Eine Zeitreise
Geschichte und Gegenwart der Interkulturellen Woche
Die Interkulturelle Woche, einst als „Tag des ausländischen Mitbürgers“ in den 70ern entstanden, hat einen langen Weg mit Widersprüchen und Spannungen zurückgelegt - eine Zeitreise mit weitergehenden Überlegungen.
Von Dr. Özkan Ezli Montag, 04.10.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 03.10.2021, 12:50 Uhr Lesedauer: 15 Minuten |
Man könnte meinen, an dem niedrigschwelligen Format der Interkulturellen Woche1 (IKW) habe sich seit ihrem Entstehen von 1975, damals Tag des ausländischen Mitbürgers, und ihrer sukzessiven Umbenennung zur Woche des ausländischen Mitbürgers in den 1980er Jahren zur Interkulturellen Woche in den 1990er und 2000er Jahren bis heute nicht viel verändert. Wie vor mehr als 45 oder 30 Jahren so stehen auch heute unter dem dies- und nächstjährigen Leitmotto/Hashtag #offengeht (2021/2022) Begriffe wie Begegnung und Kontakt oder Themen wie Rassismus und Flucht im Zentrum der 5.000 Veranstaltungen in 500 Städten in Deutschland. Doch ein analytischer und kulturwissenschaftlicher Blick auf die Geschichte der Interkulturellen Woche, wie ich ihn im Sommer 2020 im Auftrag des Sachverständigenrats für Integration und Migration im Vergleich der mittelgroßen und großen ost- und westdeutschen Städte Gera, Jena, Konstanz und Offenbach werfen konnte, hat mir eine besondere Transformationsgeschichte des Alltags der deutschen Einwanderungsgesellschaft von den 1970ern bis heute vor Augen geführt.2
Die entscheidenden Faktoren dieser Geschichte sind dabei zum einen, dass sich immer wieder wandelnde Verhältnis von Begriffen und Praxis in der Geschichte der Interkulturellen Woche und zum zweiten, dass dieses immer von einer Politik der Geselligkeit, der Soziabilität gerahmt war. Denn in der Geschichte der Interkulturellen Woche wird nichts häufiger betont, der Sinn und Zweck aller Bemühungen darin lägen, sich zu begegnen und gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Dabei hat die IKW immer auf Debatten und Konflikte zu Integration und Kultur in unterschiedlichsten Formen reagiert und mitunter auch Debatten angestoßen. Ihre Verhandlungsform war dabei die der Soziabilität, der Geselligkeit, deren Prinzip nach Georg Simmel eines ist, das „jeder […] dem andern dasjenige an geselligen Werten (von Freude, Entlastung, Lebendigkeit) gewähren [soll], das mit dem Maximum der von ihm selbst empfangen Werte vereinbar ist“.3 Damit aber dieses Verhältnis seine Form wahren kann, darf weder ein Beteiligter in übertriebenem Maße seine individuellen Interessen oder Problemlagen thematisieren, noch darf der Inhalt oder das Thema des Gesprächs, des Zusammenkommens zum ausschließlichen Zweck avancieren.4
Im Folgenden wird gezeigt, dass der Modus der Soziabilität in der IKW eine Verhandlungsform ist, die die Konfliktträchtigkeit, Schwere und Vulnerabilität von Debatten und Themen über die Vielfalt ihrer Veranstaltungsformen ausdünnt, verteilt und streut. Die IKW ist sozusagen politisch und gesellig und realisiert so eine Politik der Soziabilität. Letzteres verweist auf ein mehr an Möglichkeiten des sozialen Kontakts. In der Soziabilität steckt ein „mehr-als“ das, was subjektiv erfahren wird. Sie gibt ein Gefühl, in einem größeren Zusammenhang, in einem größeren „Kontext eingebettet zu sein“.5 Folgende Ziele, Begriffe, Akteure und Vorstellungen von Kultur haben in der Geschichte der IKW bis heute gewirkt.
