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Demokratiedefizit

Kulturelle Vielfalt endet im Wahlkampf

Deutschland ist bunt, Parlamente und Stadträte hingegen sind weiß. Migranten bekommen bei Wahlen - wenn überhaupt - oft nur einen aussichtslosen Listenplatz. Die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn steht exemplarisch für die ganze Republik. Eine Bestandsaufnahme.

Von Donnerstag, 16.09.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.09.2021, 15:22 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Die Politik ist weiß, Migrant:innen fehlen in den gewählten Gremien, die Mehrheit der migrantischen Bevölkerung fühlt sich in den Rathäusern nicht vertreten, ihre Anbindung an die Parteien nimmt allerorts ab, die Wahlbeteiligung ist unterdurchschnittlich gering. Wie kommt es, dass in den politischen Gremien der Kommunen kaum Migrant:innen vertreten sind, während ihr Anteil an der Bevölkerung stetig zunimmt? Einige exemplarische Antworten finden sich in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn.

Bonn ist eigentlich eine internationale Stadt. Eigentlich international aufgrund der zahlreichen internationalen Organisationen und auch aufgrund der bunten Bevölkerung. Über 30 Prozent der 334.000 Einwohner:innen sind ausländisch oder haben eine doppelte Staatsbürgerschaft. Doch nicht jeder von ihnen ist wahlberechtigt. Bei der Kommunalwahl 2020 hatte immerhin fast jeder fünfte Wahlberechtigte einen ausländischen Pass. Auch wenn der Anteil der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund nicht erfasst wird, ist klar, dass er noch höher ausfällt. Die Heterogenität der Bürger:innen spiegelt sich jedoch nicht in der Zusammensetzung und der Internationalität der politischen Gremien wider.

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„In Bonn verfügen 2021 lediglich zwei der insgesamt 66 Stadtverordneten über einen Migrationshintergrund, etwa zehnmal so viele wären repräsentativ.“

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Im Bundesdurchschnitt sind in den Stadträten vier Prozent Politiker:innen mit Migrationshintergrund vertreten, in der Bevölkerung sind es bundesweit mehr als 26 Prozent. In Bonn verfügen 2021 lediglich zwei der insgesamt 66 Stadtverordneten über einen Migrationshintergrund, etwa zehnmal so viele wären repräsentativ. Die etablierten Parteien (CDU, SPD, Grüne, Linke, FDP) stellen unter ihren 54 Stadtverordneten eine Stadtverordnete mit interkulturellen Wurzeln (knapp zwei Prozent). Die Koalition von Grünen, SPD, Linke und Volt ist kulturell homogen: Unter den 37 in den Stadtrat gewählten Mandatsträger:innen der Koalition gibt es keinen einzigen Abgeordneten mit Migrationshintergrund.

Kommunalwahl ja, Stadtrat nein.

Wie kommt es, dass trotz der Internationalität der Stadt der Anteil der migrantischen Politiker:innen im Stadtrat so gering ist? Stadtverordnete werden über zwei Wege in den Rat gewählt: über ein Direktmandat in den Wahlbezirken (mit einfacher Mehrheit im Wahlbezirk) und über die Reservelisten der Parteien (Verhältniswahl). Welche Rolle spielten Migrant:innen in den letzten drei Kommunalwahlen?

„Die Vielfalt im Bonner Stadtrat befindet sich nach der letzten Kommunalwahl auf einem absoluten Tiefstand und hat sich im Vergleich zu 2009 fast halbiert.“

Bei der Kommunalwahl 2020 hatte in den Wahlbezirken insgesamt jeder fünfte Kandidat aller Parteien einen Migrationshintergrund. Dabei hat sich der Anteil der von den etablierten Parteien in den Wahlbezirken aufgestellten Bewerber:innen mit Migrationshintergrund im Laufe der letzten drei Kommunalwahlen mehr als verdoppelt (2009, 4 %; 2014, 6 %; 2020, 10 %). Die kulturelle Zusammensetzung der Reservelisten bleibt hingegen bei allen drei Wahlen auf einem konstant niedrigen Niveau von maximal sechs Prozent. Die Vielfalt im Bonner Stadtrat befindet sich nach der letzten Kommunalwahl auf einem absoluten Tiefstand und hat sich im Vergleich zu 2009 fast halbiert.

Nur Wasserträger der Partei?

