Natalie Drewitz, Migazin, Integration, Migration, Sprache, Bildung, Erziehung
Natalie Drewitz © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Allen Kriegen zum Trotz

Feiern für ein transkulturelles Miteinander

Es gibt viele Anlässe zum Feiern. In Zeiten des Krieges stellt sich aber die Frage, ob man feiern soll - sogar darf. Oder sollte man gerade deswegen feiern?

Von Mittwoch, 08.06.2022, 16:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.06.2022, 13:56 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Menschen aus Syrien, diversen afrikanischen Ländern, aus Afghanistan, aus der Ukraine und aus vielen anderen Ländern eint ein Schicksal: die Flüchtlingsbewegung nach Mittel- und Westeuropa. Die Bundesrepublik Deutschland stand und steht weiterhin vor der herausfordernden Aufgabe, Geflüchteten Zuflucht zu geben und Perspektiven aufzuzeigen, sie mit Toleranz und Unterstützung für eine aktive Teilhabe in der Gesellschaft zu integrieren. Doch wie gelingt das? Bevor wir dieser Frage nachgehen, möchte ich einen grundlegenden Gedanken in Worte fassen:

Eigenes Seelenheil

Mit Resignation, Verzicht und Vorwürfen für die eigene Person werden wir nicht weiterkommen. Die Sommersaison steht unmittelbar bevor und mit ihr die wohl beliebteste Zeit, Urlaub, Auszeit und Partys zu zelebrieren. Die Eventplanerin Amelie Borges wurde vom RND interviewt und beschreibt die aktuelle Gefühlslage und Zerrissenheit in Bezug auf ausgelassener Freizeit folgendermaßen: „[…] Viele sprechen auch den Krieg in der Ukraine an. Da ist dann auch manchmal die Rede davon, ein schlechtes Gewissen zu haben“ An vielen (medialen) Stellen wird gedankengleich die Frage thematisiert: „Dürfen wir es uns überhaupt gutgehen lassen in Anbetracht der ukrainischen Lage?“ – Ja! Es geht für das eigene Seelenheil zu weit, wenn man sich Vorwürfe macht ob der aktuellen eigenen (Urlaubs-)Lage gespiegelt an dem Kriegsleid in der Ukraine. Man benötigt die eigene Auszeit, einen Tapetenwechsel, um den Kopf freizukriegen. Demzufolge ist das aktive Seelenmedizin. Indem man sich jedoch in seiner sicheren Lage Vorwürfe macht, dass es einem selbst so gut geht, verwehrt man seiner Seele die wichtige und vielleicht sogar äußerst unterschätzte Hängematte, die Auszeit, die mentale Sendepause.

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Erinnerung an die 1990er Jahre

Ich habe diesbezüglich einen Flashback in meine Grundschulzeit, als der Krieg in Jugoslawien wütete. Man hatte beschlossen, dass in diesem bestimmten Jahr die Faschingsfeierlichkeiten als Zeichen der Anteilnahme für die Kriegsopfer in Jugoslawien ausfielen. Was bedeutete dies für uns Kinder? Das war die mit Abstand größte Enttäuschung für alle – egal welcher Herkunft –, die hätte eintreffen können. Meine Grundschule war eine einfache, staatliche Schule in Berlin-Neukölln. Viele andere Kinder hatten einen Migrationshintergrund in meiner Klasse, viele von ihnen waren nicht in Deutschland geboren. Fasching also war DAS Fest, das nichts mit Religion zu tun hatte, es war DAS Fest, das uns Kinder einte, denn alle hatten Spaß am Verkleiden und Feiern. Es war einfach DAS Fest! Und es wurde jedes Jahr wirklich sehr schön in der Grundschule gefeiert. An diesem Tag hatten wir keinen Unterricht, jedoch Präsenzpflicht, aber das musste uns keiner zweimal sagen. Es gab leckeres Essen aus aller Herrenländer – also Mitgebrachtes von jedem Kind –, Musik, Spiele, Fotos, Begutachtungen eines jeden Kostüms. Selbst die Lehrkräfte waren verkleidet und hatten ihren Spaß. Alle Kulturen kamen zusammen und es gab Falafel von Ahmed und danach Zitronenkuchen von Daniela oder andersherum – wieso nicht? Wir fieberten alle jedes Jahr auf diesen einen Tag im Februar hin. Nun, also in diesem besagten Jahr nichts davon, Fasching sollte tatsächlich ausfallen …