Tag des ausländischen Mitbürgers in den 70ern
In ihren Anfängen (1975-1978) verfolgte die Interkulturelle Woche als Tag des ausländischen Mitbürgers (TAM), das Ziel, Begegnungen und Gespräche zwischen der deutschen Öffentlichkeit und den ausländischen Arbeitnehmern zu ermöglichen. Da aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit des Jahres 1975, bei ausländischen Arbeitnehmern doppelt so hoch wie bei deutschen, die Sorge groß war, dass der Einsatz der Gastarbeiter für die Entwicklung des bundesrepublikanischen Wohlstands in Vergessenheit geriete. Über Kontakte, Gespräche und gesellige Formate sollte mit dem TAM die entstandene Polarisierung zwischen Deutschen und ausländischen Arbeitnehmern aufgehoben werden.
„Mittels Folklore sollten Vorurteile abgebaut werden.“
Zentrale Begriffe dieser ersten Interkulturellen Wochen waren Isolation, Arbeits- und Wohnverhältnisse, Freizeit, Alltag und Solidarität. Als wichtige Akteure fungierten Organisationen, wie beispielsweise die größte Einzelgewerkschaft IG Metall, die dezentral organisierte Arbeiterwohlfahrt (AWO), die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas – die großen Spitzenverbände, die ausländischen Arbeitnehmern Anlaufstellen boten. Diese betrieben eine Vertretungspolitik für die ausländischen Arbeitnehmer gegenüber dem Bund und den Kommunen und stellten ihnen Räumlichkeiten im Rahmen des TAM zur Verfügung.
Mittels Folklore sollten Vorurteile abgebaut werden. In der Rhein-Neckar-Zeitung heißt es beispielsweise am 14.10.1975 zum Tag des ausländischen Mitbürgers, dass einen Nachmittag lang Griechenland, Jugoslawien, Portugal und die Bundesrepublik in „harmonischer Existenz“ lebten. „Internationale Folklore, Musik und Tanz überwanden Sprachbarrieren und Vorurteile; der griechische Gastarbeiter saß neben dem Heidelberger Gemeindevertreter, junge Leute mit langen Haaren neben älteren Damen.“6
Vorurteile werden durch den Kontakt mit Ausländern nicht überwunden oder in Frage gestellt, in den 1970er Jahren werden sie „abgebaut“.7 Das Verb abbauen ist von besonderem Interesse, weil es impliziert, dass der Deutsche wie auch der Ausländer, die sich gegenüberstehen, den gleichen Boden miteinander teilen. Teil dieses Prozesses ist selbst die Folklore, wenn es beispielsweise in einem Vorbericht des Bonner Korrespondenten Horst Zimmermann zum Tag des ausländischen Mitbürgers heißt „Mit Folklore gegen Vorurteile“.8 Später wird man Vorurteile überwinden oder sie in Frage stellen, um entweder multi- oder monokulturell auf den wahren Kern einer Kultur vorzustoßen oder jede Form kultureller Zuschreibung aus einer transkulturellen Perspektive aufzulösen. Weil Vorurteile abgebaut werden können, sozusagen der Boden auf dem man gemeinsam steht, freigelegt werden kann, sind die Differenzen nicht von unveränderbaren kulturellen Regeln bestimmt, sondern von unterschiedlichen Menschen, die in unterschiedlichen sozialen Bedingungen leben.
