Sarah Spasiano, Migrationswissenschaften, Aktivistin, Seenotrettung, Flüchtlingspolitik
Sarah Spasiano © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Ferngesteuerte Migration?

Ein Plädoyer gegen die Push-Pull-Theorie

Immer wieder wird behauptet, Seenotrettung habe einen Pull-Effekt, rege also mehr Menschen zur Migration an. Ein kritischer Blick auf die Theorie dahinter.

Von Montag, 29.08.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 29.08.2022, 6:42 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Es ist ein immer wiederkehrender Vorwurf, vor allem von rechten Politiker:innen, dass Seenotrettung als Pull-Faktor wirke, also mehr Menschen dazu bringe, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer anzutreten. Immer wieder wurden diese Vorwürfe widerlegt, sowohl von Aktivist:innen als auch von Wissenschaftler:innen. Ich werfe als Migrationswissenschaftlerin einen Blick auf die Theorie hinter dem Vorwurf und finde, dass die gesamte Debatte auf falschen Vorannahmen aufbaut.

Wie zynisch das Argument ist, Seenotrettung führe zu mehr Migration und daher zu mehr Todesopfern, wird deutlich, wenn man es zu Ende denkt: Um Menschenleben im Mittelmeer zu retten, soll man also die Rettung einstellen und Menschen einfach ertrinken lassen? Nein – hinter diesem Vorwurf steckt meist kein falsch verstandener Humanitarismus, sondern profaner, schlecht kaschierter Rassismus und der verzweifelte Versuch, Flüchtenden den Weg nach Europa zu verwehren, auch wenn man dafür wortwörtlich über Leichen gehen muss.

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„Wiederholt wurde in wissenschaftliche Studien belegt, dass (zivile) Seenotrettung nicht als Pull-Faktor wirkt.“

Wiederholt wurde in wissenschaftliche Studien belegt, dass (zivile) Seenotrettung nicht als Pull-Faktor wirkt. Ein Vergleich der Zahlen von Menschen, die in Nordafrika abfahren, mit der Präsenz von Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer, lässt keinen Pull-Effekt erkennen. Auch die zeitweise vollständige Abwesenheit von Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer, weil diese in Italien festgesetzt wurden, hielt Menschen nicht von der Überfahrt ab.

Eine einzige Studie lässt einen Zusammenhang zwischen der Seenotrettung und den Konditionen auf den Booten vermuten, jedoch nur als einer aus einer ganzen Reihe von weiteren (und relevanteren) Faktoren. Dazu zählen beispielsweise die politische Situation in Libyen, dem häufigsten Abfahrtsland, oder schlicht und einfach das Wetter. Als Migrationswissenschaftlerin weise ich aber bereits die Annahmen hinter dem Vorwurf, Seenotrettung sei ein Pull-Faktor, vehement zurück.

Die Theorie der Push- und Pull-Faktoren wurde zuerst von Everett S. Lee, einem US-amerikanischen Soziologen im Jahr 1966 formuliert. Lee versuchte damit, universelle Gesetze aufzustellen, nach deren Logik Migration funktioniere. Bereits dieser Versuch lässt sich kritisieren: Soziale Phänomene sind immer vom Kontext abhängig und lassen sich daher in den seltensten Fällen durch universelle Regeln erklären.

In ihren Grundzügen besagt Everetts Theorie, dass die Faktoren, die eine Person zur Migration bewegen, in Push-Faktoren, negative Einflüsse im Herkunftsland, und Pull-Faktoren, positive Eigenschaften des Ziellandes, aufgeteilt werden können. Diese sind sowohl auf einer Makroebene gedacht – also beispielsweise in Bezug auf globale Arbeitsmärkte – als auch auf individueller Ebene. So können auch persönliche Faktoren wie beispielsweise der eigene Gesundheitszustand oder familiäre Beziehungen ins Zielland mit einbezogen werden. Die Faktoren werden dann wie auf einer Waage gegeneinander aufgewogen und wenn der Ausschlag in Richtung Migration zeigt, brechen Menschen auf.

„Es entsteht das Bild von Migrierenden als eine dehumanisierte, willenlose, ‚flüssige‘ Masse, die durch globale Bedingungen und Ereignisse und durch das strategische Schaffen oder Aufheben von Push- und Pull-Faktoren gelenkt werden.“

Im populärwissenschaftlichen Diskurs in Medien, Politik und Behörden wird die Theorie sogar noch reduzierter verwendet. Individuen tauchen hier gar nicht mehr auf, stattdessen entsteht das Bild von Migrierenden als eine dehumanisierte, willenlose, ‚flüssige‘ Masse, die durch globale Bedingungen und Ereignisse und durch das strategische Schaffen oder Aufheben von Push- und Pull-Faktoren gelenkt werden.

