Ulla Jelpke (Die Linke), innenpolitische Sprecherin © linksfraktion.de / Zeichnung MiG
Ulla Jelpke, Die Linke, Linke, Innenpolitik, Bundestag, Abgeordnete

Überraschende Zahlen

Die fatale Fixierung auf Abschiebung

Mit dem Kopf gegen die Wand: „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“ – Überraschende Zahlen und Erkenntnisse zur Abschiebungspraxis der Bundesländer. Ein Gastbeitrag von Ulla Jelpke

Von Freitag, 20.12.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 11.01.2020, 22:30 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Im Herbst 2016 hatte Bundeskanzlerin Merkel die Devise ausgegeben, das Wichtigste sei nun „Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung“. Ihr liberales Image einer „Flüchtlingskanzlerin“ wollte sie damit aus wahltaktischen Gründen korrigieren, unter den Folgen ihres Abschiebungsmantras leiden Geflüchtete bis heute: Zahlreiche Gesetzesverschärfungen wurden beschlossen, Abschiebungen erfolgen meist unangekündigt, immer mehr Menschen werden inhaftiert, um sie außer Landes zu schaffen. Selbst in Kriegsregionen wird abgeschoben und immer häufiger kommt es zum Einsatz staatlich legitimierter Gewaltmittel (Fesselungen, Handschellen usw.). Grundrechte der Betroffenen und der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden in der Abschiebungspraxis verletzt, etwa wenn Familienangehörige voneinander getrennt oder physisch bzw. psychisch kranke und behandlungsbedürftige Menschen aus dem Krankenhaus heraus abgeschoben werden.

Nachdem auf der Bundesebene die Rechtslage über die Grenze des unions- und verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus verschärft wurde, um Abschiebungen zu erleichtern, werden nun die Bundesländer unter Druck gesetzt, diese Möglichkeiten, etwa zur erleichterten Abschiebungshaft, auch zu nutzen. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte in einer Regierungsbefragung im Bundestag im Oktober 2019 erklärt, er habe seinem Haus den Auftrag gegeben, bis zur nächsten Innenministerkonferenz Anfang Dezember detailliert aufzulisten, „in welchen Bundesländern wie viele Ausreisepflichtige sind, aus welchen Ländern sie kommen, in welche Länder sie zurückzuführen sind und ob es Hinderungsgründe gibt“. Laut den Ergebnisprotokollen dieser Innenministerkonferenz hat es eine solche Analyse der Abschiebungspraxis der Bundesländer aber offenbar nicht gegeben.

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Dabei lohnt sich ein genauerer Blick auf diese Zahlen, denn er offenbart überraschende Erkenntnisse! Die Vermutung jedenfalls, eine besonders strenge Abschiebungspolitik würde zu einer Verringerung der Zahl der Ausreisepflichtigen in diesen Bundesländern führen, ist falsch. Die Zahlen, die Minister Seehofer zusammentragen lassen wollte, liegen nämlich längst vor, infolge regelmäßiger Anfragen der Linksfraktion im Bundestag. Den Antworten der Bundesregierung (hier, hier (Fragen 18 und 32), hier und hier (Fragen 8 und 9)) lassen sich die Zahlen zu Ausreisepflichtigen, nach Bundesländern und wichtigsten Herkunftsstaaten differenziert, entnehmen, ebenso die Zahl der Geduldeten und der Duldungsgründe sowie der Abschiebungen und Ausreisen. Allerdings ist diese Zahlenbasis zum Teil sehr wackelig: „Freiwillige“ Ausreisen etwa werden immer noch nur unzureichend erfasst (nur wenn sie mit Bundesmitteln finanziell gefördert werden), und die Angaben des Ausländerzentralregisters (AZR) zu Ausreisepflichtigen sind unzuverlässig und überhöht, immer wieder müssen die nominell zu hohen Zahlen bereinigt werden1.

Eine Auswertung der verfügbaren Zahlen zum Stand Ende 2018 bzw. Mitte 2019 zur Abschiebungspraxis der Bundesländer ergibt (wenn die Halbjahreswerte 2019 auf das Gesamtjahr hochgerechnet werden):

Während bundesweit die Zahl der Abschiebungen im ersten Halbjahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um 2,6 Prozent zurückging, gab es in vier Bundesländern mehr Abschiebungen: Fast erwartungsgemäß war dies Bayern (+5,8 Prozent), aber auch Nordrhein-Westfalen (+5,8 Prozent), Schleswig-Holstein (+14,8 Prozent) und das Saarland (+21,3%) verzeichneten einen Anstieg, wobei die absoluten Zahlen hinsichtlich der beiden zuletzt genannten Bundesländer gering sind (zur Orientierung: 2018 schob Bayern 3.295 Menschen ab, in Nordrhein-Westfalen waren es 6.603, in Schleswig-Holstein 392 und im Saarland 188 Menschen).