Woche des ausländischen Mitbürgers in den 80ern
In den 1980er Jahren war dagegen das zentrale Ziel der Woche des ausländischen Mitbürgers (WAM wurde sie ab 1983 genannt), „die verschiedenen Kulturen in eine Beziehung des gegenseitigen Gebens und Nehmens“ im Einwanderungsland Deutschland zu bringen.9 Die einstigen Themen wie soziale Bedingungen, z.B. Wohnraum, Kontakte und Freizeit, werden nun ersetzt durch Fragen nach der kulturellen Herkunft. Zentrale Begriffe dabei werden ‚kulturelles Erbe‘, ‚Herkunft, ‚Verstehen‘ und die ‚Nachbarschaft unterschiedlicher Kulturen‘.10
„Die Frage, „woher man komme“, war […] stets ein Dialogöffner.“
In dieser Phase etablierten sich verstärkt Organisationsformen wie Ausländerbeirate und Kulturvereine, durch die sich die ausländischen Mitbürger selbst vertreten konnten; diese förderten nun auch verstärkt die WAM. In ihren Programmen der 1980er Jahre fällt in diesem Zusammenhang die Häufung national-kultureller Abende oder Diskussionen über die Schwierigkeit der jungen zweiten Generation mit zwei Kulturen zu leben. Dennoch nimmt die Woche des ausländischen Mitbürgers mit ihren Fokussen auf Geselligkeit und gesprächsorientierte Formate der Kulturalisierung ihre Ernsthaftigkeit und Dramatisierung. Die Frage, „woher man komme“, war in diesem Zusammenhang stets ein Dialogöffner.
Der ehemalige portugiesischstämmige Pastoralreferent Joaquin Nunes, der von Mitte der 1980er Jahre bis 1995 die IKW in Offenbach mit organisierte, konstatiert heute über die 1980er Jahre, dass er auf die Frage, woher er komme, immer positiv reagiert habe. „Zur Begegnung gehört, dass man sich für meine Biographie interessiert. Ich bin stolz auf meine Biographie … ich habe es den Leuten gerne erklärt. Mich hat es eher gestört, wenn man mich beim Essen danach gefragt hat, wo hast Du die Sardinen her und nicht nach meiner Geschichte.“11
Der Begriff des ausländischen Mitbürgers erfährt in dieser Dekade seine stärkste politische und auch positive Entfaltung. Erstens, weil das kommunale Wahlrecht für Ausländer zum zentralen Thema wird und zweitens, die Begriffsbindung von fremd und zugehörig es den Ausländern ermöglicht, sich hinter diesem Begriff zu gruppieren. Doch trotz der kommunalpolitischen Frage bleibt die WAM in den 1980er Jahren, eine Veranstaltung, bei der sich unterschiedliche Kulturen begegnen.
Widersprüche und Spannungen in den 90ern
In den 1990er Jahren ist die Interkulturelle Woche in West- wie auch in Ostdeutschland durch Widersprüche und Spannungen bestimmt. Ihr Ziel in dieser Phase ist es, den ausländischen Mitbürgern auf persönlicher Ebene zu begegnen, um in ein „beziehungsvolles Miteinander“ zu kommen.12 Dieses Ziel wird in West- wie auch in Ostdeutschland auf unterschiedliche Weise verfolgt. Ein gemeinsames Ziel hingegen ist es, mit der Interkulturellen Woche auf den Rassismus der 1990er Jahre zu reagieren.
In den westdeutschen Städten tritt an die Stelle der nationalkulturellen Gruppen der 1980er Jahre nun verstärkt das Individuum, das von einer bi-kulturellen Biographie bestimmt ist. An die Stelle der Nation tritt die Kategorie Welt. Anerkennung avanciert hier zum zentralen Begriff. Gesellige nationale oder folkloristische Abende stehen hier neben Multi-Kulti-Discos. Zwar sind weder die ausländischen Bevölkerungszahlen noch die Vereinsdichte der ostdeutschen Städte mit jenen in Westdeutschland zu vergleichen, doch hinsichtlich der Veranstaltungszahl und Dauer der Interkulturellen Wochen stehen sie in nichts nach.
„Deutsch und zugleich multikulturell sein war für die meisten ‚eine Überforderung‘.“
In den ostdeutschen Städten tauchen Begriffe wie „Fremdheit“ und „Weltoffenheit“ in den Programmen viel häufiger auf als in den westdeutschen Städten und nationale und kulinarische Abende oder Abende der Begegnung sind dort weitaus stärker verbreitet. Tatsächlich lässt sich daraus schlussfolgern, dass erstens das Verhandeln von Multikulturalität in Ostdeutschland erst nach der Wende einsetzt und diese zugleich eine Degradierung der eigenen ostdeutschen Kultur nach sich zog.
