Bildung in Kenia
„Corona hat alles kaputt gemacht“
In Kenia sind die Schulen wegen der Corona-Krise immer noch geschlossen. Eine Zunahme von sozialer Ungleichheit, Schulabbrüchen und Hunger könnte die Folge sein. Nun wird über eine Wiedereröffnung debattiert.
Von Bettina Rühl Donnerstag, 01.10.2020, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 30.09.2020, 10:49 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Bella Achieng Otieno holt ihr Matheheft aus dem Regal, blättert es durch. Die 15-jährige Kenianerin erhält von ihren Lehrerinnen und Lehrern Aufgaben per WhatsApp. Ob sie die aber macht oder nicht, ist letztlich ihre Sache: Niemand kontrolliert ihre Fortschritte. Ihre Schule ist seit März wegen der Corona-Pandemie geschlossen – so wie alle in dem ostafrikanischen Land. „Ich bin traurig, weil Corona alles kaputt gemacht hat“, sagt Bella.
Wie lange die Schulen noch geschlossen bleiben, wird gerade diskutiert. Ursprünglich hatte die Regierung eine Schließung bis Ende des Jahres angekündigt. Alle Schülerinnen und Schüler sollten ein Jahr wiederholen. Nun wird eine Öffnung im November geprüft. Die UN drängen seit Monaten auf Präsenzunterricht.
Die Schließung betrifft in Kenia 18 Millionen Kinder und Jugendliche, einschließlich 150.000 von ihnen in Flüchtlingslagern. Mit dieser drastischen Maßnahme ist das ostafrikanische Land nicht allein. Der UN-Bildungsorganisation Unesco zufolge findet nur in acht von 42 untersuchten Staaten südlich der Sahara wieder Präsenzunterricht statt. In sechs weiteren Ländern werden nur einige Klassen unterrichtet.
Jedes vierte Haushalt ohne Strom
Bella läuft derzeit häufig planlos durch die engen Gassen von Kibera, einem der Slums in der Hauptstadt Nairobi. Hier lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester. Viele Menschen hier finden Bildung wichtig, sie sehen darin einen Weg aus der Armut und wünschen sich, dass die Schulen wieder öffnen. Die Regierung argumentiert dagegen, dass der Unterricht doch gar nicht ausfalle.
Wegen der Corona-Krise hat die zuständige Behörde neue Lerneinheiten für einen digitalen und elektronischen Unterricht entwickelt. Verbreitet werden sie über Internet, Lern-Apps sowie Radio- und Fernsehprogramme. Aber nach Angaben der Weltbank haben nur 75 Prozent aller Haushalte in Kenia Strom. Viele Menschen können sich zudem nur sehr begrenzten Zugang zum Internet leisten.
Soziale Ungleichheit könnte zunehmen
Besonders schwierig ist die Situation auf dem Land, zum Beispiel für die Massai, die Viehzüchter sind. „Ich sorge mich um unsere Schulkinder“, sagt Stephen Lesongoi. Er ist der traditionelle „Chief“ einer Massai-Gemeinschaft in Laikipia im Zentrum des Landes. In ihre oft nach traditioneller Weise aus Holz, Kuhdung und Lehm gebauten Häuser regnet es oft herein, für Tische und Stühle ist es in den fast fensterlosen Räumen zu eng. „Strom oder Lampen gibt es in vielen Dörfern auch nicht.“ Von Laptops oder Tabletts ganz zu schweigen.
Lesongoi befürchtet deshalb, dass der Unterricht für viele Kinder einfach ausfallen wird, bis die Schulen wieder öffnen. Das gilt auch für alle anderen Kinder und Jugendliche, die besonders benachteiligt sind: Weil sie fernab der Städte leben wie die Massai, die Pokot und andere Volksgruppen oder in einem der Flüchtlingslager, oder weil sie beeinträchtigt sind und besonders gefördert werden müssten. Lesongoi fürchtet, dass die soziale Ungleichheit durch die Corona-Krise noch deutlich zunimmt. „Am Ende müssen sich unsere Kinder gegen die Privilegierten in den Städten behaupten, die alle Lehrmaterialien und Strom und Licht haben.“
Unicef befürchtet viele Schul-Abbrecher
Auch die Zahl der Schul-Abbrecher könnte laut Unicef steigen. Schon vor Corona beendete rund ein Drittel die Primarschule nicht. Immerhin können fast 80 Prozent der Kenianerinnen und Kenianer lesen und schreiben. Die Hürden beim Zugang zur Bildung sind allerdings innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedlich hoch. Am schwierigsten ist die Situation für Mädchen in ländlichen Regionen. Besonders begünstigt sind Kinder und Jugendliche an Privatschulen. Sie machen mittlerweile ein Viertel aller Schulen aus und drängen aus finanziellen Gründen auf eine baldige Öffnung. Die Gebühren liegen zwischen ein paar Dutzend und Zehntausenden US-Dollar im Jahr.
Die 15-jährige Bella hat immerhin ein Smartphone und kann die WhatsApp-Nachrichten ihrer Lehrer lesen – sofern ihre Mutter gerade genug Geld für Interneteinheiten hatte. Lilian Adhiembo verkauft Holzkohle. Aber ihr Geschäft läuft schlecht. Die Corona-Pandemie hat auch in Kenia eine Wirtschaftskrise ausgelöst, die Menschen in Kibera sparen, wo sie können. Adhiembo verdient kaum noch genug zum Leben. „Ich muss ja auch Miete bezahlen, Essen für meine Kinder und was sonst noch so anfällt.“
Keine warme Mahlzeit in der Schule
Dass die Schulen so lange geschlossen sind, macht es noch schwerer. „Viele Kinder haben in der Schule jeden Tag eine warme Mahlzeit bekommen“, sagt Rachel Esther, die stellvertretende Direktorin von Bellas Schule in. Diese Mahlzeit fällt jetzt aus. „Die meisten Eltern können sich nicht drei Mahlzeiten für ihre Familie leisten.“
UN-Organisationen WHO und Unicef warnen davor, dass am Ende der langen Unterrichtspause viel mehr Kinder mangelernährt sein könnten als jetzt. Abgesehen davon, dass sie ein Jahr Zeit verlieren und viele von ihnen mehr häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. (epd/mig) Aktuell Ausland
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