Hendrik Lammers, IBIS, Flüchtlingsberater, Psychologie, Lernförderung
Hendrik Lammers, Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Migration und Diskriminierung © Privat, bearb. MiG

Unterbringung in Flüchtlingslagern

Kritik eines diskriminierenden Systems im Spiegel der Corona-Krise

Die Kritik an den Verhältnissen in den deutschen Flüchtlingslagern wächst. Das Unterbringungssystem ist durch strukturelle Diskriminierung geprägt. Durch die Corona-Krise verstärken sich Missstände.

Von Mittwoch, 17.06.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 16.06.2020, 16:20 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Es gibt durchaus sichtbare Bemühungen einiger Bundesländer und Landkreise um eine angemessene Unterbringung. Das zeigen Gewaltschutzkonzepte oder die Finanzierung von Sozialarbeit, Asylverfahrensberatung und psychologischer Unterstützung. Ebenso gibt es Bedienstete in Behörden und politisch Verantwortliche, die Spielräume zugunsten der Geflüchteten auslegen. Diese Aspekte auch zu betrachten, gehört zu einer realistischen Beurteilung. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Idee und Praxis der Unterbringung in Sammelunterkünften schon im Ansatz problematisch ist und Diskriminierungen begünstigt.

Unterbringung in Sammelunterkünften als Teil einer größeren Problematik

In den 1980er Jahren wurde die Unterbringung in Sammelunterkünften eingeführt, um Flüchtende abzuschrecken. Asylbewerber:innen und abgelehnte Asylsuchende sollten beabsichtigt aus der Gesellschaft ferngehalten und kontrolliert werden, damit sie sich nicht integrieren und leichter abgeschoben werden können. Die Einrichtung großer Flüchtlingslager wurde Teil einer Strategie der Desintegration, legitimiert durch rassistische Diskurse. Rassistische Vorstellungen nahmen Einfluss auf die Debatten um Flucht und Migration und die deutsche Flüchtlingspolitik. Die Debatten beeinflussten wiederum die Gesetze und ließen staatliche Diskriminierungen wie etwas ‘normales’ wirken. Darunter Leistungskürzungen, Residenzpflicht, Abschiebehaft, zwanghafte Botschaftsvorführungen, eine Gesundheitsversorgung zweiter Klasse und Arbeitsverbot.

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Dazu machten die Flüchtlingslager ihre Bewohner:innen als ‘Andere’ für alle außerhalb der Gelände sichtbar. Seitdem markieren sie die Geflüchteten als diejenigen, die nicht das Recht hätten, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein.

„Bis heute zieht sich der Grundgedanke der Unterscheidung – in Migrant:innen, die Teil dieser Gesellschaft und nicht Teil dieser Gesellschaft sein sollen – durch die Gesetze. Also durch das Asylgesetz, Aufenthaltsgesetz und Asylbewerberleistungsgesetz. Seit der Flüchtlingsschutzkrise 2015 wurden diese Gesetze außerdem deutlich verschärft.“

Bis heute zieht sich der Grundgedanke der Unterscheidung – in Migrant:innen, die Teil dieser Gesellschaft und nicht Teil dieser Gesellschaft sein sollen – durch die Gesetze. Also durch das Asylgesetz, Aufenthaltsgesetz und Asylbewerberleistungsgesetz. Seit der Flüchtlingsschutzkrise 2015 wurden diese Gesetze außerdem deutlich verschärft.

Die gesetzlichen Vorgaben zeigen eine feingliedrige Unterscheidung, die Geflüchtete nach asyl- und aufenthaltsrechtlichen Kriterien hierarchisiert. Die Gesetze verankern bestimmte Ungleichbehandlungen. Aber sie erklären und normalisieren die Benachteiligungen mittlerweile eher durch eine Mischung aus abstrakten, verharmlosenden und ordnungspolitischen Begriffen, statt durch rassistische Sprache. Der dahinter stehende Gehalt ist nach wie vor von historisch etabliertem Rassismus geprägt. Doch institutionelle Diskriminierung wird durch das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) mitgetragen. Denn es verbietet staatlich festgelegte Benachteiligungen nicht. Die EU-Antirassismusrichtlinie (Art. 3 Abs. 2) und die Antirassismuskonvention (ICERD) (Art. 1 Abs. 2) erwähnen außerdem ausdrücklich die Zulässigkeit der Ungleichbehandlung von Nicht-Staatsangehörigen.

Unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten

In der Folge gibt es einen wichtigen Unterschied: Wenn Geflüchtete als Asylberechtigte (Art. 16a GG) oder Flüchtlinge (§ 3 AsylG) eine Anerkennung erhalten oder ihnen subsidiärer Schutz (§ 4 AsylG) oder ein nationales Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) zuerkannt wird, bekommen sie eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Sie gilt für ein bis drei Jahre (§§ 25 Abs. 1-3 AufenthG). Damit ist eine Arbeitserlaubnis verbunden (§ 31 BeschV). Sie haben das Recht auf Arbeitslosengeld II. Außerdem müssen die Geflüchteten dann nicht mehr in einer ‘Aufnahmeeinrichtung’ (§ 48 Abs. 2 AsylG) bzw. in einer ‘Gemeinschaftsunterkunft’ (§ 53 Abs. 2 AsylG) wohnen. In der juristisch erwirkten Hierarchie der Geflüchteten nehmen sie die verhältnismäßig sicherste Position mit den meisten Rechten ein.

Geflüchtete mit negativ abgeschlossenem Asylverfahren sollen dagegen in ‘Gemeinschaftsunterkünften’ untergebracht werden (§ 53 AsylG); sie erhalten nur verminderte soziale und gesundheitliche Leistungen (§ 3 AsylbLG); sie unterliegen der Residenzpflicht (§ 61 AufenthG) und Einschränkungen bei Arbeitserlaubnissen (§ 32 BeschV); sie müssen umfangreiche ‘erkennungsdienstliche Maßnahmen’ dulden (§ 49 AufenthG); sie können in Abschiebungshaft genommen (§ 62 AufenthG) und abgeschoben werden (§ 34 AsylG).

„Die Unterscheidungen sind weiterhin ein mächtiges Instrument der Unterteilung in wirtschaftlich ‘verwertbare’ und ‘überflüssige’ Migrant:innen. So werden bestimmte Gruppen von Migrant:innen als ‘brauchbar’, als ökonomisch wichtig, betrachtet. Insbesondere dort, wo Arbeitskräfte fehlen.“

Viele Geflüchtete mit einem abgelehnten Asylverfahren haben aber gute Gründe, dennoch vor Abschiebung geschützt zu werden. Deshalb haben sie oft eine ‘Duldung’ nach § 60a AufenthG. Damit sind sie zwar ‘ausreisepflichtig’, können aber aktuell nicht abgeschoben werden. Die Gründe dafür sind verschieden: zum Beispiel, weil aufgrund der Sicherheitslage im Herkunftsland ein Abschiebestopp besteht, eine schwere Krankheit vorliegt oder schwer zu beschaffene Pässe oder Reisedokumente fehlen.

Die Unterscheidungen sind weiterhin ein mächtiges Instrument der Unterteilung in wirtschaftlich ‘verwertbare’ und ‘überflüssige’ Migrant:innen. So werden bestimmte Gruppen von Migrant:innen als ‘brauchbar’, als ökonomisch wichtig, betrachtet. Insbesondere dort, wo Arbeitskräfte fehlen. Die Arbeitskraft der Gruppe mit einer Aufenthaltserlaubnis wurde um 2015 herum als Konjunkturspritze wahrgenommen. Die andere Gruppe erhielt dagegen ein Arbeitsverbot, wie Menschen aus sogenannten ‘sicheren Herkunftsstaaten’ (§ 29a AsylG). Dazu zählen Länder des ehemaligen Jugoslawien sowie Ghana und Senegal. Das Arbeitsverbot betrifft allerdings nicht nur diesen Personenkreis, sondern alle Geflüchteten, die in einer Aufnahmeeinrichtung leben (§ 61 AsylG).