Ein genauer Blick auf den Weg in den Rat wirft weitere Fragen auf: Wenn kontinuierlich mehr Migrant:innen in den Wahlbezirken aufgestellt und sie im Wahlkampf sichtbarer werden, warum erreichen dann letztendlich weniger von ihnen den Stadtrat? Die Vermutung liegt nahe, dass Parteien mit Migrant:innen im Wahlkampf zunächst strategisch punkten möchten, vor allem in Stadtteilen mit einem hohen Migrationsanteil, ohne ihnen eine realistische Chance für die spätere Mitbestimmung einzuräumen. Der kontinuierliche Anstieg in den Wahlbezirken und der konstant niedrige Anteil auf der für die meisten Parteien erfolgversprechenderen Reserveliste könnten ein Beleg dafür sein. Damit wären Migrant:innen nur ein Mittel zum Zweck – Wasserträger der Partei im Wahlkampf, für mehr Macht in buntem Glanz.

„Für den Erfolg von Vielfalt im Stadtrat ist somit nicht die Menge der aufgestellten Migrant:innen entscheidend, sondern die Qualität der Nominierung in Form von aussichtsreichen Wahlbezirken oder vorderen Listenplätzen. Bei welchen Parteien war das gegeben?“

Bei der Kommunalwahl 2014 wählten die Parteien eine andere Vorgehensweise: Damals erreichten weit überdurchschnittlich viele Kandidat:innen mit Migrationshintergrund ein Ratsmandat, obwohl ihr Anteil in den Wahlbezirken und auf den Reservelisten nicht besonders hoch war. Für den Erfolg von Vielfalt im Stadtrat ist somit nicht die Menge der aufgestellten Migrant:innen entscheidend, sondern die Qualität der Nominierung in Form von aussichtsreichen Wahlbezirken oder vorderen Listenplätzen. Bei welchen Parteien war das gegeben?

Die Parteien im Überblick

Die Betrachtung der einzelnen Parteien ergibt ein ernüchterndes und zugleich überraschendes Bild. Auch wenn die meisten Parteien kontinuierlich mehr Kandidat:innen mit Migrationshintergrund in den Wahlbezirken aufstellen, verringern sich deren Chancen auf ein Ratsmandat. Die gesamte Koalition (Grüne, SPD, Linke, Volt) ist weiß. Eine Koalition aus Parteien, die sich programmatisch für Einwanderung, Teilhabe und Vielfalt aussprechen.

Diese Themen stehen sicherlich nicht ganz oben auf der Agenda der CDU. Dennoch stellt die CDU als einzige der etablierten Parteien eine Bonner Stadtverordnete mit interkulturellen Wurzeln. Ihr Wahlbezirk konnte bereits bei der letzten Kommunalwahl gewonnen werden. Auch in einem weiteren aussichtsreichen Wahlbezirk mit einem Direktmandat 2014 trat ein Bewerber mit Migrationshintergrund an, verfehlte jedoch die erforderliche Mehrheit. Die CDU ist darüber hinaus die einzige Partei in Bonn, die bislang einen Oberbürgermeister mit Migrationshintergrund gestellt hat.

„Bei Grünen, CDU, Linke, Volt und FDP hatten Migrant:innen aufgrund der schlechten Platzierung auf der Reserveliste nicht den Hauch einer Chance über die Liste in den Rat einzuziehen.“

Die SPD würde vielleicht gerne, kann aber nicht. Bei einer Wiederholung des Wahlergebnisses von 2014 und dem Einzug von zwanzig Stadtverordneten hätten 2020 zwei Stadtverordnete mit Migrationshintergrund über die Reserveliste in den Rat einziehen können. Die SPD ist die einzige Fraktion in Bonn, bei denen Migrant:innen aussichtsreiche Plätze auf der Reserveliste erhielten. Und auch erfolgversprechende Wahlbezirke wurden von der SPD kulturell vielfältig besetzt. Genauso Wahlbezirke mit einem niedrigen Migrationsanteil, was für einen ganzheitlichen Ansatz im Umgang mit Vielfalt spricht. Neben dem bundesweiten Zustimmungstief erschwerte in Bonn allerdings eine hohe Fluktuation bestehende Ambitionen für mehr kulturelle Vielfalt: Keiner der drei SPD-Stadtverordneten mit Migrationshintergrund konnte nach der Wahl im Stadtrat gehalten werden. Zwei von ihnen sind aktuell nur noch im Integrationsrat aktiv, eine verließ die Partei bereits vor Ablauf der letzten Legislaturperiode. Ein langjähriges Parteimitglied, das als Vorsitzender den Integrationsrat leitete, hat ebenfalls sein Parteibuch abgegeben. Der Mehrwert von kultureller Vielfalt scheint bei der SPD erkannt zu werden. Für eine langfristige Bindung ist allerdings entscheidend, dass sich Migrant:innen in der Partei wohlfühlen, in ihren Bedürfnissen respektiert und berücksichtigt werden.

