Europakanal in Muttersprache
Kultursender Arte ist vor 30 Jahren auf Sendung gegangen
Er war ein Kind des politischen Willens, für manche zum Scheitern verurteilt: Doch der deutsch-französische Sender Arte hat sich in 30 Jahren eine feste Nische erkämpft. Und ist experimentierfreudiger denn je.
Von Marc Patzwald Sonntag, 29.05.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.05.2022, 8:18 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Zwei Brüder sehen sich nach langer Zeit wieder. Der eine lebt in Australien, der andere im französischen Heimatdorf und hat sich bis zuletzt um die mittlerweile verstorbene Mutter gekümmert. Welten und Lebensentwürfe prallen aufeinander, ab und zu taucht auch mal eine Kamera im Bild auf. Denn dies ist eine Live-Inszenierung des deutsch-französischen Senders Arte. „Jour de Gloire“ zeigt dann um kurz vor 20 Uhr, wie die Familie über die Jahre hinweg immer wieder die Präsidentschaftswahlen im Fernsehen gesehen oder Radio verfolgt hat, um mit dem französischen Wahlergebnis vom 24. April in Echtzeit und einem Blick über die Couch in die Kamera zu enden.
Dieser Prototyp einer live inszenierten Fiktion hat laut Arte-Präsident Bruno Patino ein großes Echo generiert: Es gehe darum, Neues zu entwickeln und neugierig zu bleiben, sagt er. Vor 30 Jahren, am 30. Mai 1992, ging der deutsch-französische Kulturkanal auf Sendung. Mittlerweile ist Arte nach Worten von Patino gleichzeitig „ein linearer Fernsehsender, eine nicht-lineare Mediathek, aber auch ein Sender in den sozialen Medien“.
Sender von der Politik aufgedrückt
Denn auch beim Videospiel-Streaming-Dienst Twitch ist Arte aktiv und auf dem Kurznachrichtendienst Twitter für humorvolle Beiträge bekannt. „J’suisms 1 deutsch-französischer Semder vong Mehrsprachigkeit her“, schrieb das Social-Media-Team zum Jugendwort von 2017 „I bims“. Selbstironie gehört zum Auftritt in den sozialen Medien dazu. Die Erhöhung der Zeichen für einen Tweet auf 280 kommentierte Arte damit, dass dies so sei, als würde der Sender nicht nur „drei, sondern sechs Stunden bulgarisches Tanztheater mit gelben Untertiteln senden“.
Dabei war der Start vor 30 Jahren gar nicht so einfach. Die Idee stammt vom früheren französischen Präsidenten François Mitterrand und dem einstigen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). Der Gründungsvertrag von Arte sieht vor, Fernsehsendungen zu gestalten, die „geeignet sind, das Verständnis und die Annäherung der Völker in Europa zu fördern“. ARD und ZDF haben laut Martin Villinger vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg Arte anfangs als einen Sender gesehen, der ihnen von der Politik aufgedrückt worden sei und bei dem sie schon bereits fertige Produktionen noch einmal wiederholen könnten.
„Linkslastige elitäre Kulturproduktion“
In Frankreich hätten die öffentlich-rechtlichen Sender Sorge vor weniger finanziellen Mitteln gehabt, konservative Politiker hätten den Sender „als linkslastige elitäre Kulturproduktion“ angesehen. Diese Stimmung habe sich aber langsam gedreht. Mittlerweile sei Arte in die Populärkultur vorgedrungen, betont Villinger. „Früher war es nur ein Fernsehsender, heute ist es ein Riesen-Webangebot mit Konzerten und Theateraufführungen.“
Für die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Hélène Miard-Delacroix ist Arte „ein Beweis, dass man etwas gestalten kann, wenn man eine Vision, eine Ambition und Willenskraft hat“. Der Start des Senders habe eine große Bedeutung, weil mit ihm eine Zusammenarbeit in der Kultur und nicht etwa im Militär oder der Wirtschaft umgesetzt worden sei. „Die deutsch-französische Kooperation ist hier eine Keimzelle für einen europäischen Kultursender“, sagt die Professorin der Universität Sorbonne (Paris IV). „Bei Arte wird Kultur ernst genommen, aber mit Schwung, mit Humor und Frechheit – ganz unkompliziert.“
Arte, wie eine Fundgrube
„Für mich ist Arte wie eine Fundgrube oder ein Schatzkästchen, weil der Sender immer wieder für Überraschungen sorgt“, sagt Miard-Delacroix. „Man findet Wissen, Sachen zum Nachdenken oder Genießen, lernt dazu und fühlt sich häufig klug.“ Dazu tragen die vielen Ausspielkanäle bei.
Der Marktanteil im Fernsehen lag 2021 bei 1,3 Prozent in Deutschland und 2,9 Prozent in Frankreich. Für seine digitalen Angebote auf arte.tv und Drittplattformen wie Youtube, Facebook oder Instagram zählt der Sender mehr als 1,8 Milliarden Videoaufrufe.
„Wir arbeiten an einer europäischen Öffentlichkeit“
Der deutsche Arte-Vizepräsident Peter Weber betont, dass mittlerweile TV-Zuschauer und Streamer in gleicher Weise bedient werden müssten. Das passt auch zur europäischen Idee, für die sich Arte einsetzt: „Wir arbeiten an einer europäischen Öffentlichkeit für unsere Inhalte, die es vielleicht so noch gar nicht gibt.“
Arte kooperiert für Sendungen und andere Produktionen bereits mit neun öffentlich-rechtlichen Sendern in Europa und strebt weitere Zusammenarbeit an. Diese Rolle als Netzwerksender solle ausgebaut werden.
Inhalte in Muttersprache für 70 Prozent der Europäer
Zudem bildeten Angebote in den jeweiligen Muttersprachen der Europäer eine der strategischen Achsen für die zukünftige Entwicklung, sagt Patino. Online könnten Untertitel auf Polnisch, Spanisch, Englisch und Italienisch abgerufen werden, sodass rund 70 Prozent der Menschen in Europa Inhalte in ihrer Muttersprache anschauen könnten. Seit kurzem bietet Arte auch eine Auswahl an Sendungen in ukrainischer und russischer Sprache.
Für den Herbst kündigt der französische Arte-Präsident ein wöchentliches Nachrichtenangebot auf Englisch und Spanisch an. Arte sei von Geburt an deutsch-französisch, aber mit einer tief verankerten Vision von Europa, erklärt Patino. Und Miard-Delacroix sagt: „Das Ziel für Europa ist ein besseres Verständnis füreinander.“ Ihr Wunsch gehe allerdings darüber hinaus: „Es sollte selbstverständlich werden, gemeinsam zu produzieren, zu genießen, zu denken.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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