Im Angesicht des Krieges
Türkisch-syrische Grenzregion zwischen Hilfsbereitschaft und Ratlosigkeit
In der türkischen Stadt Hatay stammt ein Drittel der Halbmillionenstadt aus Syrien. Und immer mehr Menschen drängen an die Grenze. Die militärische Eskalation hält die Menschen in Atem, dennoch leben sie ihren Alltag – mit Ängsten, Sorgen und Freuden. Ein Bericht aus der Region
Von Jochen Menzel Montag, 02.03.2020, 11:18 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.03.2020, 21:33 Uhr Lesedauer: 12 Minuten |
Wer in diesen Tagen nach Hatay kommt, eine türkische Provinz an der Grenze zu Syrien, wird sich fragen: wie lebt man hier in Nachbarschaft eines fast zehn Jahre dauernden Krieges, der ein ganzes Land verwüstet und Millionen Menschen vertrieben hat? Denn keine 100 km sind Aleppo und auch Idlib entfernt, eine Region, in der sich im Augenblick, wie UNO-Vertreter sagen, eine der größten humanitären Katastrophen nach dem Zweiten Weltkrieg anbahnt. Und wie es in diesen Tagen aussieht, ist eine militärische Konfrontation zwischen Russland und der Türkei zu befürchten.
Krieg, Flüchtlinge und türkische Militäroperationen
Seit Monaten werfen syrische und russische Flugzeuge Bomben ab auf Städte und Dörfer der nordsyrischen Provinz Idlib, auf Marktplätze, Schulen und Krankenhäuser. Eine nach Hunderttausenden zählende Karawane von Flüchtlingen hat sich zur türkischen Grenze aufgemacht. Inzwischen müssen es an die 900.000 Menschen sein, die vor den Bomben geflohen sind, die bei frostiger Februarkälte und Regen in notdürftigen Zelten oder auch unter freiem Himmel ums Überleben ringen. Es wird berichtet von einer Familie, die in ihrem Zelt an giftigen Rauchgasen starb, von Kindern, die in den Armen ihrer Eltern erfroren. Was mit den geschätzten 3 Millionen Menschen der Provinz Idlib geschehen wird, wo sie vorübergehend Sicherheit mit welcher Zukunft finden werden, ist ungewiss.
Eine gewaltige Militärmaschinerie rollt seit Februar aus der Türkei über die Grenze nach Syrien. Die türkische Gesellschaft ist angesichts dieser Eskalation gespalten bis ratlos. Viele verteidigen die Militäroperation als notwendigen Schritt zum Schutz einer wehrlosen Bevölkerung. Die Gegner kritisieren sie als Invasion oder fordern, wie große Teile der sozialdemokratischen CHP Friedensverhandlungen mit dem syrischen Diktator Assad. Die türkischen Intellektuellen schweigen oder fragen – was haben wir dort verloren „ne işimiz var orada“.
Die liberale deutsche Medien-Öffentlichkeit, sollte sie sich überhaupt für Syrien interessieren, kritisiert das türkische Eingreifen als völkerrechtswidrige Invasion auf fremdes Staatsgebiet oder unterstellt Annexionsabsichten. Mitgefühl und Solidarität blieben bisher selektiv bzw. werden oft nur dem Leid der kurdischen Bevölkerungsgruppe in Nordsyrien zuteil. Europa zeigt sich gelähmt angesichts dieses Zusammenbruchs von Zivilisation und Humanität. Es scheint nur zu reagieren, insofern die Türkei von einer neuen „Flüchtlingswelle“ spricht und sie jüngst mit dem Verzicht auf Grenzkontrollen als reale Möglichkeit andeutet.
Das Kulturmosaik Hatay
Von offizieller Seite heißt es, dass allein rund 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei leben. In Hatay, auch unter dem Namen Antakya bekannt, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, soll ein Drittel der Halbmillionenstadt aus Syrien stammen.
Ob Taxifahrer oder Hoteliers, gleich mit wem ich spreche, die Menschen hier betonen ihr Mitgefühl und ihre Bereitschaft zur Hilfe, – und sie sind ratlos. Aber auch Ablehnung und Vorurteile gegenüber den vielen Flüchtlingen klingt an. Es ist zu befürchten, dass sie mit der Eskalation des Krieges, mit weiteren Nachrichten von gefallenen Soldaten steigen wird.