Bei Grünen, CDU, Linke, Volt und FDP hatten Migrant:innen aufgrund der schlechten Platzierung auf der Reserveliste nicht den Hauch einer Chance über die Liste in den Rat einzuziehen. Die Bonner Grünen konnten 2020 einen historischen Wahlerfolg feiern, das bislang beste Wahlergebnis einfahren und mit 19 Stadtverordneten die stärkste Fraktion stellen. Stadtverordnete mit Migrationshintergrund sucht man darunter vergeblich. Migrant:innen scheinen nicht die erforderliche Unterstützung und Akzeptanz zu erhalten. Die wenigen aufgestellten Migrant:innen auf der Reserveliste und in den Wahlbezirken waren chancenlos. In zwei der insgesamt 33 Wahlbezirke wurden Grüne mit Migrationshintergrund aufgestellt. Die beiden Wahlbezirke haben zwar den höchsten Migrationsanteil in Bonn, mit Blick auf die letzten Wahlergebnisse bestand jedoch keine Aussicht auf ein Direktmandat. Schon bei der Aufstellung der Kandidat:innen für die Kommunalwahl 2020 war für die Grünen absehbar, dass sie kulturell homogen und ohne Stadtverordnete mit Migrationshintergrund in den Rat einziehen werden. Nicht einmal das erforderliche Problembewusstsein schien es in der Partei zu geben. So sprach der Kreisverband vor der Kommunalwahl von einer „bunt zusammengesetzten Liste“.

Integrationspolitik: bunte Verpackung ohne Inhalt

„Integrationspolitische Forderungen werden wiederholt in Wahlprogramme aufgenommen, ohne in der vorherigen Wahlperiode das entsprechende Handlungsfeld bearbeitet oder entsprechende Initiativen der politischen Mitstreiter:innen unterstützt zu haben.“

Eine Auswertung der Wahlprogramme verdeutlicht, dass es in der politischen Arbeit an interkulturellen Perspektiven fehlt. Integrationspolitische Forderungen werden wiederholt in Wahlprogramme aufgenommen, ohne in der vorherigen Wahlperiode das entsprechende Handlungsfeld bearbeitet oder entsprechende Initiativen der politischen Mitstreiter:innen unterstützt zu haben. Migration wird häufig eindimensional betrachtet, auf prekäre Lebenslagen und die Gruppe der Geflüchteten beschränkt. Vier von sechs Forderungen im Wahlprogramm 2020 der Linken unter „Flucht und Migration“ beziehen sich ausschließlich auf Geflüchtete, die beiden anderen Themen sind der „anonyme Krankenschein“ und die „Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus“. Volt fordert hingegen einen Integrationspreis, den es bereits seit 2009 in Bonn gibt. Die Bonner Grünen nennen in ihrem letzten Wahlprogramm die Vielfalt in der Verwaltung und ihre Überzeugung, „dass sich eine Verwaltung, die personell die Vielfalt unserer Stadt widerspiegelt, letztendlich für alle auszahlt.“ Konkret werden die Grünen bei ihrer Forderung jedoch nicht, auch wenn sie im direkten Anschluss eine „Frauenquote von 50 Prozent in Führungspositionen in der Verwaltung“ und „eine dauerhafte Quote von 8 Prozent bei den Mitarbeiter:innen mit Behinderung“ fordern. Ein Antrag von 2014, der die Stadtverwaltung aufforderte, konkrete Zielvorgaben für die Erhöhung des Anteils von Mitarbeiter:innen mit Migrationshintergrund zu erarbeiten, wurde von den Grünen in Bonn abgelehnt.

In der Gesamtbetrachtung zeigt sich, dass die kulturelle Homogenität der Politik sowie die fehlende Offenheit gegenüber integrationspolitischen Themen der heutigen Zeit und ihren Bedürfnissen nicht mehr gerecht werden. Denn nicht nur Bonn ist international. Deutschland ist international. Leitartikel Politik

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