Die damalige Jenaer Integrationsbeauftragte, Margot Eulenstein, die von 1992 bis 2003 die IKW organisierte, erinnert sich, das deutsch und zugleich multikulturell sein für die meisten „eine Überforderung war“. Viele Schüler erlebten damals ihre Eltern das erste Mal „hilflos, arbeitslos und ratlos“.13 In den ostdeutschen Städten ist nach der Wende die Gegenüberstellung von Alteingesessenen und Zugewanderten von der Ambivalenz des „deutsch-“ und zugleich „multikulturell-seins“ im Positiven wie im Negativen bestimmt. In den westdeutschen Städten stehen sich bei den Interkulturellen Wochen Deutsche und Individuen mit bi-kultureller Identität gegenüber, kulturelle Vorurteile und Stereotypen werden so mitunter in Frage gestellt und nicht abgebaut. Der Begriff der Kultur ist spätestens hier zu einer gesellschaftlichen Leitkategorie avanciert, die in den Jahren darauf seine Operationalisierung erfährt.
Interkulturelle Wochen ab den 2000ern
Denn ab den 2000er Jahren ist das zentrale Ziel der Interkulturellen Wochen, eine „Kultur der Zugehörigkeit“ vor Ort zu schaffen. Die Begriffe Multikulturalität, Anerkennung, Fremdheit und Welt werden nun abgelöst durch Vielfalt, Integration, Zusammenleben und Stadt. Dabei zeigen sich unter der Koordination und Moderation der Integrationsbeauftragten in den untersuchten Städten in unterschiedlichen Graden eine bewusste Distanzierung von kulturalisierender Folklore und eine Verortung von Integrations- und Zugehörigkeitsfragen.
„Kultur ist zur Ressource avanciert.“
Bei diesen Verortungsprozessen avanciert die Stadt zum zentralen Identifikationsmarker, der mit Perspektivierungen, Individualisierungen und Historisierungen der Migration gestärkt und bespielt wird. Auch das Thema der Arbeit kommt unter diesen Bedingungen in West- wie auch Ostdeutschland wieder auf. Die andere Kultur liegt dadurch nicht mehr außerhalb von Deutschland, sondern wird nun als inhärenter Bestandteil der Einwanderungsgesellschaft verhandelt. Kultur ist dadurch zur Ressource avanciert, die alle Beteiligten und Bürger zum Einsatz bringen können.
In Offenbach, wo über 60 Anbieter die Interkulturelle Woche bespielen, reichen die Vereine und Einrichtungen vom Deutschen Ledermuseum, der Geschichtswerkstatt Offenbach, den religiösen Gemeinden, dem Ausländerbeirat, den Internationalen Gärten e.V., Schulen, über das Polizeipräsidium bis zum Rumänischen Kulturverein ARO. Dass bei dieser entstandenen mit unterschiedlichen Interesselagen partizipierenden Vielfalt nur noch ein operativer und dynamischer Begriff von Kultur als Steuerungselement für die Interkulturellen Wochen dienen kann, zeigt nicht nur die Geschichte der Interkulturellen Woche, sondern auch das Kulturverständnis der koordinierenden und moderierenden Akteure in den untersuchten Städten.
