Das Gästezimmer
Es war einmal die offene Grenze
Die Aussetzung des Schengen-Abkommens ist keine Ausnahme mehr, sondern mittlerweile Normalität. Auch Deutschland trägt Verantwortung dafür, dass einer der EU-Eckpfeiler nur noch auf dem Papier steht.
Von Francesca Polistina Freitag, 14.06.2019, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.06.2019, 12:46 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Es gibt ein Thema, das für meinen Geschmack zu selten angesprochen wird: das Scheitern des Schengen-Abkommens, zumindest in seiner symbolischen Kraft. Zwar betonen Politiker immer wieder, was für eine tolle und revolutionäre Erfindung die Personenfreizügigkeit innerhalb der Union sei – dass aber genau diese Personenfreizügigkeit beeinträchtigt ist, weil einige Länder seit Jahren wieder Kontrollen an den Binnengrenzen durchführen, wird kaum betont. Schließlich gehören auch Länder wie Deutschland und Frankreich dazu, und die sind groß, wichtig und vor allem pro-europäisch – zumindest auf dem Papier.
Unter den Eckpfeilern der EU ist der freie Grenzverkehr schon immer am umstrittensten gewesen, mit der Zeit erlangte sie zudem symbolische Bedeutung. Für ungefähr ein Viertel Jahrhundert stand Europa für offene Grenzen und freie Bewegung. Dass es sich nun geändert hat, liegt vor allem an dem Vertrauensverlust zwischen Nachbarländern und an dem politischen Bedürfnis, Souveränität zu zeigen.
Zum Beispiel Deutschland: Als Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 beschloss, seine Grenze nicht zu schließen und damit eine Million Flüchtlinge aufzunehmen, die quasi vor der Tür standen, traf die Regierung eine Entscheidung, die den politischen Diskurs bis heute beeinflussen sollte. Von den Umständen gezwungen handelte Merkel de facto pro-europäisch: sie hielt am Schengen-System fest, ließ Österreich nicht im Stich und sie erkannte, dass die Dublin-Verordnung in diesem Fall nur schwer umsetzbar war.
Die harsche Kritik an der Regierung führte letztendlich zu einem Umdenken, dessen Ziel es war, das Image der Kanzlerin in zu retten. Die Kontrollen an der Grenze zu Österreich wurden wiedereingeführt und seitdem nicht mehr aufgehoben. Die Aussetzung des Schengen-Abkommens, die eigentlich als temporäre Maßnahme gedacht war, wurde zur Normalität.
Auch das Frankreich von Macron, das immer wieder als Hoffnungsträger des europäischen Denkens präsentiert wird, hat die Grenzkontrollen nie wieder abgeschafft. Eingeführt wurden sie nach den Pariser Anschlägen vom November 2015, seitdem besteht laut Regierung „eine akute Terrorgefahr“. Neben Deutschland und Frankreich führten auch Österreich, Dänemark und Schweden Grenzkontrollen ein, die alle sechs Monate verlängert werden. Die maximale Gesamtdauer von zwei Jahren ist längst überschritten, eine Trendwende ist dennoch nicht in Sicht.
Der EU-Kommissar für Migration, Dimitris Avramopoulos, hat die Länder mehrmals aufgefordert, ihre Grenzkontrollen aufzugeben. Die Gründe, die zur Einführung geführt hätten, existierten nicht mehr: die Außengrenzen seien inzwischen besser gesichert und es kämen weniger Flüchtlinge an. „Wenn Schengen aufhört zu existieren, wird Europa sterben“, betonte er. Außerdem sei es „sehr naiv“ zu glauben, dass Grenzkontrollen mehr Sicherheit brächten.
Innenminister Seehofer, Vertreter einer Partei, die viele Wähler an die AfD verloren hat, sieht das anders. Er muss Härte zeigen: „Solange die Europäische Union die Außengrenzen nicht schützt – und so sieht es nicht aus –, kommen wir an einer weiteren Fortführung der Grenzkontrollen nicht vorbei“, sagte er im März. Vor kurzem hat Deutschland die Grenzkontrollen zu Österreich um weitere sechs Monate, bis November, verlängert. Ob das wirklich notwendig ist, in Anbetracht der Tatsache, dass Österreich seine Grenzen schon kontrolliert?
Das Thema der Kontrollen an den Binnengrenzen ist ein typisches Beispiel der Doppelmoral, die in Europa kursiert. Einerseits präsentieren sich Deutschland und Frankreich als Verteidiger der Europäischen Union – vor allem wenn es darum geht, sich von rechtspopulistischen Regierungen aus Osteuropa oder Italien abzugrenzen –, andererseits betreiben sie de facto eine Politik, die vor allem dazu dient, die eigenen Interessen zu schützen und die Wähler daheim zu befriedigen, insbesondere in Sachen Migration. Mit den Visionen von Robert Schumann und Jean Monnet, die zur Entstehung des Bündnisses führten, hat diese Politik aber wenig zu tun. Aktuell Meinung
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„Statt auf Abschreckung und Abschiebung zu setzen, muss die Bundesregierung endlich Fluchtursachen bekämpfen, angefangen mit einem Stopp von Rüstungsexporten in Kriegs- und Krisengebiete über die Beseitigung einer ungerechten Handelspolitik bis hin zur schnellen Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung des weltweiten Klimawandels“, erklärt Carlotta Conrad, Mitglied im Vorstand der IPPNW.