Irak, Mesopotamien, Berge, Anatolien, Dürre
Mesopotamien © Martijn.Munneke @ flickr.com (CC 2.0)

Songbook Anatoliens

Zum UNESCO-Jahr Yunus Emre

Das Jahr 2021 hat UNESCO Yunus Emre gewidmet, ein Derwisch und Poet, dessen Mystik sich im religiösen Kontext des Islam auf anatolischem Boden entwickelte. Hierzulande ist er kaum bekannt - weil auch Vorurteile im Spiel sind.

Von Freitag, 19.11.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 18.11.2021, 16:44 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Wer wird sich noch am Ende des Jahres 2021 daran erinnern, dass die UNESCO es dem anatolischen Derwisch, Mystiker und Poeten Yunus Emre (1250- 1320/21) anlässlich der 700. Wiederkehr seines Todes gewidmet hat? Schuld an der fehlenden Beachtung sind nicht nur die Covid bedingten Einschränkungen. Nein, es fehlt auch an tieferem Wissen um die Bedeutung seines Werkes, an guten Übersetzungen, an der Bereitschaft zur Beschäftigung mit seinen Gedanken. Auch sind Vorurteile im Spiel gegenüber einer Mystik, die sich im religiösen Kontext des Islam auf anatolischem Boden entwickelte. Dies gilt für die Türkei, aber noch viel mehr für Deutschland.

Dabei ist er doch so präsent: als Namensgeber der weltweit aktiven über 43 Yunus-Emre-Kulturinstitute, die 2007 von der türkischen Regierung eingerichtet wurden. Ähnlich in ihren Aufgaben wie die deutschen Gothe-Institute, machen sie bekannt mit türkischer Geschichte und Kultur, geben Sprachkurse. Viele Schulen und Moscheen in der Türkei tragen den Namen Yunus Emre. In der türkischen Alltagssprache sind seine Verse als geflügelte Worte lebendig. Eine 44-teilige TV-Serie des türkischen Fernsehens mit hohen Einschaltquoten machte vor Jahren mit seinem Leben bekannt. Und schließlich, die Älteren werden sich erinnern: 1990 erklärte die UNESCO das Jahr zum Yunus-Emre-Jahr, zum Jahr des Friedens und der Liebe.

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„Was ist‘s für eine arge Zeit?“

Anatolien im 13. Jahrhundert

Wer nach dem Leben und Wirken des Yunus Emre fragt, wird viele, sich widersprechende Antworten erhalten. Als Anhaltspunkte gelten: er lebte im Anatolien des ausgehenden 13. Jahrhunderts. Nicht unähnlich unserer Zeit, wie Elif Şafak in Araf zutreffend beschreibt: „Kulturen prallen aufeinander, Vorurteile und Ignoranz, überall Unsicherheit, Ungewissheit, Zweifel und Gewalt. Eine aufgewühlte Zeit“. Und ein Vers von Yunus Emre klagt: „Muslime, ach Muslime! Was ist‘s für eine arge Zeit! Um ihren Sohn weint Mutter, um Brüder klagt der Sohn, und Mutter, Tochter jammern, in Gram und tiefem Leid.“

Die Vorfahren von Yunus Emre kamen nach Anatolien mit der großen Migrations- und Fluchtbewegung, die durch die kriegerische Expansion der Mongolen ausgelöst wurde. Sie verließen zusammen mit tausenden Flüchtlingen das damals kulturell-geistige Zentrum Horasan. Eine Region, die heute die Grenzgebiete zwischen Turkmenistan, dem Norden Afghanistans und des nord-östlichen Iran umfasst. Ein Landstrich, der nach dem Sieg der Taliban wieder im Zentrum des medialen Interesses steht.

Es war ein Jahrhundert des Zerfalls: das 1000-jährige byzantinische Reich war am Ende, Kreuzzügler durchquerten das anatolische Land und mit dem Einfall der Mongolen löste sich die Seldschukenherrschaft auf. An ihre Stelle trat eine Vielzahl von Kleinstaaten (Anadolu Beylikler), in denen Sprachen, Kulturen, Religionen nebeneinander existierten.

Menschen suchten nach geistiger Orientierung, Wander-Derwische, im Türkischen „Horasan erenler“ genannt und ihre unzähligen Orden suchten nach Antworten. So fällt auch in diese Zeit die Gründung des klosterähnlichen Konvents (dergah) von Haci Bektas Veli, der ebenfalls aus Horasan, aus Nishapur im heutigen Iran stammte. Oder der Derwisch-Orden der Mevlevis in Konya, wo sich der Vater von Dschelaleddin Rumi nach seiner Flucht aus dem Norden Afghanistans niedergelassen hatte.