„Die Teilnehmer stellen nicht mehr ihre Herkunftskultur vor, sondern ihre Projekte.“
Der Offenbacher Integrationsbeauftragte, Luigi Masala, der seit 1998 die IKW organisiert, beschreibt beispielsweise Kultur als Produkt und „Leistung des Menschen“. „Wie ich mal etwas produziert habe oder einen Gedanken gefasst habe, der kann in einem Jahr auch wieder ein anderer sein, weil er so stark von anderen Ideen wieder beeinflusst worden ist, von anderen Überzeugungen, auch von gesellschaftlicher Übereinkunft“, präzisiert Masala. Daher müssen Kultur und Gesellschaft dynamisch sein. „Und deswegen sind Stereotypisierungen natürlich auch immer eine Gefahr, die man immer wieder mal reflektieren muss, aber letztendlich ist das im Fluss befindlich, worauf man sich immer wieder neu einstellen muss: Das ist die kulturelle Leistung einer Gesellschaft.“14
Die Teilnehmer der Interkulturellen Woche stellen nicht mehr ihre Herkunftskultur vor, sondern ihre Projekte, in denen die Herkunft der Beteiligten oder die ihrer Eltern zu einem immanenten Teil der städtischen Selbstbeschreibung geworden ist. Daran schließt sich auch die aktuell stattfindende Interkulturelle Woche #offengeht an, die in ihrer aktuellen Selbstbeschreibung unbewusst viele Aspekte, Aufgaben und Begriffe ihrer Vergangenheit und Gegenwart und letztlich der deutschen Einwanderungsgesellschaft im Bereich der Praxis aufgreift:
„Die Interkulturelle Woche (IKW) steht für die offene und solidarische Gesellschaft – auch und gerade in Zeiten der Pandemie. Vielfältig streitet sie für gute Lebensbedingungen für alle hier lebenden Menschen und für sichere Zugangswege für Geflüchtete nach Europa und nach Deutschland. Sie setzt sich ein für von Isolation und Diskriminierung Betroffene und schafft breite Bündnisse gegen Rassismus und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Die Interkulturelle Woche zeigt an hunderten von Orten, wie gut die Vielfaltsgesellschaft funktioniert und feiert das friedliche Miteinander. Sie ermöglicht den Abbau von Vorurteilen durch direkte Begegnung. Sie nimmt Politik in die Pflicht und streitet für die Werte des Grundgesetzes. Die Interkulturelle Woche setzt damit starke Zeichen für eine offene und vielfältige Gesellschaft.“
Weitergehende Überlegungen
„Keine Angst vor Stereotypen.“
Mich hat die Geschichte und Gegenwart der IKW zu folgenden weitergehenden Überlegungen und Punkten geführt. Erstens: Keine Angst vor Stereotypen. Die Geschichte und das Format der Interkulturellen Woche lehrt uns, dass nicht die Stereotypisierungen das Problem sind, sondern vielmehr, wenn diese in keinen Verhandlungs- oder dialogischen Prozess der Geselligkeit überführt werden.
Zweitens: Die Fragen in einer immanent gewordenen Einwanderungsgesellschaft können nicht mehr Fragen nach ihren kulturellen Differenzen sein, sondern vielmehr Fragen nach ihren entstandenen kulturellen Ressourcen. Bei Ressourcen handelt es sich um materielle und immaterielle Güter, die etwas Allgemeines oder Individuelles den Bedürfnissen entsprechend befördern und vitalisieren. Eine ressourcenorientierte Frage in einem immateriellen Kontext könnte lauten, was haben Religionen an Menschlichem befördert?15 In einem materiellen Zusammenhang: Mit welchen Ressourcen kann sozialer Ungleichheit im Alltag begegnet werden?
„Man lebt in größeren Zusammenhängen und Kontexten, als man für sich allein glaubt.“
Drittens: In und durch die Geschichte der IKW zeigt sich eine Geschichte der niedrigschwelligen Verhandlungsform der Migration in der Bundesrepublik, die über die Diktion einer „Kultur der Zugehörigkeit“ zu einer immanenten Einwanderungsgesellschaft geführt hat. Das ist einerseits eine positive Entwicklung, andererseits stellt sich die Frage, wie nun neue kulturelle Ressourcen oder alte wieder neu entdeckt werden können? In der Forschung und im Feuilleton beliebte Begriffe wie Transkulturalität, Postmigration und Hybridität werden hier nicht helfen, weil, wie die Geschäftsführerin des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses, Friederike Ekol, pointiert festhält, „die Interkulturelle Woche weder eine Forschungs- noch eine Feuilleton-Veranstaltung“ sei.16 Und nach der ehemaligen Integrationsbeauftragten und der aktuellen Vorsitzenden des Interkulturellen Vereins der Stadt Gera, Frau Evelyn Fichtelmann, sprechen diese Begriffe Intellektuelle an. „Und die Interkulturelle Woche hat letztendlich das Ziel, Wirkung auch im Alltag zu entfalten, für Normalbürger“.17
