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Kasseler Flüchtlingsunterkunft

Märchen aus den Amtsstuben

Wer das Video sieht, traut seinen Augen nicht: Ein Sanitäter rammt im Beisein von Polizisten seine Faust ins Gesicht eines fixierten Asylbewerbers - augenscheinlich, sagt die Staatsanwaltschaft. Ermittlungen eingestellt.

Von Samstag, 20.11.2021, 16:13 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 21.11.2021, 13:19 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Es gab schon unzählige Ermittlungen gegen Polizeibeamte, die mit zweifelhaften Begründungen eingestellt wurden – trotz drängender Fragen und offensichtlichen Ungereimtheiten. Bis zu 2.000 Anzeigen werden jedes Jahr in Deutschland gegen Polizisten erstattet, nur in zwei bis drei Prozent dieser Fälle kommt es überhaupt zu einer Anklage.

Diese Quote überrascht nicht, weil Kollegen gegen Kollegen, Polizisten gegen Polizisten ermitteln. Dem Korpsgeist verpflichtet, haut man sich gegenseitig nicht in die Pfanne. Heute du, morgen ich; wie du mir, so ich dir. Das Nachsehen haben in allen diesen Fällen die Opfer. Sie verlieren oft viel mehr als nur einen Rechtsstreit, falls es überhaupt zu einer Anklage kommt, sie verlieren ihren Glauben an den „Freund und Helfer“ und in die Justiz.

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In Fällen dieser Art, bleibt der Öffentlichkeit oft gar nichts anderes übrig, als den offiziellen Stellen zu glauben. Mangels Zeugen oder Bildmaterial ist es kaum möglich, das Gegenteil zu beweisen. Das höchste aller Gefühle ist oft Aussage gegen Aussage – zugunsten der Polizei. Die Staatsgewalt ist ohnehin näher dran am Fall, sie vernimmt, verhört, wertet aus, ohne dass jemand ihnen dabei auf die Finger gucken kann. Und weil das so ist, machen sie die Welt, widdewidde, wie es ihnen gefällt.

Nur ganz selten kann sich die Öffentlichkeit selbst eine Meinung bilden, wenn beispielsweise Bilder den Tathergang dokumentieren, zeigen, was passiert ist. So im Fall aus der Kasseler Flüchtlingsunterkunft. Videoaufnahmen zeigen, wie ein Sanitäter im Beisein von zwei Polizisten seine Faust mit voller Wucht in Richtung Gesicht eines fixierten Asylbewerbers rammt. Laut Staatsanwaltschaft habe der Sanitäter den syrischen Asylbewerber aber gar nicht ins Gesicht geschlagen, sondern ihn gar nicht berührt. Vielmehr habe er seine Faust in die Kopfstütze der Liege gerammt. Das hätten Auswertungen der Videoaufnahme ergeben. Der Jochbeinbruch des Syrers? Diese Verletzung stamme nicht von diesem Schlag. Folge: Kein begründeter Tatverdacht, Ermittlungen eingestellt, Akte geschlossen.

Natürlich sind Ermittler auch in diesem Fall näher am Fall. Vermutlich haben sie die Videoaufnahme in besserer Qualität vorliegen und haben sie Bild für Bild ausgewertet. Und natürlich können sie uns etwas ganz anderes erzählen, als die Videoaufnahmen zeigen. Sie können es, weil sie damit durchkommen, weil es keine Konsequenzen gibt, weil es in Deutschland keine von der Polizei unabhängigen Ermittler gibt. Die Polizei ermittelt – widdewidde – gegen sich selbst.

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Allerdings – und das ist ein ganz entscheidender Punkt – hinterlässt jede offizielle Geschichte Fragen. Fragen, die Zweifel an die Arbeit der Sicherheitsbehörden nähren; Fragen, die am Vertrauen nagen; Fragen, die offizielle Ermittlungsergebnisse anderer Fälle ins Gedächtnis rufen: Hat sich Oury Jalloh in der Dessauer Polizeizelle selbst angezündet oder wurde er von Polizisten bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen und anschließend ermordet? Ähnlich der Brand-Tod des Syrers Amad A. in der Gefängniszelle, der vollkommen zu Unrecht saß – weil an Dienstcomputern Daten manipuliert wurden? Und natürlich die unendlich vielen Fragen aus dem NSU-Komplex, das stellenweise der Amtshilfe näherliegt als dem Versagen. Fragen, die sich stellen, nicht weil etwa Sicherheitsbehörden ermittelt oder Politiker ihre Aufklärungsversprechen einzulösen versucht hätten, sondern weil Journalisten recherchiert haben.

Oder wir stellen gleich die vielleicht zwei entscheidenden – wenn auch rhetorischen – Fragen: Wie viel Rassismus steckt in den Sicherheitsbehörden, im Verwaltungs- und Staatsapparat, in der Justiz, in den Parlamenten – parteiübergreifend!? Und was tut Deutschland dagegen?

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Wie Polizei und Staatsanwaltschaft gegen Polizisten ermitteln. © MiGAZIN

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