Zur Zeit noch betont man den Willen zum friedvollen Zusammenleben zwischen den Kulturen und Religionen und verweist stolz auf das Vermächtnis der eigenen Geschichte. Denn hier in Hatay, wo das Christentum in der St.-Petrus-Grotte seine erste Kirche gründete – inzwischen auch ein anerkannter Wallfahrtsort -, wo Apostel Paulus weilte und mit Johannes dem Täufer sein Grab hat, gehören heute noch neben dem Gebetsruf des Muezzin die Kirchenglocken zum alltäglichen Sound der Stadt. Eine Synagoge und ornamentreiche Hauseingänge entlang der alten Kurtulus-Straße erinnern an die einst große jüdische Gemeinde. Schließlich wirbt die Stadt gerne mit ihrer Prägung durch die mehr als 3000 Jahren zurückreichende hethitische, persische, griechische und römische Zivilisationen, deren Zeugnisse in dem beeindruckenden neuen archäologischen Museum zu besichtigen sind.
Eine Kriegsstimmung oder gar eine Mobilmachung der öffentlichen Meinung, wie westliche Medien nahelegen, ist bisher nicht zu spüren – sieht man einmal ab von Kindern, die in den grenznahen Dörfern die türkischen Militärkonvois mit Fahnen begrüßen und den Soldaten Tee bringen. Doch die Stimmung kann sich ändern mit der Intensivierung der Kampfhandlungen und dem steigenden Blutzoll, den sie auf türkischer Seite fordern.
Bisher hält man fest an der Alltagsroutine, hier in unmittelbarer Nachbarschaft des Krieges. Die von Istanbul kommenden Flugzeuge sind bis auf den letzten Platz belegt. Türkische Touristengruppen füllen Hotels und edle Restaurants in den restaurierten Stadtvillen, den Konaks. Im weitverzweigten Basar geht man seinen Geschäften nach. Den Valentinstag Anfang Februar schmückte eine riesiges, auch nachts leuchtendes Herz, von der Stadtverwaltung in der Fußgängerzone aufgestellt. Am Wochenende erklingt Musik aus den vielen Bars der verwinkelten Altstadt. Es wird getafelt, gesungen und gefeiert.
Die kulturellen Highlights der Stadt trotz kalter Tage: der berühmte kurdische Musiker Ahmet Aslan konzertierte im Februar, Theateraufführungen mit Publikumsmagneten wie Genco Erkal, Ediz Hun u.a. sind plakatiert. Im März kommt die 4. mehrtägige Buchmesse in die Stadt. Geworben wird mit großen Namen der türkischen Literaturszene, angefangen von Ilber Ortaylı, Ahmet Ümit und anderen.
Doch es gibt auch Ereignisse, die nachdenklich machen, die von der wirtschaftlichen Krise und der Not vieler Menschen erzählen. Dazu gehört der Tod eines Arbeiters, der sich Anfang Februar vor dem Amtssitz des Gouverneurs verbrannte. Er klagte an, dass er von seinem Lohn weder sich und seine Familie ernähren könne. Und dass er mit syrischen Flüchtlingen um Arbeit konkurrieren müsse, die sich zum halben Preis anbieten. Eine bittere Erfahrung, die derzeit viele machen müssen.
Reyhanli, die Stadt an der Grenze
Die Straße von Hatay nach dem rund 40 km entfernten Reyhanli ist wenig befahren. Wir passieren Tumuli, Grabungsorte, deren tausendjährige Funde im archäologischen Museum von Hatay ausgestellt sind. Tieflader mit gepanzerten Armee-Fahrzeugen überholen uns. Der Grenzzaun, der sich wie ein helles Band über die unbewaldeten Erhebungen zieht, rückt näher.
Am Stadtrand von Reyhanlı,- ein Park mit Teich, umgeben von Buden und kleinen Restaurants, trotz Wochenende leer und verwaist. Dahinter, oben am Hang, wieder der Grenzzaun, durch dessen Lücken, wie ich erfahre, täglich bis zu 40 Flüchtlinge aus Syrien kommen. Die Polizei lässt sie gewähren.
Die Hauptstraße ins Stadtzentrum endet an einer Denkmalssäule. Sie erinnert an die über 50 Todesopfer und hunderte Verletzte, die zwei Autobomben an dieser Stelle am 11. Mai 2013 forderten. Ein Taxifahrer erzählt von diesem blutigen Tag und von den Nächten heute. Denn wenn der Verkehr ruht und die Stadt still wird, sind die Flugzeuge über Idlib zu hören, die Bombenexplosionen, das Artilleriefeuer.