Viertens: Die Niedrigschwelligkeit der Interkulturellen Woche und ihre Politik der Geselligkeit haben eine gesellschaftliche Relevanz, weil sie durch ihr Format den Härten von Integrations- und populistischen Debatten eine soziale Verflüssigung der Themen entgegensetzt. Dort, wo mitunter unnötig belastet wird, Individuen wie Kollektive ihre Probleme selbstbezüglich und affektiv übertreiben, arbeitet in der Interkulturellen Woche ein Prinzip der Soziabilität, das weder einem Individuum, einer Gruppe noch einem Thema selbst die Oberhand überlässt. Ihr zentraler Operationsnexus hierfür ist, dass Begriffe sich aus und in der Praxis bewähren müssen. Aus diesen Punkten und Erkenntnissen könnten sich Impulse und neues Wissen beispielsweise für die Interkulturelle Woche aber auch für andere Formate des kulturellen Austauschs ergeben. Wo liegen noch Potentiale einer Politik der Geselligkeit, der Soziabilität, die helfen könnten, die Kakophonie unserer Zeit in Formen des Gesprächs zu übersetzen und das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass man in größeren Zusammenhängen und Kontexten lebt, als man für sich allein glaubt?
- Ausgerichtet von den Evangelischen Kirchen Deutschlands, der Katholischen Bischofskonferenz und der Metropolie Orthodoxer Kirchen in Deutschland.
- Das Gutachten Die Politik der Geselligkeit. Gegenwart und Geschichte der Interkulturellen Woche. Eine vergleichende kulturwissenschaftliche Untersuchung zu den Mittel- und Großstädten Gera, Jena, Konstanz und Offenbach ist auf der Website des Sachverständigenrats für Integration und Migration abrufbar.
- Simmel, Georg (2019): Die Geselligkeit, In: ders.: Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft, Berliner Ausgabe, S. 50-70, S. 58.
- Hüttermann, Jörg (2018): Urbane Marktgeselligkeit. Eine Figuration im Modus des Vorübergehens, In: ders.: Figurationsprozesse der Einwanderungsgesellschaft. Zum Wandel der Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Migranten in deutschen Städten, Bielefeld: transcript, S. 218-245, S. 218.
- Massumi, Brian (2010): Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve, S.
- Rhein-Neckar-Zeitung (1975): Ausländer und Deutsche harmonisch in Koexistenz. Stadtverwaltung beging mit Teilnahme der Bürgerschaft „Tag des ausländischen Mitbürgers“ im Emmertsgrund, 14.10.1975.
- Siehe hierzu: Frankfurter Rundschau (1975): Hessen – Kronberg, Tag des ausländischen Mitbürgers, Einige Vorurteile abgebaut, 15.10.1975.
- Siehe hierzu: Zimmermann, Horst (1975): Der „Tag des ausländischen Mitbürgers“ soll Feindseligkeit abbauen. Mit Folklore gegen Vorurteile. Die Veranstalter haben Zweifel: Ist das Klima für Verständigung heute ungünstig?, In: Nürtinger Zeitung, 03.10.1975, S. 3.
- Griechisches Zentrum des Diakonischen Werkes Kassel (1980): Tag des ausländischen Mitbürgers 1980. 27.-28. September im Griechischen Zentrum Kassel, Aus: Archiv des ÖVA.
- Siehe hierzu: Die Politik der Geselligkeit, S. 41ff.
- Gutachten, S. 47.
- Siehe hierzu: Landesbeauftragte für Ausländerfragen des Freistaats Thüringen (1995): Offene Grenzen. Offener Sinn. Fünf Jahre der ausländischen Mitbürger in Thüringen, dokumentiert von Elisabeth Garbe, Stadt Erfurt, S. 19.
- Die Politik der Geselligkeit, S. 50.
- Ebd., S. 71.
- Siehe hierzu: Jullien, Francois (2017): Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin: Suhrkamp, S. 67f.
- Gutachten, S. 31.
- Ebd.
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