Es ist anzunehmen, dass der anatolische Humanismus und seine unzähligen mystischen Verzweigungen (tasavvuf) gerade in dieser heterogenen Vielfalt seinen einzigartigen Nährboden fand.

„Ich zieh durch Syrien und Byzanz…“

Lebensgeschichten

Wo sich die Familie des Yunus Emre niederließ und wie sein Leben verlief, ist umstritten. Im wissenschaftlichen Diskurs sucht man gewöhnlich in seinen Versen nach Antworten. Häufig wird Sarıköy, oder Yunus Emre Köyü, nicht weit von Eskişehir, genannt. Aber auch von Ünye am Schwarzen Meer ist die Rede. Hinsichtlich seiner Lebensweise sehen einige in Yunus Emre den mittellosen Derwisch (biçare Yunus, aşık Yunus), der durch Anatolien bis nach Damaskus zog.

Andere sind der Auffassung, er sei ein wohlhabender, gebildeter Mann gewesen, der das Persische, Arabische, Osmanisch-Türkische in Schrift und Wort beherrschte, seine Bildung an religiösen Hochschulen, den Medresen, oder im Umkreis der Tekkes erlangte.

Wie sein Leben begleiten auch unzählige Überlieferungen seinen Tod. So finden wir in der heutigen Türkei mindesten 15 Grabstellen mit seinem Namen. Sogar in Ganya in Aserbaidschan ist eine Grabstelle nach ihm benannt. Menschen pilgern mit ihren Wünschen und Bitten hierher, mit Opferschlachtungen und Gebeten wird an ihn gedacht.

„Erleuchtung oder Weizen?“

Yunus auf dem Weg zum Derwisch

Wie über viele andere Derwische, Sufis in dieser Zeit, fehlen auch über den Lebensweg von Yunus Emre gesicherte Quellen. Man muss sich begnügen mit tradierten Erzählungen, mit Beschreibungen aus einer Überlieferungs-Literatur (menkibe edebiyatı), die mit ihrer ausschmückenden Metaphorik eine für Anatolien typische Text-Gattung bilden.

Einige seiner Liedverse und Erzählungen deuten darauf hin, dass er Mevlana in der Stadt Konya besucht haben muss. Eine andere, beliebte Geschichte, lesen wir im „Velayetname des Haci Bektaş“. Sie schildert uns Yunus als einen armen Bauersmann, der in große Not gerät. Als die Getreideernte die Familie nicht mehr ernähren konnte, beschloss er, sich zum nahen Dergah des großherzigen Hacı Bektaş aufzumachen. Ihn wollte er um Weizen bitten. Ein Tagesmarsch, vielleicht überquerte er den viel besungenen roten Fluss, den Kızıl Irmak. Als Geschenk belud er seinen Esel mit Weißdornfrüchten.

Als Yunus mit seiner Bitte vor das Oberhaupt, den Hünkar Haci Bektaş tritt, fragt ihn dieser: „Willst du Weizen oder Himmet, Ratschläge für deine Seele?“ Yunus dachte an Frau und Kinder – „wir haben Hunger“. So ließ er den Esel mit Getreide beladen und machte sich auf den Heimweg. Doch bald fiel ihm ein: den Weizen werden wir schnell verzehrt haben, doch das Himmet, die geistige Nahrung, würde mir bleiben. Er bereute seine Entscheidung und kehrte er um.

Doch Hacı Bektaş wies ihn ab und sagte: „Geh zum Kloster von Tapduk Emre, er hat den Schlüssel zu dir. Er soll dein Lehrer und Scheich sein“:

Und wie es die Überlieferung will, findet Yunus Emre seinen Scheich und Lehrer, den Mürşid, in dem Ordensoberhaupt Tapduk Emre. Hier wird er als Mürit, als Schüler in 40-jährigem Dienen seine Reife erlangen und zum Derwisch werden.

Und wie es in einem seiner viel zitierten Verse heißt: „Yunus miskin ciğ idik, piştik el hamdullulah – unfertig und roh waren wir, hier reiften wir heran, Gott sei‘s gedankt.

„Warum gehst du weinend, schmerzvoll durch die Welt?“

Sein Werk – das Buch der Ratschläge und der poetische Diwan

Die Verse des Yunus Emre beruhen auf Überlieferungen. So sind die uns heute bekannten Texte Transkriptionen arabisch-osmanischer Handschriften (nüsha), – nach Mustafa Tatçı, einem der renommiertesten Kenner, soll es davon über 100 geben, eine davon auch im Vatikan. Sie alle datieren ungefähr auf die Zeit 200 Jahre nach seinem Tode. Sicherlich sind darin auch viele anonyme Volksweisen und Weisheiten eingegangen, deren Herkunft und Urheber unbekannt bleiben.