Diese Aspekte wurden auch von der politischen Idee des bisher juristisch nicht definierten Begriffs der ‘Bleibeperspektive’ beeinflusst. Diejenigen, denen eine ‘Bleibeperspektive’ zugesprochen wird, sollen integriert bzw. gefördert werden. Sie profitieren von den Lockerungen beim Zugang zu Arbeit, Sprachkursen und Bleiberechtsregelungen. Diese Veränderungen sind einerseits positiv. Denn sie verbesserten Mängel beim Zugang zu einer Aufenthalts- und Lebensperspektive für Menschen mit negativem Asylverfahren. Anderseits lebt dieser Diskurs von der Unterscheidung zu den ‘anderen Geflüchteten’, deren Aufenthalt mit der ganzen Härte gesetzlicher Möglichkeiten beendet werden soll. Damit wird der Gesellschaft auch angeboten, es als ‘normal’ zu deuten, wenn Geflüchtete über Jahre in den Mehrbettzimmern kommunaler Sammelunterkünfte wohnen müssen oder monatelang in Abschiebehaft sitzen. In der Missachtung, dass die Betroffenen keinen gesellschaftlichen Schaden verursacht haben. Sie haben nur eine Grenze überquert und sind nicht wieder ausgereist.

Folgen für die Unterbringung

Wie ist die Verbindung zur Unterbringung? Die genannten Aspekte materialisieren sich an den Orten, an denen die Geflüchteten leben. Dort treffen die Gesetze und die Menschen aufeinander. Deshalb ist die Frage der Unterbringung nicht von der Frage der allgemeinen staatlichen Behandlung der Asylsuchenden zu trennen. Diejenigen, die eine Anerkennung bzw. eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, können das System verlassen und sich eine Wohnung suchen. Diejenigen, die zu den herabgestuften Geflüchteten gehören, können es nicht. Für sie veranlasst das Asylgesetz eine Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung von bis zu 18 Monaten. Beim Vorwurf der Verletzung von Mitwirkungspflichten kann dies außerdem verlängert werden. Deshalb wohnt ein Teil der Betroffenen über viele Monate oder auch Jahre in Sammellagern. Das bedeutet: Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsduschen und -toiletten, Arbeitsverbot und Angst vor einer Abschiebung.

„Weiterhin bestimmen Gefühle der Abwertung und die dauerhaften Erfahrungen durch Alltagsrassismus die Lebenswelten der Geflüchteten. Das abzustreiten oder zu relativieren, verweist nicht nur auf einen Mangel an Empathie und Wissen über die gesellschaftlichen Benachteiligungen. Es normalisiert diskriminierende gesellschaftliche Muster.“

Der Einfluss desintegrativer Strategien führt zu psychosozialen Problemen, die häufig ohne ihre politische Bedeutung betrachtet werden. Die schweren Belastungen werden von manchen als psychische Störungen umgedeutet. Dabei sind die Belastungen auch immer eine Konsequenz gesellschaftlicher Verhältnisse, zu denen die Erfahrungen am Ort der Unterbringung zählen. Die Erlebnisse in den Unterkünften können Traumatisierungen verstärken, die vor der Flucht und auf der Flucht erzeugt worden sind. Sie bedeuten starke innere Verletzungen, die sich Außenstehende nicht vorstellen können. Weiterhin bestimmen Gefühle der Abwertung und die dauerhaften Erfahrungen durch Alltagsrassismus die Lebenswelten der Geflüchteten. Das abzustreiten oder zu relativieren, verweist nicht nur auf einen Mangel an Empathie und Wissen über die gesellschaftlichen Benachteiligungen. Es normalisiert diskriminierende gesellschaftliche Muster. Es schreibt sie weiter in die Geschichte ein. Die Umdeutung dieser Aspekte als realpolitische Notwendigkeit oder als nicht veränderbare Realität sichert letztlich den Fortbestand privilegierender und benachteiligender sozialer Verhältnisse.

