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Hände © sabinevanerp @ pixabay.com (Lizenz), bearb. MiG

Experte fordert staatliche Hilfe

Auswege aus Pflegedilemma mit osteuropäischen Arbeiterinnen

Die osteuropäischen Betreuungskräfte in der häuslichen Pflege müssten nach einem aktuellen Urteil den gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Das kann sich aber fast keiner der betroffenen Privathaushalte leisten. Experten machen nun Lösungsvorschläge.

Von Dienstag, 03.08.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.08.2021, 13:43 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Familien sind für die häusliche Rund-um-die-Uhr-Pflege ihrer Angehörigen oft auf osteuropäische Betreuungskräfte angewiesen, können diese aber nicht anständig bezahlen. Nach jahrelangem Wegschauen der Politik und dem Abschieben der Verantwortung auf die betroffenen Familien hat nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt den Finger in die Wunde gelegt:

Die Betreuungskräfte haben Anspruch auf den in Deutschland geltenden gesetzlichen Mindestlohn – und zwar auch für Bereitschaftszeiten, entschied das BAG in seinem Urteil vom 24. Juni (AZ: 5 AZR 505/20). Es drohen gravierende Auswirkungen für alle Beteiligten. Experten suchen Lösungswege.

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„Warum sollen die Regelungen zum Mindestlohn oder zu gesetzlichen Arbeitszeiten nicht auch für osteuropäische Pflegekräfte gelten“, fragt Jacob Joussen, Jura-Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Praktisch könnten Angehörige die häusliche Betreuung jedoch nicht bezahlbar und gleichzeitig rechtssicher gestalten.

85 Prozent wird schwarz beschäftigt

Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 200.000 und 600.000 nach Deutschland vermittelte Hilfskräfte die häusliche Pflege und Betreuung erst möglich machen. 85 Prozent der meist aus Osteuropa stammenden pflegenden Frauen werden schwarz beschäftigt. „Die Spannbreite zeigt, dass niemand genau weiß, wie viele es tatsächlich sind“, sagt Michael Isfort, Pflegewissenschaftler am Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln.

„Ohne die vielen pflegenden Familienangehörigen und die nach Deutschland vermittelten Frauen würde unser ambulantes Pflegesystem in Deutschland nicht funktionieren“, ist Isfort überzeugt. Denn weder könnten die bestehenden ambulanten Hilfsdienste die gewünschte Rund-um-die-Uhr-Betreuung schultern, noch gebe es für die Hilfebedürftigen ausreichend Pflegeheimplätze.

Schlupflöcher

„Familien mit Pflegebedürftigen suchen in ihrer Not Schlupflöcher“, sagt Susanne Punsmann, Rechtsanwältin und Referentin bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Mittlerweile würden viele Familien vermeintlich Selbstständige für die Betreuung ihrer Angehörigen beauftragen, da sie glauben, hier gelten die Arbeitszeit- und Mindestlohnvorschriften nicht.

„Jedes Gericht würde bei solchen Beschäftigungsverhältnissen aber wohl eine Scheinselbstständigkeit feststellen“, sagt Joussen. Dann drohten den Angehörigen nicht nur Nachzahlungen der Sozialversicherungsbeiträge mitsamt Säumniszuschlägen, sondern auch Bußgelder von bis zu 25.000 Euro.

Problem: Schwarzbeschäftigung

Die Schwarzarbeit ist problematisch. Punsmann kennt Fälle, da hat die Pflegekraft ohne Krankenversicherungsschutz einen Unfall erlitten und die Familie wurde um die Begleichung der Arztrechnung gebeten. Dazu sei sie zwar nicht verpflichtet, aber viele hätten ein schlechtes Gewissen, sagt Punsmann.

Isfort sieht keine schnelle Lösung aus der vertrackten Pflegesituation. Zunächst müsse bundesweit der Versorgungsbedarf festgestellt werden. Dabei könnten vor allem die Kommunen prüfen, welche Hilfen erforderlich seien. „Viele Pflegebedürftigen benötigen etwa gar keine Nachtpflege“, sagt Isfort.

„Persönliches Budget“

Helfen könne ein von der Pflegeversicherung für die häusliche Pflege gezahltes „Persönliches Budget“: Mit diesem Geld könnten die Pflegebedürftigen als Arbeitgeber Betreuungskräfte einstellen, so wie dies in der der Behindertenhilfe bereits geschehe.

Eine Absage erteilt Joussen der Übertragung des Arbeitszeitmodells der SOS-Kinderdörfer auf die häusliche Pflege. Das Arbeitszeitgesetz sieht für SOS-Kinderdorf-Mütter und Väter keine strikten Arbeitszeiten vor. „Das ist auf die häusliche Pflege nicht übertragbar, da es sich hier um eine klare Dienstleistung handelt“, erklärt der Bochumer Professor für Arbeitsrecht. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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