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Passport (Symbolfoto) © geralt @ pixabay.com (Lizenz), bearb. MiG

Flüchtlingspolitik

Mit Corona gegen den Familiennachzug?

Seit Beginn der Corona-Krise liegt der Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Geflüchteten weitgehend auf Eis. Das müsste nicht sein. Die Bundesregierung scheint vielmehr die Krise zu nutzen, um den in den letzten Jahren vorangetriebenen Familiennachzugsverhinderungskurs weiter voranzutreiben.

Von Freitag, 15.05.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.05.2020, 18:46 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Am 17. März 2020 ordnete Bundesinnenminister Seehofer „zur Eindämmung der Infektionsgefahren durch das Corona-Virus“ weitgehende Einreisebeschränkungen an den deutschen Schengen-Außengrenzen an. Die Beschränkungen wurden zuletzt, einem Vorschlag der Europäischen Kommission folgend, bis zum 15. Juni verlängert. Nicht-EU-Bürger, die mit dem Flugzeug in Deutschland landen, werden seitdem zurückgewiesen, wenn kein „dringender Einreisegrund“ vorliegt. Enge Familienangehörige in Deutschland und ein gültiges Einreisevisum zum Familiennachzug stellen nach Auffassung des Bundesinnenministeriums (BMI) und der Bundespolizei keinen dringenden Einreisegrund dar. In der Folge können also Familienangehörige, die nach einem jahrelangen Visumverfahren kurz vor Beginn der Krise ein Visum erhalten haben, nicht nach Deutschland einreisen, selbst wenn es ihnen trotz der Einschränkungen im Flugverkehr gelingt, einen Flug nach Deutschland zu buchen.

Abgelaufene Visa werden nicht verlängert

Wenn das Visum abläuft, müssen die Betroffenen einen neuen Visumsantrag stellen. Die Verlängerung von bereits erteilten Visa sei „aus technischen Gründen“ nicht möglich, erklärte das Auswärtige Amt am 6. Mai in seiner Antwort auf eine parlamentarische Frage der Linken-Angeordneten Ulla Jelpke. Die Bundesregierung arbeite aber an einem Verfahren, das ermöglichen soll, die Notwendigkeit einer erneuten persönlichen Vorsprache zu vermeiden, indem das neue Visum auf Grundlage der bereits vorhandenen Visumsakte ausgestellt werden kann – „sofern sich an Einreisegrund und Erteilungsvoraussetzungen nichts geändert hat“.

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In vielen Fällen ist aber der Rechtsanspruch auf Familiennachzug davon abhängig, ob der Antrag bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gestellt worden ist. Beim Ehegatten- und Kindernachzug zu anerkannten Flüchtlingen muss der Antrag binnen drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellt werden, beim Nachzug von Kindern zu ihren Eltern kommt es darauf an, ob das Kind zum Zeitpunkt des Antrags noch minderjährig ist. Die Antwort des Auswärtigen Amtes geht nicht darauf ein, ob fristgerecht gestellte Erstanträge bei einem Neuantrag berücksichtigt werden oder ob in diesen Fällen bei einem Neuantrag der Rechtsanspruch erloschen ist und das Visum wegen „geänderter Erteilungsvoraussetzungen“ nicht mehr erteilt wird.

Familienangehörige, die noch kein Visum erhalten haben, werden noch lange warten müssen: Die Visastellen der deutschen Auslandsvertretungen sind „bis auf Weiteres“ geschlossen. Es werden keine neuen Termine vergeben, keine Visa erteilt. So bleiben Familien, die ohnehin schon unter langen Warte- und Bearbeitungszeiten leiden, noch länger voneinander getrennt. So müssen etwa die Familienangehörigen von subsidiär Schutzberechtigten auch in „normalen“ Zeiten mehr als ein Jahr auf einen Vorsprachetermin warten.

Rechtsanspruch nicht anerkannt – trotz EuGH-Urteil

Besonders dramatisch könnte sich die Situation auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete auswirken, die während den Corona-bedingten Einschränkungen 18 Jahre alt werden. Denn das Auswärtige Amt ist der Auffassung, dass sie ihr Recht auf Familiennachzug mit dem Tag, an dem sie volljährig werden, verlieren. Zwar entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im März 2018 in einem Fall aus den Niederlanden, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auch dann das Recht auf Nachzug ihrer Eltern behalten, wenn sie vor Abschluss des Asylverfahrens volljährig werden. Das Auswärtige Amt ignoriert jedoch weitgehend die europarechtliche Argumentation des Gerichts und behauptet, dass das Urteil für die deutsche Rechtslage nicht gelte.

Die Mutter eines jungen Syrers, die gegen ihren derart begründeten Ablehnungsbescheid klagte, bekam zwar vor dem Verwaltungsgericht Recht – aber das SPD-geführte Auswärtige Amt wollte das Urteil nicht akzeptieren und ging in „Sprungrevision“. Vor wenigen Wochen entschied nun das Bundesverwaltungsamt in dem Fall, nicht selbst zu entscheiden, sondern ihn erneut dem EuGH vorzulegen. Die Kläger – und mit ihnen zahlreiche weitere junge Geflüchtete und deren Familien – werden nun also bis zur künftigen erneuten Entscheidung des EuGH in einem Dauerzustand der Trennung und Ungewissheit über die Zukunft gehalten. Dabei wäre es angesichts der Corona-Krise besonders wichtig, klarzustellen, dass das Recht auf Familiennachzug nicht aufgrund von Umständen verwehrt werden darf, auf die die Jugendlichen und ihre Familien keinen Einfluss haben – wenn z. B. die Eltern nicht vor dem 18. Geburtstag ihres Kindes in Deutschland einreisen können, weil die Auslandsvertretungen geschlossen und Flugverbindungen gestrichen wurden.