Corona-Krise verschärft die Situation

Nun kommt die Corona-Krise hinzu. Einige Unterkünfte in Deutschland zeigten deutlich, dass es an einem Schutz vor einer Infektion mangelt. Im baden-württembergischen Ellwangen steckten sich 406 von 600 Bewohner:innen mit dem Virus an; in Bremen 146 von 374 Bewohner:innen; im bayerischen Ankerzentrum Geldersheim 137 von 580 Bewohner:innen. Die Liste geht so weiter.1 Oft werden dann alle Bewohner:innen pauschal unter Quarantäne gestellt, statt auf Evakuierung bzw. räumliche Trennung der Infizierten und ihrer Kontaktpersonen zu setzen. Das stigmatisiert. Es schränkt die Rechte des Einzelnen unverhältnismäßig ein. Dabei wäre es ohnehin vermeidbar, wenn frühzeitig in angemessenen dezentralen Wohnraum verteilt werden würde.

In Flüchtlingslagern besteht ein potentiell erhöhtes Risiko für eine Infektion mit dem neuartigen Corona-Virus. Gelangt das Virus in Aufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünfte der Kommunen, liegt das Ansteckungsrisiko bei 17 %, wie eine Studie der Universität Bielefeld belegt. Das Forschungsteam empfiehlt die dezentrale Unterbringung bzw. Einzelunterbringung in kleineren Wohnformen.2

Das erhöhte Infektionsrisiko haben auch Verwaltungsgerichte erkannt. Sie verpflichteten die zuständigen Behörden per einstweiliger Anordnung zu einer angemessenen Unterbringung.3 Folglich können Betroffene die Einrichtungsleitungen eigenständig, mit Hilfe einer Beratungsstelle oder anwaltlichen Vertretung auf notwendige Verbesserungen der Unterbringung hinweisen. Führt das zu keiner Änderung, kann mit ausreichend begründetem Antrag die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung wohnen zu müssen, beendet werden (§ 49 Abs. 2 AsylG). Wird der Antrag abgelehnt, ließe sich juristisch prüfen, ob ein Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Erfolg versprechen könnte. Es kommt im jeweiligen Fall darauf an, ob die Unterkunft ausreichenden Infektionsschutz ermöglicht. Also ob sich die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts einhalten lassen.

Die Einrichtungen sind kurzfristig gefordert, für ausreichenden Infektionsschutz zu sorgen und Geflüchtete schnell zu verteilen. Sie sollten hierbei die Hintergründe der Betroffenen einbeziehen, wie besonderen Schutzbedarf oder die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe. Bis zur Verteilung sollte die Belegungsdichte verringert werden. Pro Zimmer sollte nur eine Person bzw. eine Familie untergebracht werden.

Außerdem sollten in den Unterkünften Beschwerdestellen eingerichtet und Antidiskriminierungsbeauftragte ernannt werden, an die sich die Bewohner:innen anonym wenden können. Beschwerden sollten dokumentiert werden und zu Verbesserungen führen. Nahezu jede Organisation evaluiert ihre Arbeit, gleich ob sie Schrauben verkauft oder mit Menschen arbeitet. Gemessen an der Bedeutung für die Bewohner:innen gibt es also keine Argumente, die an der Notwendigkeit einer Evaluation zweifeln lassen. Dafür muss die Sicht der Betroffenen erfragt werden. Auch die Einrichtung Runder Tische, zu denen die Geflüchteten angehört werden, sollte selbstverständlich werden. Das ersetzt aber nicht die mittelfristige Abschaffung von Flüchtlingslagern. Es ersetzt nicht die schnelle Unterbringung in Wohnungen und ausreichenden Infektionsschutz.

  1. Bozorgmehr K, Hintermeier M, Razum O, et al. SARS‐CoV‐2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete: Epidemiologische und normativ‐rechtliche Aspekte. Annex. 2020, Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID‐19. Version 1.0, 29.05.2020.
  2. Ebd. S. 1 ff.
  3. Verwaltungsgericht Leipzig (Beschl. v. 22.04.2020, 3L204/20.A), Verwaltungsgericht Dresden (Beschl. v. 3 24.04.2020, 11 L 269/20.A), Verwaltungsgericht Dresden (Beschl. v. 29.04.2020, 13 L 270/20.A), Verwaltungsgericht Chemnitz (Beschl. v. 30.04.2020, 4 L 224/20.A) Verwaltungsgericht Münster (Beschl. v. 07.05.2020, 6a L 365/20), Verwaltungsgericht Münster (Beschl. v. 12.05.2020, 5 L 339/20)
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