Gespräch mit Dagmar Pruin
„Brot für die Welt“- Chefin: Corona zerstört Entwicklungserfolge
Dagmar Pruin ist die neue Präsidentin der Hilfswerke „Brot für die Welt“ und Diakonie Katastrophenhilfe. Im Gespräch berichtet sie über die Herausforderungen und die dramatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie - insbesondere in armen Ländern.
Von Mey Dudin und Natalia Matter Donnerstag, 01.04.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.03.2021, 18:06 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Frau Pruin, Sie starten in einer Zeit, in der Corona viele Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit wieder zunichtegemacht hat. Wo wollen Sie Schwerpunkte setzen?
Dagmar Pruin: Corona wirkt wie ein Katalysator: Schätzungen zufolge werden 150 Millionen Menschen durch die Pandemie in die extreme Armut rutschen. Wir gehen davon aus, dass bis zu 130 Millionen Menschen zusätzlich durch die Folgen der Pandemie in akute Hungergefahr geraten. Schon jetzt leiden 690 Millionen Menschen an chronischem Hunger – jeder elfte Mensch, in den Ländern Afrikas südlich der Sahara sogar jeder fünfte. Das sind unglaublich erschreckende Entwicklungen, nachdem es in den letzten Dekaden ja schon gelungen war, die Zahl der Hungernden trotz wachsender Weltbevölkerung zu reduzieren. Durch die Pandemie werden Erfolge zunichtegemacht. Deshalb: Die Hungerbekämpfung bleibt nach wie vor Kern der Arbeit von „Brot für die Welt“. Darauf liegt unser Augenmerk.
Und welche anderen Bereiche sind Ihnen besonders wichtig?
„Wir müssen auch viel deutlicher die Gesundheitssysteme stärken, damit die Länder des Südens die Möglichkeit haben, besser mit Pandemien umzugehen. Dabei geht es nicht nur um die Corona-Bekämpfung. Derzeit sterben viele Menschen zusätzlich an anderen Krankheiten.“
Wir müssen auch viel deutlicher die Gesundheitssysteme stärken, damit die Länder des Südens die Möglichkeit haben, besser mit Pandemien umzugehen. Dabei geht es nicht nur um die Corona-Bekämpfung. Derzeit sterben viele Menschen zusätzlich an anderen Krankheiten. Wir sehen, dass die Sterberaten an Tuberkulose, Malaria und HIV weiter steigen. Dazu kommt die immense Auswirkung der Pandemie auf die Wirtschaft. Auch die UN-Nachhaltigkeitsziele für 2030 sind dadurch sehr viel schwerer zu erreichen – auf unserem Weg liegen jetzt noch mehr Steine.
Gleichzeitig sehen wir, dass sich der Handlungsraum der Zivilgesellschaft immer weiter verkleinert. Auch diese Entwicklung wird durch Corona beschleunigt und verstärkt. Wir arbeiten mit vielen Partnerorganisationen weltweit zusammen, die von solchen Einschränkungen betroffen sind. Die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und Kirchen weltweit ist ja genau unser Ansatz.
Ein wichtiger Faktor in der Zivilgesellschaft sind die Frauen, die gleichzeitig die Auswirkungen der Corona-Pandemie besonders hart treffen.
„Auch hier sehen wir durch Corona die Probleme noch deutlicher. Seit Ausbruch der Pandemie haben wir weltweit einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt erleben müssen. Frauen sind auch wirtschaftlich und sozial besonders stark von den Folgen betroffen.“
Auch hier sehen wir durch Corona die Probleme noch deutlicher. Seit Ausbruch der Pandemie haben wir weltweit einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt erleben müssen. Frauen sind auch wirtschaftlich und sozial besonders stark von den Folgen betroffen: 92 Prozent der Frauen im globalen Süden arbeiten im informellen Sektor, das heißt ohne irgendeine Form öffentlicher sozialer Absicherung. In Uganda und Kenia gehen nur noch halb so viel Mädchen wie Jungen in die 5. Klasse. Gleichzeitig machen Frauen 70 Prozent der Beschäftigen im Gesundheits- und Sozialsektor aus, gerade auf den unteren Ebenen. Deshalb wird der Einsatz für Frauenrechte, für ihre soziale Absicherung und ihren Schutz vor Gewalt ein ganz deutlicher Schwerpunkt von „Brot für die Welt“ bleiben.
Wie sieht diese Arbeit vor Ort konkret aus?
