Schwarz, arm, in Gefahr
Opfer der alltäglichen Gewalt in Brasilien sind oft Afrobrasilianer
In den Straßen Brasiliens herrscht Gewalt. Dabei sind die Täter nicht selten Polizisten und die Opfer häufig schwarz. Eine Besserung ist nicht in Sicht - eher im Gegenteil. Von Andreas Behn
Von Andreas Behn Mittwoch, 01.08.2018, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 01.08.2018, 19:29 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der 14-jährige Marcus Vinicius da Silva war auf dem Weg zur Schule, als ihn die tödliche Kugel traf. „Haben sie meine Schuluniform nicht gesehen?“ fragte er verzweifelt seine Mutter, bevor er in der Notaufnahme starb. Bruna Silva ist sich sicher, dass der Schuss aus einem Polizeiauto abgefeuert wurde. Am diesem Morgen Ende Juni unternahm die Polizei einen Großeinsatz in dem Armenviertel Maré in Rio de Janeiro und lieferte sich heftige Schießereien mit Drogengangs. Mehrere mutmaßliche Kriminelle wurden erschossen – und Vinicius. Er war schwarz und arm, entsprechend hoch war sein Risiko.
Jeden Tag werden in Brasilien nach UN-Angaben 31 Kinder und Jugendliche getötet. Dabei liegt die Gefahr eines gewaltsamen Todes für schwarze Minderjährige dreimal höher als für weiße. Kriminalität und tödliche Gewalt gehören sowohl in den Städten als auch auf dem Land zum Alltag. Die Debatte um öffentliche Sicherheit wird die Wahl im Oktober mitbestimmen. Die einstige Olympiastadt Rio de Janeiro ist nach einer missglückten Befriedung wieder zu einem Negativbeispiel geworden: Von Januar 2016 bis März 2017 tötete die Polizei laut offiziellen Zahlen 1.277 Menschen, knapp 90 Prozent von ihnen waren Afrobrasilianer.
Die Kriminalwissenschaftlerin Vera Malaguti erklärt das ständig hohe Gewaltniveau mit der Geschichte Brasiliens. „Zuerst die Kolonisierung und dann Jahrhunderte Sklaverei – die Brasilianer sind durch diese Unterdrückungsverhältnisse geprägt.“ Im Jahr 1500 kamen die ersten portugiesischen Seefahrer, aber erst 1888 wurde die Sklaverei abgeschafft. „Deswegen sind Rassismus und tiefsitzende Vorurteile bis heute ein Merkmal der brasilianischen Gesellschaft.“
Afrobrasilianer machen etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, aber ihr Anteil an den extrem Armen liegt bei über 70 Prozent. Etwa 40 Prozent der Schwarzen gehören zum ärmsten Drittel der Gesellschaft. Extreme soziale Ungerechtigkeit und Angst sind Folgen der Geschichte. „Früher gab es Angst vor einer Rebellion der Schwarzen, heute ist es die Angst vor Verbrechen. Davor, dass die Armen die Favelas verlassen und der Mittelschicht ihre schicken Stadtviertel streitig machen, sagt Malaguti.
Dieser Hintergrund erklärt Malaguti zufolge, weshalb die öffentliche Sicherheit in Brasilien nicht auf die Vermeidung von Verbrechen ausgerichtet ist, sondern darauf, mutmaßliche Verbrecher unschädlich zu machen. Für die Soziologin, die an der Universität des Staates Rio de Janeiro lehrt, ist „die Sicherheitspolitik von einer Kriegslogik dominiert“. Schon bei kleinen Überfällen auf der Straße werde scharf geschossen. Und die Medien applaudierten, statt zu hinterfragen, warum sich die Gewaltspirale immer weiter drehe.
Das Institut für Kriminologie, das Malaguti leitet, warnt inzwischen auch vor einer Zunahme politischer Gewalt. Anlass ist die Ermordung der linken Stadtverordneten Marielle Franco im März in Rio. Bis heute haben die Ermittler keine Verdächtigen präsentiert. „Es ist anzunehmen, dass die Auftraggeber aus der Politik stammen, sonst wären sie jetzt schon bekannt“, mutmaßt Malaguti. Vielen war die Afrobrasilianerin Franco ein Dorn im Auge, da sie immer wieder tödliche Polizeieinsätze in Armenvierteln und auch den Einsatz des Militärs anprangerte.
Auch das politische Panorama in Brasilien ist für Malaguti Anlass zur Sorge. Seit dem umstrittenen Regierungswechsel 2016, bei dem die Linkspolitikerin Dilma Rousseff abgesetzt und durch eine rechtskonservative Regierung ersetzt wurde, hätten Unsicherheit und Intoleranz unter den Brasilianern zugenommen: „Plötzlich sind wieder autoritäre Tendenzen zu spüren. Es ist erschreckend, dass bei einigen Demonstrationen eine Rückkehr zur Militärdiktatur gefordert wird.“
Im Oktober wird ein neuer Präsident gewählt. Rousseffs Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva führt in Umfragen mit großen Abstand, sitzt jedoch wegen Korruption im Gefängnis. Zweitplatzierter ist der Ex-Militär Jair Bolsonaro, der immer wieder mit rassistischen und frauenfeindlichen Sprüchen auffällt. „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit“, lautet sein Credo. Malaguti bezeichnet Bolsonaro als faschistisch. „Er ist genau die falsche Antwort auf die gewalttätige Krise, die Brasilien derzeit durchlebt.“ (epd/mig) Aktuell Ausland
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