In der Migrationsforschung findet die Push-Pull-Theorie schon seit Langem kaum noch Verwendung in Forschungsarbeiten, da sie als überholt gilt (was für eine Theorie aus den 60er Jahren auch nicht verwunderlich ist). Kritiker:innen bemängeln vor allem, dass die aktive, individuelle Entscheidung von Personen, zu migrieren oder zu bleiben, völlig vernachlässigt wird. Menschen werden in der Sichtweise der Push-Pull-Theorie zu ferngesteuerten Robotern, die auf der Basis von äußeren Faktoren zu einer Migrationsentscheidung gezwungen werden.

Diese Idee beruht außerdem auf der Vorstellung, dass alle Menschen die globale Bandbreite möglicher Push- und Pull-Faktoren im Blick haben, eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen und rein nach diesen rationalen Beweggründen entscheiden, ob und wohin sie migrieren. Das Menschenbild, das dahintersteckt, ist also das eines rein rational denkenden und rein wirtschaftlich agierenden Menschen. Es kann die reale Komplexität menschlicher Entscheidungen nicht erfassen.

Nach der Logik der Push-Pull-Theorie dürfte Migration nur in bestimmte Richtungen ablaufen, da viele Faktoren, etwa Kriege oder Dürren, auf ganze Regionen, Staaten oder gar Kontinente zutreffen. Sie kann nicht erklären, warum es Staaten wie Nigeria, Italien oder Marokko gibt, die gleichzeitig Ein- und Auswanderungsländer sind.

„So gilt die Theorie gemeinhin als zu sehr vereinfachend und die Komplexität einer Migrationsentscheidung nicht abbildend. Und tatsächlich funktionieren Versuche, sie in der Praxis anzuwenden ja auch nicht!“

Außerdem scheitert die Theorie daran, zu erklären, warum trotz ähnlicher Bedingungen nicht alle Menschen beispielsweise aus Krisen- und Kriegsregionen flüchten, sondern stets nur ein kleiner Teil. So gilt die Theorie gemeinhin als zu sehr vereinfachend und die Komplexität einer Migrationsentscheidung nicht abbildend. Und tatsächlich funktionieren Versuche, sie in der Praxis anzuwenden ja auch nicht!

Den theoretischen Hintergrund und seine Mängel zu verstehen ist hochrelevant, denn ein großer Teil der deutschen und europäischen Migrationspolitik baut auf der Push-Pull-Theorie auf: Die Grenzschutzmaßnahmen der EU und die Aufnahmepolitik der Mitgliedsstaaten zielen häufig auf die Abschreckung von potenziell zukünftig noch kommenden Migrierenden. In der Logik der Push-Pull-Theorie werden furchtbare, inhumane Bedingungen in Lagern an den EU-Außengrenzen gezielt geschaffen, die verhindern sollen, dass eine humane Aufnahme als Pull-Faktor wirken könnte.

Die Beobachtung der Ankünfte zeigt aber: Es funktioniert nicht. Menschen migrieren weiter nach Europa und Migrationsbewegungen lassen sich nicht steuern wie ein Wasserhahn, der auf- und zugedreht wird. Die Push-Pull-Theorie wird hier zur Legitimierung von Vernachlässigung und Gewalt gegen Schutzsuchende herangezogen.

„Die Kriminalisierung der Seenotrettung und zeitweise Verhinderung von Rettungen … heißt in der Realität auch nicht, dass sich weniger Menschen auf den gefährlichen Seeweg über das Mittelmeer begeben.“

Die Kriminalisierung der Seenotrettung und zeitweise Verhinderung von Rettungen durch zivile Seenotrettungsorganisationen mit dem Vorwurf, sie wirke als Pull-Faktor heißt in der Realität auch nicht, dass sich weniger Menschen auf den gefährlichen Seeweg über das Mittelmeer begeben. Tatsächlich bedeutet die Verhinderung von Rettung vor allem mehr Tote.

Es stellt sich also die Frage, wie mit dem Vorwurf, Seenotrettung wirke als Pull-Faktor, umzugehen ist. Soll man versuchen, ihn zu widerlegen, wie es bereits eine Reihe von wissenschaftlichen Forschungen getan haben, oder ihn ignorieren, da die Basis des Vorwurfs im besten Fall überholt ist?

Meiner Meinung nach sollte sich ein reflektierter und fundierter Medien- und Wissenschaftsdiskurs nicht auf die Argumentationsebene der Push- und Pull-Faktoren einlassen. Migrierende und Flüchtende sind Menschen – keine durch externe Faktoren ferngesteuerten Roboter, keine Wellen oder Flut oder sonstige Naturgewalten-Metapher. Ihre Entscheidungen und Migrationsbiografien sind komplex, passieren in einem komplexen Umfeld, und lassen sich nicht durch ein simples ‚ja oder nein‘ zur Frage der Pull-Faktoren beschränken. Daher sollten wir uns nicht mit so simplen Erklärungsmustern wie den Push- und Pull-Faktoren zufriedengeben und stattdessen zeigen, wie die Theorie zur Legitimierung von Gewalt, Leiden- und Sterben-Lassen missbraucht wird. Meinung

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