Wir unterstützen ganz unterschiedliche Projekte, wie eines gegen weibliche Genitalverstümmelung in Ägypten, einem Land, in dem sowohl in christlichen als auch in muslimischen Kreisen beschnitten wird. Das Thema wird oft auf muslimische Kreise beschränkt, aber das greift viel zu kurz. Wir arbeiten mit einer Partnerorganisation der koptischen orthodoxen Kirche zusammen, um aufzuklären, vor allem auch Großmütter, die Teil der Beschneidungstradition sind. In Albanien vertreten unsere Partner Opfer häuslicher Gewalt vor Gericht. In Indien unterstützen sie Frauen, an eigenes Land zu kommen.
Ihre Organisation macht sich auch für Impfgerechtigkeit stark. Warum fruchtet das nicht?
„Menschen werden empfänglicher für Fragen der weltweiten Gerechtigkeit und auf der anderen Seite erleben wir einen Impf-Nationalismus: Jedes Land will sich möglichst viele Impfdosen sichern.“
Das ist ein ganz schön dickes Brett. Im Moment sehen wir zwei Dinge: Menschen werden empfänglicher für Fragen der weltweiten Gerechtigkeit und auf der anderen Seite erleben wir einen Impf-Nationalismus: Jedes Land will sich möglichst viele Impfdosen sichern. Es sind unglaubliche Mengen an öffentlichen Fördergeldern in die Entwicklung von Impfstoffen geflossen. Deutschland hat allein 750 Millionen Euro bereitgestellt. Es ist an der Zeit, Impfpatente freizugeben. Bei HIV-Medikamenten hat das zehn mühselige Jahre gedauert, bei Corona muss das schneller gehen. Südafrika und Indien können den Impfstoff schon produzieren. Deutschland und die EU dürfen sich dieser Diskussion nicht verschließen.
Sind Sie froh darüber, dass bald ein Lieferkettengesetz im Bundestag beraten wird?
Erst mal ist es gut, dass es da ist. Wir wünschen uns aber, dass es nachgeschärft wird. Noch sind wir im Gesetzgebungsprozess und noch sind Änderungen möglich. Wenn es dabei bliebe, dass es nur für Unternehmen ab 3.000 Beschäftigten ab 2023 gilt und für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten ab 2024, dann würde es zu kurz greifen. Auch kleinere Unternehmen, vor allem in Risikobranchen, können zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Anders als im Entwurf vorgesehen, müssen auch die mittelbaren Zulieferer in den Blick genommen werden. Gerade am Anfang der Lieferkette kommt es zu Kinderarbeit und Menschenrechtsverstößen. Außerdem wurde dem Gesetz die Ebene der Proaktivität genommen: Unternehmen müssen im Hinblick auf Risiken in ihren Lieferketten erst aktiv werden, wenn es Anlässe dafür gibt. Das ist eine seltsame Regelung, wenn es um Menschenrechte geht.
Ist das Lieferkettengesetz auch Thema der Zusammenarbeit mit den internationalen Partnerorganisationen?
Ja, wir wollen die Partnerinnen und Partner vor Ort stärken, Menschenrechtsverletzungen am Anfang der Lieferketten aufzudecken. Wir werden dafür gegenseitig Informationen austauschen, die für beide Seiten wichtig und nützlich sind.
In der Pandemie und davor hat der Einfluss finanzstarker Organisationen von Privatpersonen deutlich zugenommen. Was setzt ein Hilfswerk wie „Brot für die Welt“ dem entgegen?
„Brot für die Welt“ ist über sechs Jahrzehnte gewachsen und was uns auszeichnet, ist die Zusammenarbeit mit Partnerinnen und Partnern in vielen Ländern des Südens von Anfang an. So können wir die Situation vor Ort wahrnehmen. Und wir haben den Ansatz, ineinandergreifende Themen miteinander zu verknüpfen und voneinander zu lernen. Es ist eine andere Art zu arbeiten, als bei Organisationen, die neu auf den Markt treten, und sich womöglich nur ein bestimmtes Feld vornehmen. Private Initiativen verfolgen ein ganz anderes Handlungskonzept.
Sie müssen härter für Ihr Budget kämpfen als solche Organisationen. Wie hat sich die Pandemie auf die Spenden im Jahr 2020 ausgewirkt?
Der Einbruch der Weihnachtskollekte war schwer. An Weihnachten sind die Menschen immer in die Kirche gegangen und da steht die Spendenbüchse. Wir gehen davon aus, dass im vergangenen Jahr nur 30 Prozent der Menschen bei den Weihnachtsgottesdiensten waren. Zwar war ansonsten die Spendenbereitschaft enorm hoch, aber das wird die Verluste bei der Kollekte nicht ausgleichen. Wir rechnen daher mit hohen Einbußen. Sicherheit werden wir erst im Mai oder Juni haben, wenn wir die genauen Zahlen bekommen. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama
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