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Vollmundige Versprechen

Facebooks fragwürdige Rolle im Migrantendrama an Polens Grenze

Meta-Facebook schürte bei Verzweifelten Hoffnung, Schlepper nutzten die Plattform für unseriöse Reise-Angebote. Die Leidtragenden sind die Geflüchteten, die mit Fake-News auf Facebook angelockt wurden und jetzt in einer verzweifelten Lage sind.

Von Christa Dettwiler/infosperber Dienstag, 30.11.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.11.2021, 11:32 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„Seit Juli sind Angebote auf Facebook in kurdischer und arabischer Sprache regelrecht in die Höhe geschnellt“, erklärt Monika Richter der „New York Times“. Sie ist Chefin der Analyse-Firma Semantic Vision, welche die Aktivitäten auf Social Media überprüft. „Es gibt keine Hinweise darauf, dass Lukaschenko die Kampagne, die Migranten anlockt, mit den Fake News koordiniert“, schreibt die „New York Times“. Vielmehr hätten Schlepper und Geschäftemacher die Notlage namentlich von ethnischen Kurden im Irak und von Jesiden in Syrien schamlos ausgenützt. Weißrussland hatte Anfang 2021 die Einreise vor allem von Irakerinnen und Irakern erleichtert, um den Tourismus anzukurbeln. Sie sollten die ausbleibenden Touristen aus dem Westen ersetzen.

Migrantinnen, die zu Tausenden auf die Fake News in den sozialen Medien hereinfielen und Weißrussland lediglich als Durchgangsland benutzen wollten, berichten allerdings übereinstimmend, dass belarussische Soldaten versucht hätten, sie über die bewachte und geschützte Grenze nach Polen und Litauen zu bringen.

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Wie die perfide Masche funktioniert, zeigt das Beispiel des 35-jährigen Kurden Mohammad Faraj aus dem Irak. Nach einem vergeblichen Versuch, über die polnische Grenze zu kommen, fand er eine Unterkunft in einem Hotel in Minsk. Als ein Video auf Facebook ankündigte, Polen öffne die Grenze, man solle sich bei einer Tankstelle nahe dem Flüchtlingscamp zwischen den Grenzen versammeln, reiste Faraj die 300 Kilometer zurück. Doch die Grenze blieb zu. „Fake news auf Facebook haben uns reingelegt und unser Leben zerstört“, klagt Mohammad Faraj nach zehn Tagen im Camp, das er als „etwas aus einem Horrorfilm“ erlebte.

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10.000 Dollar für Europa

Beobachter berichten, dass Schlepper Telefonnummern austauschen und auf Facebook Werbung machen, ergänzt mit Testimonials von Leuten, die es angeblich über Weißrussland und Polen nach Deutschland geschafft haben. In einem Post bot ein Schmuggler „Tagestrips von Minsk nach Deutschland mit nur 20 Kilometer Fußmarsch“ an. Ein weiterer merkte zu seinem Angebot einer acht- bis 15-stündigen Reise nach Deutschland an: „Melden Sie sich nicht, wenn Sie Angst haben.“

Regelmäßig versetzten neue Posts die Flüchtlinge in Aufregung, trotz schlechter Erfahrungen. Rekar Hamid, ein Mathematiklehrer aus dem irakischen Kurdistan, bezahlte einem Agenten im Irak 10.000 Dollar für die Reise nach Europa. Mit Frau und Kind sitzt er jetzt in einem Lagerhaus fest. „Sie behaupten regelmäßig, dass sich die Tür öffnen werde, aber sehen Sie, wo wir jetzt sind“, sagte er der „New York Times“ und deutete auf die zahllosen Menschen auf dem nackten Betonboden.

Schlepper in sozialen Medien

Die Flut von Migrantinnen nach Weißrussland, in der Hoffnung auf eine Einreise in die EU, begann, als das Land vor allem für Irakerinnen die Visabestimmungen lockerte – vordergründig, um den Tourismus anzukurbeln, der nach dem brutalen Vorgehen der Behörden im Anschluss an die umstrittene Präsidentschaftswahl von Lukaschenko und nach den darauffolgenden westlichen Sanktionen eingebrochen war. Mit der Aussicht auf gute Geschäfte begannen Reiseunternehmen in der irakischen Kurdenregion auf Facebook und anderen Plattformen Visa für Weißrussland anzubieten. Schlepper setzten auf die sozialen Medien, um das Land als einfache Route nach Europa anzupreisen.

Eine private Gruppe namens „Migration der Mächtigen von Weißrussland nach Europa“ verzeichnete einen Mitgliederanstieg von 13.600 im September auf aktuell rund 30’000. Die Gruppe „Weißrussland Online“ wuchs im gleichen Zeitraum von 7.700 auf 23.700.

Vollmundige Versprechen

„Es ist verboten, Menschen über internationale Grenzen zu schmuggeln. Und Werbung, Posts oder Gruppen, die solche Aktivität anbieten oder koordinieren, sind auf Facebook verboten“, zitiert die „New York Times“ aus einer E-Mail von Meta-Facebook. „Wir löschen solche Inhalte, sobald wir sie entdecken.“ Die aktuelle Situation in Belarus zeigt ein anderes Bild. Das US-Unternehmen hält sein vollmundiges Versprechen nicht ein, vor allem wenn es sich um nicht englischsprachige Mitteilungen handelt.

„Facebook nimmt seine Verantwortung nicht wahr. Die direkte Folge davon sind die verzweifelten Menschen in der Kälte, im Schlamm, in den Wäldern von Weißrussland. Sie sind wegen den Falschinformationen auf Facebook in einer verzweifelten Lage“, rügt der Holländer Jeroen Lenaers, Mitglied des Europaparlaments und Leiter des Komitees, das sich mit Migration befasst.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im infosperber.ch. Leitartikel Panorama

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