Grundrechte gelten auch in einer Pandemie

Das Recht auf Familienleben ist ein Grund- und Menschenrecht, das in Artikel 6 Grundgesetz und in verschiedenen Menschenrechtsdokumenten kodifiziert ist, z. B. in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Artikel 10 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) verpflichtet deren Vertragsstaaten, von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise „wohlwollend, human und beschleunigt“ zu bearbeiten.

Zwar darf der Staat unter bestimmten Umständen Grundrechte einschränken, etwa um die Ausbreitung einer gefährlichen Krankheit wie COVID-19 zu verhindern. Aber: Die Befugnisse des Staates, in Grund- und Menschenrechte einzugreifen, haben auch unter den Bedingungen einer Pandemie Grenzen. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) erläutert:

„Der Staat darf auch in der aktuellen Ausnahmesituation nur in unsere Grundrechte eingreifen, wenn dies verhältnismäßig ist. Es sind also nicht alle Maßnahmen, die zum Infektionsschutz getroffen werden oder theoretisch getroffen werden können, automatisch rechtmäßig. Bei jeder einzelnen getroffene Maßnahme muss der Grundrechtseingriff verhältnismäßig zu dem Zweck sein, den sie verfolgt. Aktuell geht es darum, die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern und damit das Recht bisher nicht infizierter Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz). Generell gilt: Je tiefer der jeweilige Grundrechtseingriff, desto erfolgversprechender und alternativloser muss eine Maßnahme diesem Zwecke dienen. Und das Ziel, die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern, muss nach Möglichkeit durch Maßnahmen verfolgt werden, welche die Grundrechte so wenig wie möglich beschränken. Es geht also immer um eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter.“

Blockierung des Familiennachzugs nicht verhältnismäßig

Die Fragen sollten daher lauten: Sind die Maßnahmen, mit denen der Staat gegenwärtig in das Recht auf Familienleben von in Deutschland lebenden Geflüchteten eingreift, verhältnismäßig? Sind sie geeignet, den behaupteten Zweck – die weitere Ausbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern – zu erreichen? Gäbe es möglicherweise andere Maßnahmen, mit denen dieser Zweck ebenfalls erreicht werden könnte, die aber weniger stark in das Grundrecht der Betroffenen eingreifen?

Nun bin ich weder Jurist noch Virologe. Aber ich habe als Sozialarbeiter in einer Beratungsstelle für Geflüchtete seit Jahren mit Menschen zu tun, deren Leiden an der erzwungenen Familientrennung durch restriktive Gesetze, lange Wartezeiten und behördliche Ablehnungsentscheidungen offenkundig ist. Für sie stellt die Blockierung des Familiennachzugs durch die Maßnahmen der Bundesregierung im Rahmen der Corona-Krise einen schweren Eingriff in ihr Grund- und Menschenrecht auf Familienleben dar.

Dabei erscheint die Blockierung des Familiennachzugs weder verhältnismäßig noch geeignet, den behaupteten Zweck – die weitere Ausbreitung der Krankheit COVID-19 zu verhindern – zu erreichen. Da das Virus sich in Deutschland längst verbreitet hat, machen pauschale Einreisebeschränkungen zum Infektionsschutz keinen Sinn. Der Familiennachzug steht Hygienemaßnahmen, Kontaktbeschränkungen, Corona-Tests und gegebenenfalls Quarantäneauflagen nicht entgegen.

Es gibt Alternativen zum Familiennachzugsverhinderungskurs

Die deutschen Behörden könnten Visa auch ohne Vorsprachetermine erteilen oder diese unter strengen Hygieneauflagen durchführen. Sie könnten den Familiennachzug als wichtigen Einreisegrund anerkennen oder besser gleich die pauschalen Einreisebeschränkungen aufheben. Sie könnten Visa, die z.B. wegen fehlender Flugverbindungen trotzdem nicht genutzt werden können, unbürokratisch verlängern, bis dies wieder möglich ist. Und sie könnten endlich den aktuellen Stand der Rechtsprechung anerkennen, dass unbegleitete Minderjährige auch über ihren 18. Geburtstag hinaus ein Recht auf Familiennachzug haben. Die Rückholaktion des Auswärtigen Amtes für rund 240.000 deutsche Urlauber binnen weniger Wochen zeigt, was mit dem entsprechenden politischen Willen auch beim Familiennachzug möglich wäre.

Doch all das tut die deutsche Bundesregierung nicht. Vielmehr lässt sie auch Angehörige von in Deutschland lebenden Geflüchteten in ihren Herkunftsländern oder in überfüllten Lagern in Transitstaaten wie Griechenland mit katastrophalen hygienischen Bedingungen und mangelndem Zugang zu Gesundheitsversorgung zurück. Vielmehr scheint sie die Corona-Krise aktuell zu nutzen, um den Familiennachzugsverhinderungskurs der letzten Jahre weiter voranzutreiben. Leitartikel Politik

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