Zugleich gab es nur zwei Bundesländer, in denen die Zahl der Ausreisepflichtigen von Ende 2018 bis Mitte 2019 zurückgegangen ist, nämlich Berlin (-3,3 Prozent) und Sachsen-Anhalt (-1,9 Prozent). Das waren gerade nicht die Länder, die besonders rigide abgeschoben haben. Im Gegenteil, in Sachsen-Anhalt ist die Zahl der Abschiebungen deutlich überdurchschnittlich um 28,5 Prozent zurückgegangen, in Berlin um 8,3 Prozent. Bundesweit gab es einen Anstieg der Zahl der Ausreisepflichtigen bis Mitte 2019 um 4,5 Prozent auf insgesamt 246.737 Menschen. Die beiden größten Betroffenengruppen sind Geflüchtete aus Afghanistan und dem Irak, denen kein Schutzstatus zuerkannt wurde (jeweils etwa 20.000). Zur Erinnerung: Die vom Bundesinnenministerium für viel Geld (Tagessatz pro Berater: 2.700 Euro) engagierte Beratungsfirma McKinsey hatte Ende 2016 grottenfalsch einen Anstieg der Zahl der Ausreisepflichtigen auf knapp 500.000 schon für Ende 2017 prognostiziert – und damit indirekt die irreale Zahlengrundlage für nachfolgende Gesetzesverschärfungen geliefert.

Zurück zur Empirie: In den beiden Bundesländern mit einem überdurchschnittlich starken Anstieg der Abschiebungszahlen Schleswig-Holstein und Bayern ist auch die Zahl der Ausreisepflichtigen überdurchschnittlich stark angestiegen (jeweils um etwa 11 Prozent).  Umgekehrt lässt sich feststellen, dass in den beiden einzigen Bundesländern mit rückläufigen Zahlen Ausreisepflichtiger Berlin und Sachsen-Anhalt die Zahl der Abschiebungen überdurchschnittlich stark zurückgegangen ist (s.o.). Und in den Bundesländern mit den am stärksten zurückgehenden Abschiebungszahlen (Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt) wiederum ist die Zahl der Ausreisepflichtigen unterdurchschnittlich angestiegen oder sogar zurückgegangen. Ergebnis: Den allgemein vermuteten oder behaupteten Zusammenhang, mit besonders vielen Abschiebungen ließe sich die Zahl der Ausreisepflichtigen wirksam reduzieren, gibt es somit in der Realität nicht – es verhält sich empirisch betrachtet sogar genau umgekehrt!

Dieser überraschende Befund bedarf der Erklärung. Generell muss an dieser Stelle erneut auf die begrenzte Aussagekraft der Daten des Ausländerzentralregisters (AZR) hingewiesen werden. So ist bei etwa 40 Prozent aller erteilten Duldungen der genaue Grund hierfür gar nicht bekannt („sonstige Gründe“). Und wenn „fehlende Reisedokumente“ von den Behörden ins AZR eingegeben wurde (etwa 42 Prozent), bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass dies der ursächliche Grund dafür ist, warum nicht abgeschoben wird. Wenn etwa die meisten Ausreisepflichtigen aus Afghanistan derzeit nicht abgeschoben werden, dann nicht, weil keine Reisedokumente vorliegen, sondern weil es eine politische Rücksichtnahme auf die kriegerische Situation im Herkunftsland gibt – auch wenn dieser Grundsatz nur mit Ausnahmen und in bestimmten Bundesländern gar nicht mehr gilt. Zudem sagt die Kategorie der „Ausreisepflicht“ im AZR nichts darüber aus, ob die betroffene Person abgeschoben werden darf oder nicht. Denn auch alle Geduldeten (mehr als drei Viertel aller Ausreisepflichtigen) gelten als ausreisepflichtig, obwohl ihnen vielfach eine Duldung erteilt wurde, weil sie nicht abgeschoben werden sollen oder dürfen: sei es wegen einer begonnenen Ausbildung, wegen eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses oder wegen humanitärer Gründe im Einzelfall. Die Zahlen der Bundesländer können schließlich auch deshalb nicht ohne Weiteres miteinander verglichen werden, weil sich die jeweils wichtigsten Herkunftsländer der dort lebenden Ausreisepflichtigen deutlich voneinander unterscheiden: In vier Bundesländern (und auch bundesweit) steht Afghanistan an erster Stelle der wichtigsten Herkunftsstaaten: Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Der Irak ist in Niedersachsen und Thüringen, Indien in Sachsen und Sachsen-Anhalt und Serbien in Bremen und Nordrhein-Westfalen wichtigstes Herkunftsland von Ausreisepflichtigen; Gambia ist es in Baden-Württemberg, Nigeria in Bayern, Russland (Tschetschenien) in Brandenburg und die Ukraine in Mecklenburg-Vorpommern. Eine „ungeklärte“ Staatsangehörigkeit dominiert bei Ausreisepflichtigen in Berlin (vermutlich viele staatenlose Palästinenserinnen und Palästinenser) und im Saarland ist Syrien das wichtigste Herkunftsland Ausreisepflichtiger – was darauf verweist, dass es bei einem guten Drittel aller Abschiebungen um Überstellungen in andere EU-Mitgliedstaaten im Rahmen des Dublin-Systems geht.

