Persönlichkeit, verwendungsunfähig auf Dauer für Frieden und Krieg“ entlassen worden. Damals, als 21-Jähriger, habe ihn diese Diagnose durchaus „irritiert“, sagt Wallraff rückblickend. Heute betrachte er sie als „Auszeichnung“.

Nachfolger im im Ausland gefunden

Nachdem er seine Arbeit beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen „sehr häufig den juristischen Bedenkenträgern unterordnen“ musste, wie er sagt, hat Wallraff 2013 beim Privatsender RTL eine neue Heimat gefunden: Die Sendung „Team Wallraff“ setzt auf das Prinzip der verdeckten Recherche. Ob sie so etwas wie eine Journalistenschule sei, müsse sich erst noch erweisen, meint der in Köln lebende Autor und Vater von sieben Kindern. Es freue ihn jedoch zu sehen, dass es nun Jüngere gebe, die die Themen mit großem Ernst angingen und sich solchen langwierigen Recherchen aussetzten.

Nachfolger im eigentlichen Sinne habe er jedoch eher im Ausland gefunden, sagt Wallraff. Unter anderem nennt er den Italiener Fabrizio Gatti und die Französin Florence Aubenas, deren Buch „Putze. Mein Leben im Dreck“ kürzlich unter dem Titel „Wie im echten Leben“ verfilmt wurde: „Sie sind auch für mich inzwischen zu Vorbildern geworden.“ (epd/mig) Feuilleton Leitartikel

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