Kindermund tut Wahrheit kund

Meine beste Schulfreundin zu der Zeit war Jugoslawin und was sie mir sagte, fand ich damals schon weise und es hatte mich nachdenklich gemacht: „Weißt du, Natalie, meine Familie und ich sind hier und in Sicherheit. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. Unseren Landsleuten in Jugoslawien geht es zurzeit sehr schlecht und das macht uns alle sehr traurig. Aber, weißt du, wir können den Krieg nicht stoppen, indem wir hier auf ein friedliches Fest verzichten, und weißt du, was das Schlimmste an dieser Idee ist? Ich wurde dadurch überhaupt erst wieder an alles Schlimme erinnert und es ist wieder so präsent in unserer Familie. Ich habe mit anderen gesprochen, die fühlen genauso. Sie sind trauriger als vorher. Mit einem Fest hier vor Ort würde man vieles, sehr vieles für die Menschen und ihre Lebensfreude tun, die hier sind, greifbar. Jetzt sind wir einfach alle überall traurig und denken nur an den Krieg.“

Allen Kriegen zum Trotz

Als kleine Untermauerung sei hier an der Stelle gesagt, dass zwar für das besagte Jahr die harte Kante tatsächlich durchgezogen wurde und es damals keinen Fasching, dafür allerdings sehr viel Krieg, Leid und Zerstörung in den Herzen und Gedanken aller Grundschulkinder gab, diese Idee aber in allen darauffolgenden Jahren trotz Anhalten des Jugoslawienkrieges nicht mehr verfolgt wurde, sodass seitdem vor Ort wieder an kleiner, konzentrierter (sicherer) Stelle gefeiert wurde, allen Kriegen zum Trotz!

Positivität

Eine resignierende Haltung gespickt mit Vorwürfen hat mich so sehr an diese Episode aus der Grundschulzeit erinnert. Wir sollten nicht zulassen, dass diese Richtung eingeschlagen wird, denn sie ist tatsächlich sinnlos. Wenn es einem (mental) gut geht, ist man überhaupt erst in der Lage, anderen zu helfen. Freude und Wohlsein sind die größte Quelle für Kreativität, Positivität und Aktionismus – die Umkehrung ist eine negative Gedankenschleife, die einen herunterziehen kann und sonst nichts bewirkt außer Trübsal. Hey, womöglich fällt dem einen oder der anderen eine Option ein, wie man Geflüchteten helfen kann, gerade während er oder sie es sich gutgehen lässt, um (mentale) Kraft zu schöpfen. Im professionellen Umfeld kann die „kultur-identische Bürgschaft“ durch eine begleitete, gestützte Integration ins Aufnahmeland für den Einstieg in die berufliche Laufbahn eine Hilfestellung sein.

Aktualität

Von Natalie DrewitzDie kultur-identische Bürgschaft – interkulturelle Kompetenz für ein transkulturelles Miteinander: Resultate einer empirischen Akkulturationsbeobachtung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ erschienen im RAM-Verlag, Taschenbuch: 300 Seiten, ISBN-10: 3942303906.

Der Krieg in der Ukraine und die daraus folgende Destabilisierung der Region führt(e) zu weiteren Migrationsbewegungen. Auch andere Teile der Welt sind nach wie vor von Hunger und Konflikten betroffen, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen und woanders neu anzufangen – der bevorstehende Klimawandel wird ebenfalls seinen Beitrag dazu leisten. Insgesamt wird die Welt weiterhin zusammenwachsen und Bevölkerungsgruppen werden aus diversen Gründen zu Migrationsbewegungen gezwungen sein.

Aktion

Interkulturelle Kompetenz ist ausschlaggebend, um diese gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse in positive Bahnen zu lenken. Es bedarf einer Minimierung von Fehlern und Hemmschwellen im Umgang mit anderen Kulturen, eines Hinübergleitens von einer der „ethnozentrischen“ in die „ethnorelativen Phasen“ (Bennett, 2014), um ein transkulturelles Miteinander zu etablieren – und dies ist gar nicht so schwierig, wie man vielleicht annehmen würde … Welche Umgebung eignet sich besser, als ein Fest oder der ausländische Urlaubsort, um mit anderen Menschen unterschiedlicher Kulturen in Kontakt zu kommen? Dabei ist sowohl die Tatsache interessant, dass kulturelle Unterschiede auffallen mögen, als auch die Überraschung wundersam aufschlussreich, dass man sich ähnlicher ist als zuvor angenommen. Worauf warten wir also? Lassen Sie uns miteinander feiern, für ein transkulturelles Miteinander! Meinung

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  1. Rainer sagt:

    “ Die Bundesrepublik Deutschland stand und steht weiterhin vor der herausfordernden Aufgabe, Geflüchteten Zuflucht zu geben und Perspektiven aufzuzeigen, sie mit Toleranz und Unterstützung für eine aktive Teilhabe in der Gesellschaft zu integrieren “

    Nö…müssen wir nicht.