Auch Ahmet, der mich durch das Haus und Museum des verstorbenen Schriftstellers, Dichters, Wissenschaftlers Cemil Meriç führt, erinnert sich an diesen Tag, an dem er einen Verwandten verloren hat. Und er zeigt mir Verletzungen an beiden Knien, die von einem zweiten Anschlag stammen. Vor zwei Jahren wurden von Syrien aus an die 70 Raketen abgeschossen, von denen einige die Stadt trafen und ihn Granatsplitter.
Vor dem Rathaus auf dem großen gepflasterten Platz dreht ein kleines syrisches Mädchen mit hellblauem Kopftuch auf neuen Rollschuhen ihre ersten, wackeligen Runden. Auf der Bank, die Mutter mit dem kleinen Bruder. Gegenüber hat ein freundlicher älterer Mann in der frühlingshaften Sonne Platz genommen. Neben ihm ein syrischer Senior, in Şalvar-Hosen und einem Kufiya-Tuch um den Kopf.
So wie die beiden hier friedlich nebeneinandersitzen, so hat man sich in den letzten Jahren aneinander gewöhnt. Mitgefühl, Pragmatismus und das Arabische als gemeinsame Sprache erleichtern das Zusammenleben. Keine Selbstverständlichkeit in einer Stadt, die sich mit den syrischen Flüchtlingen auf 200.000 Einwohner fast verdoppelt hat.
Einige Straßen weiter, ein alter Mann und seine Frau haben ihre Stühle in die Sonne vors Haus gerückt. Hinter ihnen Wäsche auf einer Leine und um sie herum spielende Kinder, die meine Fragen auf Türkisch beantworten können, da sie die Schule besuchen. Sie erzählen, dass sie seit 5 Jahren in dem kleinen einstöckigen Haus leben: 12 Personen, 3 Generationen, 3 Zimmer. Die Kinder lassen sich fotografieren, ihre Großeltern auf den Sonnenstühlen jedoch bleiben beim „Nein“.
Cilvegözü – am türkisch-syrischen Grenzübergang
Wo in der Zeit des visafreien Reiseverkehrs für türkische und syrische Staatsbürger bis zum Beginn des Krieges reges Leben herrschte, ist jetzt Stille eingekehrt. Bis auf tägliche Hilfslieferungen, die LKWs heranschaffen und auf syrische Fahrzeuge umgeladen werden, bleibt die Grenze geschlossen, bis jetzt.
Auf einem Parkplatz vor dem Grenzzaun ist ein riesiger Lkw des türkischen Fernsehens für Livetalks aufgebaut, daneben die türkischen TV Sender von CNN, „Habertürk“ und anderen mit ihren Übertragungswagen, Kameraleuten, Redakteuren. Sie alle warten auf Nachrichten. Zwei Hirtenjungen treiben ihre Schafherde vor dem Grenzzaun zum Grasen auf den Hang gegenüber. Ein Hubschrauber kommt aus Syrien herüber. Die Reporter sagen, dass er verwundete Soldaten in die nahen Krankenhäuser bringt. Sie alle gehen davon aus, dass sich mit der von Präsident Erdoğan für Ende Februar angekündigten Militäroffensive zur Rückeroberung der verlorenen Kontrollposten die Lage zuspitzen wird.
Zwischen Hatay und Samandağ – Meinungen zum Krieg um Idlib
Mein Besuch des Innenhofs der katholischen Kirche in Hatay fällt auf den Zeitpunkt der sonntäglichen Messe, die um 17 Uhr beginnt. Ich werde freundlich eingeladen in einen kleinen Versammlungsraum, in dem sich rund 50 Gemeindemitglieder eingefunden haben. Der Priester, der aus Italien stammt, versieht hier seit fast 30 Jahren seinen Dienst. Die Messe wird auf Türkisch gehalten, ein Teil der Predigt auf Arabisch.
Danach gehen wir in den Innenhof. Salep wird gereicht, ein süßes, heißes Milchgetränk, das gut tut an diesem ungewöhnlich kalten Tag. Als ich auf die Entwicklung in Idlib und Aleppo zu sprechen komme, tritt ein älteres Gemeindemitglied an mich heran und sagt, dass der Krieg bald vorbei sei: Aleppo mit Idlib würden gerade befreit. Er war ein wohlhabender Geschäftsmann, der sowohl in Aleppo als auch in Hatay Besitz hat. Zusammen mit seiner Tochter, die auch mit ihren Kindern am Gottesdienst teilnahm, gehört er zu den privilegierten Flüchtlingen, die dem Krieg in Syrien hier in Hatay ausweichen konnten. Seine Sympathie für Assad, ein Standpunkt den nicht nur die privilegierten Christen teilen.
