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Vortrag (Symbolfoto) © de.depositphotos.com

Holocaust-Überlebender

„Geh nach Hause. Dein Vater ist Jude.“

Erst verfolgt, später gefeiert: Ivar Buterfas-Frankenthal (89) entging als Kind der Deportation in ein Konzentrationslager. Sein Engagement für die Demokratie wurde später mehrfach ausgezeichnet. Doch auch nach dem Krieg wurde er lange ausgegrenzt.

Von Dienstag, 19.07.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.07.2022, 13:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Aus dem Stapel auf dem Wohnzimmertisch zieht Ivar Buterfas-Frankenthal ein Buch, das Hamburger Schüler nach einem Vortrag für ihn gestaltet haben. Er blättert zu einem Bild, das ein Schüler gemalt hat. Zu sehen ist eine Gruppe von Kindern. „Der in der Mitte, das bin ich, umringt von Jungs in HJ-Uniform. Sehen Sie die Verzweiflung in meinem Gesicht?“, fragt der 89-Jährige, der als Kind den Holocaust nur knapp überlebte.

Buterfas-Frankenthal hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, von seiner Kindheit im Nationalsozialismus zu erzählen. Immer an seiner Seite ist seine Frau Dagmar Buterfas-Frankenthal. „Meine Frau und ich, wir sind beide Holocaust-Überlebende. Sie können mich todkrank nachts um zwölf aus dem Bett holen. Wenn es um dieses Thema geht, bin ich da.“

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„Geh nach Hause. Dein Vater ist Jude.“

Buterfas-Frankenthal blickt wieder auf das Bild des Schülers und erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 1938. Sechs Wochen nach seiner Einschulung habe der Schulleiter ihn beim morgendlichen Fahnenappell angeherrscht: „Buterfas! Tritt einmal hervor. Du darfst nicht mit auf den Klassenausflug und gehst sofort nach Hause. Dein Vater ist Jude. Du hast hier nichts mehr zu suchen.“ Der fünfjährige Ivar verstand das nicht. „Meine Mutter hatte nie mit uns über Juden gesprochen. Das war für uns fast schon tabu. Wir wollten bloß nicht auffallen.“

Auf dem Nachhauseweg riefen ihm einige Mitschüler „Saujude“ hinterher. In einem Trittrost vor einer Bäckerei machten sie mit Papier- und Stofffetzen ein Feuer, erinnert er sich. „Sie wollten mich verbrennen. Ich schrie wie am Spieß, bis Passanten mich aus dieser fürchterlichen Situation befreiten.“ Doch die Erinnerung quält ihn noch heute. „Ich habe noch keine Nacht durchgeschlafen. Meistens wegen Alpträumen über die Schulzeit, die sind unauslöschlich.“

„Unsere Demokratie ist sehr fragil“

Eine Befreiung sei es jedes Mal, wenn er über die Ereignisse spreche. „Unsere Demokratie ist sehr fragil“, sagt er. „Die jungen Leute müssen wissen, was sich damals abgespielt hat.“ Mehr als 1.500-mal hat er in den letzten 30 Jahren in Schulen und Universitäten erzählt, wie seine Mutter ihren acht Kindern mehrmals das Leben rettete. Der Vater war seit 1933 in KZ-Haft. 1940 sollte die Familie deportiert werden. Ein Freund des Vaters, der bei der Gestapo arbeitete, warnte die Mutter rechtzeitig. „Nicht alle waren Mörder“, sagt Buterfas-Frankenthal.

Die Familie fand Unterschlupf auf einem Gutshof in Westpreußen und floh, als sie entdeckt zu werden drohte, zurück nach Hamburg, hinein in den Bombenhagel des Sommers 1943. Dort versteckte sie sich bis zum Einmarsch der Briten in Kellern zerstörter Häuser. „Wenn wir ein Brot hatten, hat unsere Mutter oft für uns auf ihren Teil verzichtet. Wir Kinder haben unserer Mutter ein Denkmal im Herzen gesetzt“, erzählt Buterfas-Frankenthal.

Ausgrenzung nach dem Krieg

Nach dem Krieg ging die Ausgrenzung weiter. „Auf dem Schulhof wurde ich geschnitten. Ich musste mir anhören, dass das mit der Judenverfolgung doch gar nicht so schlimm gewesen sei.“ Ein Hamburger Beamter, der dem Jungen 1942 die Staatsangehörigkeit aberkannt hatte, blieb auf seinem Sessel und zögerte die Wiedereinbürgerung bis 1964 hinaus, berichtet Buterfas-Frankenthal. Er zieht ein vergilbtes Dokument aus dem Stapel. „Das hier ist mein Fremdenpass. Alle viertel Jahr musste ich mir bei der Polizei die Aufenthaltserlaubnis einstempeln lassen.“

Obwohl er und seine Frau als Staatenlose keine Lehrstelle bekamen, arbeiteten sich die beiden hoch und gründeten ein Bauunternehmen. Parallel betätigte sich Buterfas-Frankenthal als Boxsport-Promoter. Noch bekannter wurde er seit Ende der 1980er als Shoah-Überlebender, der öffentlich für Frieden und Demokratie eintrat. „Ich habe mehr als 35 Auszeichnungen bekommen“, sagt er stolz und tippt auf das rote Emaille-Kreuz an seinem Revers, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, das ihm 2020 für sein Engagement als Zeitzeuge des Holocaust verliehen wurde.

„Ich bin Deutscher. Ich liebe dieses Land.“

Diese Arbeit brachte ihm jedoch auch Morddrohungen ein. Er zeigt auf das Fenster zur Terrasse. „Panzerglas.“ Als er sich für die Einrichtung einer Gedenkstätte an das frühere NS-Lager im niedersächsischen Sandbostel einsetzte, wurde er am Telefon als „Judensau“ beschimpft, erzählt er. „Ein Anrufer erklärte, dass die Kiste für mich schon fertig sei, in der ich vergast werden soll.“

Oft werde er von Schülern gefragt, warum er nach dem Krieg nicht ausgewandert sei. „Ich bin hier geboren“, antwortet er dann. „Ich bin Deutscher. Ich liebe dieses Land.“ Er freue sich darüber, was aus Deutschland geworden sei. „Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.“ (epd/mig) Aktuell Panorama

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