Alle diese Einschränkungen vorweggenommen lässt sich dennoch als eine mögliche Erklärung für den oben beschriebenen Befund nennen: Die politisch gewollte Fixierung auf Abschiebungen, die in den Bundesländern unterschiedlich stark ausgeprägt ist, lässt offenkundig andere Handlungsoptionen in den Hintergrund treten. Das gilt einerseits für die Förderung einer „freiwilligen“ Rückkehr zur Vermeidung von Abschiebungen – wobei betont werden muss, dass die wenigsten dieser Ausreisen tatsächlich auf „Freiwilligkeit“ im Wortsinne beruhen. Andererseits geraten die Möglichkeiten einer Aufenthaltsverfestigung aus dem Blick, die das geltende Aufenthaltsgesetz ebenso bietet, etwa aus humanitären Gründen oder zur Beendigung langjähriger Kettenduldungen bei faktischer Unmöglichkeit der Abschiebung/Ausreise. Diese Regelungen des Aufenthaltsrechts (z.B.: §23a, §25 Abs. 4 und 5, §25a/b oder §60a AufenthG – Stichwort Ausbildungsduldung) können von den Bundesländern restriktiv oder großzügig gehandhabt werden, und am Beispiels Bayerns lässt sich sehr gut illustrieren, welche Auswirkungen dies in der Praxis hat: Hier werden junge Menschen nach Afghanistan abgeschoben, denen in anderen Bundesländern eine Ausbildungsduldung oder ein humanitärer Status erteilt worden wäre. In Bayern ist auch der Anteil von Ausreisepflichtigen besonders hoch, die über keine Duldung verfügen, d.h. insgesamt wird den hier lebenden abgelehnten Flüchtlingen eine mögliche Aufenthaltsverfestigung enorm erschwert. Statt die Menschen arbeiten und ankommen zu lassen, werden sie mit einem Arbeitsverbot belegt und mit Abschiebung bedroht. Geholfen ist damit niemandem.

Die Bundesländer haben also die Wahl: Wollen sie nach dem Mantra „Abschiebung, Abschiebung und nochmals Abschiebung“ Menschen mit aller Gewalt in eine oft ausweglose Notlage schicken – mit dem Effekt, dass nicht wenige von ihnen später erneut nach Deutschland fliehen, wo sie dann wegen des Wiedereinreiseverbots inhaftiert, zurückgeschoben und/oder strafrechtlich verfolgt werden? Oder wollen sie die Möglichkeiten nutzen, um Menschen, die oft schon seit Jahren in Deutschland leben, ein humanitäres Bleiberecht zu erteilen? Eines jedenfalls ist klar: Die von der Bundeskanzlerin vorgegebene Abschiebungslinie wird zwar viel menschliches Leid und Elend erzeugen, sie wird aber die dem Phänomen der Ausreisepflicht zugrunde liegenden Probleme und Aufgaben nicht lösen. Ein politisches Umdenken in der Flüchtlingspolitik ist deshalb dringend erforderlich. Humanität und Menschenrechte müssen die zentralen Begriffe in der Asylpolitik werden, mit der fatalen Fixierungen auf Abschiebungen muss Schluss sein.

  1. Zur Veranschaulichung: Nach der Überprüfung aller Akten Ausreisepflichtiger in Hessen im Herbst 2017 waren nur 63% der überprüften Personen tatsächlich ausreisepflichtig und noch im Land (Frage 34); Ende 2009 stellte sich heraus, dass 40.000 von angeblich 70.000 Ausreisepflichtigen ohne Duldung nicht ausreisepflichtig im Rechtssinne waren (Frage 25).
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  1. Inge Bartke-Anders sagt:

    Ausreisepflicht: In den letzten Tagen fiel mir in den Dlf – Nachrichten besonders auf, dass ein krasses Missverhältnis besteht zwischen der geplanten u. erwünschten Anwerbung ausländischer Fachleute , denen von vornherein so viele Angebote u. Erleichterungen geboten werden u. den vielen „Abschiebepflichtigen „/ jungen Menschen, die bereits hier sind, bleiben möchten, denen Vieles verwehrt wird – schon die Wartezeit, bis sie mal deutsch lernen „dürfen“. Geht es in den empfangsbereiten Städten vielleicht rascher? Der Arbeitskräftemangel auch in handwerklichen Berufen spricht doch klar dafür, hier zielstrebig auszubilden. Gelder für berufliche Ausbildung statt der steigenden Ausgaben für Rüstung u. Militär „konvertieren“!