Eine halbe Stunde Fahrt von Hatay entfernt liegt Samandağ, früher das antike Seleuka, die Hafenstadt von Antakya. In dem Hotel, in dem wir übernachten, läuft das syrische Staatsfernsehen. Die Bevölkerung der Stadt besteht aus Christen und vor allem arabischen Alewiten, die wenig mit dem anatolischen Alewitentum gemeinsam haben. Sie fühlen sich Assad verbunden. Denn auch er und seine Familie gehören der Glaubensgemeinschaft der Alewiten an, die ihr Zentrum im nur 100 Kilometer entfernten Latakia, türkisch Laskiye, haben. Und man unterstreicht die Gemeinsamkeiten auch damit, dass Assads Großvater aus Samandağ stamme. Sie vertreten den Standpunkt, dass der Bombenkrieg der russischen und syrischen Flugzeuge gegen die Bevölkerung Idlibs ein Befreiungskrieg von islamistischen Terroristen sei und der nun seit 9 Jahren andauernde Krieg das Werk der amerikanisch-israelischen Imperialisten.
Ähnliches hören wir in Harbiye, der Stadt oberhalb von Hatay, mit seinen im Sommer erfrischenden Wasserfällen und Teegärten. Auch hier gehört die Bevölkerungsmehrheit zur arabisch-alewitischen Gemeinschaft. In ihren Augen ist Assad ein tapferer Herrscher, der das Land nicht verlässt und den Kampf bis zum Siege führen wird. Und wie in Samandağ sind syrische Flüchtlinge hier nicht willkommen, man würde sie hier nicht dulden.
Spuren des Krieges im Alltag
Das Kriegsszenario in Idlib wechselt täglich, eine Feuerpause ist nach den ergebnislosen türkisch-russischen Gesprächen in Ankara nicht in Sicht. Das in den letzten Februartagen täglich intensivierte russisch-syrische Bombardement rückt näher und ist nun auch in Samandağ zu hören.
Die Folgen des Krieges werden spürbarer in der Region, sie dringen in die Poren des Alltags ein. Nach dem Tod von mehreren Soldaten der türkischen Armee hat die Regierung eine Nachrichtensperre aus dem Kampfgebiet verhängt. Der jeden Freitag in Hatay auftretende Chor der Zivilisationen (Medenyetler korusu), der sich international mit Musikwerken alewitisch-sunnitischer, jüdischer und christlicher Herkunft einen Namen machte, verkürzte sein letztes Freitags-Konzert auf eine symbolische halbe Stunde und gedachte am Ende der gefallenen Soldaten.
Als einige Tage danach ein Panzerkommandant aus Samandağ durch einen Bombenangriff getötet wird, verwandelte sich seine Heimatstadt in ein Flaggenmeer und verharrt in leiser Trauer. Im Haus der Familie des gefallenen Soldaten finden 3 Tage lang die Kondolenzfeierlichkeiten (taziye) unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Ein Zelt ist im Innenhof errichtet. Menschen strömen zu den Beileidsbekundungen und Gebeten, die von einem alewitischen Scheihk geleitet werden.
Zivilisation und Krieg, ein Zwillingspaar?
Die Eindrücke, die ich in den vergangenen Wochen gewinnen konnte, sind ob ihrer Gegensätzlichkeit verstörend. Sie lassen vermuten, dass Krieg und Zivilisationen, Hochkultur und Barbarei ein unzertrennbares Zwillingspaar sind. Denn auch hier wie in den anderen syrischen Grenzregionen von Gaziantep bis Harran bei Urfa, von Nusaybin bis Cizre, die wir unter dem Begriff Mesopotamien kennen und häufig als Wiege der Menschheitszivilisationen bezeichnen, werden wir Zeuge eines Krieges, der Jahrhunderte gelebte Traditionen und ihre Geschichte mit unvorstellbarer Brutalität zerstört.
Krieg und Zivilisation, ein tragisches Zwillingspaar, das schwer zu verstehen ist.
Als ich Hatay verlasse, denke ich zurück an den Besuch im Hause des Schriftstellers Cemil Meriç aus Reyhanlı und seine Worte, die er wohl auch angesichts der leidvollen Erfahrungen von Krieg und Tod schrieb. Man sollte sie als Friedensbotschaft lesen, die dringlicher nicht sein könnte.
„Ich schwöre, dass kein Flecken auf dieser Erde es wert ist, dass auf ihn auch nur ein Tropfen Menschenblut fällt“. („Yemin ederim ki dünyanin bütün toprakları bir tek insanin kanını akıtmaya değmez.“) Aktuell Ausland
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