Zu seinem Werk gehören das weniger bekannte Risalet -i Nüshiye/Öğüt Kitabi, in dem er mit rund 600 zweizeiligen Versen Ratschläge (öğut) für ein richtiges Leben erteilt, wie der Kampf mit der Triebseele (nefsi emmare) des Menschen zu gewinnen ist.

Bekannter ist der poetische Diwan (so werden im Orient Gedichtsammlungen genannt) mit seinen über 400 mehrstrophigen Gedichten, aus denen die heute gängigen Zitate und Weisheiten, auch die Illahiler, die religösen Gesänge stammen.

Die Sprache der Texte ist ein älteres Türkisch, das mit einigen Erläuterungen, der gebildete Muttersprachler lesen und verstehen kann.

Immer wieder sind Übersetzungen einzelner Gedichte ins Deutsche versucht worden. Unerreicht, wenn auch unvollständig, sind Übertragungen der verstorbenen Orientalistik Professorin Annemarie Schimmel (Trägerin des Friedenspreises des dt. Buchhandels 1995), in denen sie sowohl das Versmaß als auch den mystischen Gehalt der Gedichte trifft.

„Ein Ich ist in mir, tiefer als das Meine.“

Die mystische Reise: eine Poesie der Gottes Liebe

Diese Yunus Emre, dem Dichter und Mystiker (Sufi), zugeschriebenen Zeilen wollen sagen: im Menschen verbirgt sich hinter seinem, ihm bekannten Ich, ein größeres und tieferes Ich, das ihn prägt und führt. In unzähligen Variationen über das Sichtbare und Verborgene (zahiri – batini), das Innen und Außen, geht es ihm um das Menschsein, die Menschen- (aşuk –maşuk) und die Gottesliebe: „Wir lieben das Geschöpf des Schöpfers wegen“ (yaratılanı severim, yaradandan ötürü.

Nach Mustafa Tatçı, der mit großer Hingabe und Kenntnis den Yunus Emre Diwan aus religiöser Sicht interpretiert, spiegeln die Verse die mystische Reise des Menschen wieder, (seyr-i süluk) hin zur Vervollkommnung, ein Aufsteigen vom guten zum gereiften, vollkommenen Menschen (insan-i kamil). Daher bezeichnet er die Dichtung als in Worte gefasste Beschreibungen dieser inneren, mystischen Reise.

Und Annemarie Schimmel empfiehlt zum besseren Verständnis von Yunus Emre:

„Man versteht seine sehnsuchtsvollen Gedichte am besten, wenn man durch Anatolien reist und wandert und erlebt, wie die ganze Natur einen Hintergrund für diese Verse bildet. Immer wenn ich in früheren Jahren von Ankara aus nach dem Osten oder Nordosten fuhr, klangen mir Yunus Emres Verse im Herzen:

(A. Schimmel, Yunus Emre, ausgewählte Gedichte 1991)

„Komm, lass uns Freunde sein, uns lieben und geliebt werden…“

Bedeutung und Aktualität

In den Anfangsjahren der türkischen Republik komponierte Adnan Saygun sein „Yunus Emre – Oratorium“ (1940), ein großes symphonisches Werk, das ganz im Sinne von Atatürk die Synthese von anatolischen Traditionen mit der europäischen Musikkultur suchte. Erst jüngst vertonte der weltberühmte Pianist Fazıl Say Yunus Emre Lieder. Und noch heute ist unvergessen die Stimme des verstorbenen Sängers Ruhi Su, mit der er die Schlichtheit der Yunus Emre Verse zum Klingen brachte.

Wenn wir gefragt werden, warum Yunus Emre auch 700 Jahre nach seinem Tode ein moralischer Leitstern Anatoliens geblieben ist, so liegt die Antwort vielleicht darin: aus seinen Versen spricht ein universaler Humanismus, in dem die vier Bücher der monotheistischen Religionen als Bücher der Weisheit gleichberechtigt nebeneinander stehen. Nach ihm solle das eigene Herz und nicht die Kaaba die Gebetsrichtung vorgeben und wir Menschen sollten „die Geschöpfe lieben, des Schöpfers wegen“.

Oder wie es in den schönen, so bekannten Zeilen heißt:

Kommt lass uns‚ Freunde sein, uns das Leben gegenseitig erleichtern. Lasst uns lieben, und geliebt werden, die Welt, sie bleibt doch keinem.“ (Yunus Emre) Feuilleton Leitartikel

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  1. Vildan sagt:

    Dankeschön Herr Menzel.
    Wieder ein gelungener Beitrag von Ihnen!