Die Irrfahrt des St. Louis
Als deutsche Juden in Amerika nicht an Land durften
27. Mai 1939. Der Dampfer St. Louis in der Bucht von Havanna. Am Bord befinden sich 937 Flüchtlinge, fast alle deutsche Juden. Sie fliehen vor dem Nazi-Regime. Erst verweigert Kuba dem Schiff die Einfahrt, dann die USA. Eine Geschichte, die an Rettungsschiffe im Mittelmeer erinnert.
Von Francesca Polistina Freitag, 06.07.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.07.2018, 17:43 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Es gibt manchmal Geschichten, die plötzlich wieder auftauchen und über die Gegenwart mehr sagen als jeder Kommentar von Politikern oder Journalisten. Sie erzählen von politischen Fehleinschätzungen, vom menschlichen Verhalten in Krisensituationen, von diplomatischen Engpässen in der Vergangenheit. Sie sagen etwas aus über die Nachkommenden: erinnern sie sich daran oder haben sie es vergessen? Eine von diesen Geschichten, die heute mehr denn je aktuell erscheint, ist die der St. Louis.
Hamburger Hafen, Mai 1939. Der Hapag-Dampfer St. Louis fährt von der Hansestadt in Richtung Westen ab. Am Bord befinden sich 937 Passagiere, fast alle deutsche Juden, die eine der allerletzten Chancen zu nutzen versuchen, aus dem Dritten Reich auszuwandern und damit dem Nazi-Regime zu entkommen. Ihr Ziel: Havanna auf Kuba. Dort wollen sie abwarten, bis sie ein Visum für die USA bekommen.
Die Ozeanüberquerung läuft gut und am 27. Mai, gut zwei Wochen nach der Abfahrt von Hamburg, geht die St. Louis in der Bucht von Havanna vor Anker. Doch hier beginnt die Odyssee. Die kubanischen Behörden verweigern den Passagieren trotz zuvor erteilten Touristenvisa die Einreise, lediglich 29 Personen dürfen nach langen Verhandlungen mit dem Kapitän Gustav Schröder das Schiff verlassen. Der Grund dafür ist bis heute nicht klar, vielleicht wegen eines innerpolitischen Machtkampfs, vielleicht wegen des wachsenden Antisemitismus in der kubanischen Öffentlichkeit, die in den Flüchtlingen Konkurrenten für die wenigen Arbeitsplätze sieht. Fakt ist, dass die St. Louis unwillkommen ist, am 2. Juni muss sie wieder abfahren. Nun wohin?
Migrantenquoten schon erreicht
Der Kapitän leitet das Schiff in Richtung Norden und zusammen mit jüdischen Organisationen bittet er den US-Präsidenten Franklin Roosevelt um Hilfe. Tatsächlich berichten viele US-Medien wohlwollend über die Irrfahrt der St. Louis, allerdings sind nur wenige der Meinung, dass den Flüchtlingen die Einreise bewilligt werden sollte.
Die durchaus strengen Migrantenquoten für das Jahr 1939 sind schon erreicht worden, die Bürger haben noch mit den Folgen der Great Depression und der Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen. Der Hilferuf der St. Louis verhallt schließlich im Nichts und am 4. Juni lehnt Roosevelt das Anlegen des Schiffes in Florida ab. Die Passagiere sind erschöpft und verzweifelt, doch dem Dampfer St. Louis bleibt nun nichts anderes übrig, als zurück nach Europa zu fahren.
254 sterben als Opfer des Holocausts
In einem letzten Versuch, die Passagiere zu retten, verhandeln jüdische Organisationen mit den europäischen Regierungen. Diesmal mit Erfolg: in letzter Minute entscheiden sich Großbritannien, Belgien, die Niederlande und Frankreich, den Passagieren die Einreise zu bewilligen. Am 17. Juni, nach einer fast fünfwöchigen Irrefahrt, legt die St. Louis in Antwerpen endlich an.
Großbritannien nimmt 288 Flüchtlinge auf, Niederlande 181, Belgien 214 und Frankreich 224. Fast alle Passagiere, die nach Großbritannien gelangen, überleben den Zweiten Weltkrieg. Die restlichen 620, die auf den Kontinent zurückkehren, müssen den Vormarsch der Nazis machtlos beobachten. Am Ende, sagen Dokumente des United States Holocaust Memorial Museum, sterben 254 von ihnen als Opfer des Holocausts.
Über Kuba würden wir uns empören
Liest man heute von der Irrfahrt der St. Louis, so muss man sofort an die Rettungsschiffe Aquarius und Lifeline denken. Klar gibt es Unterschiede, die eine Vergleichbarkeit schwierig machen: damals waren es deutsche Juden, heute sind es Afrikaner, die von den europäischen Regierungen als „wirtschaftlich“ eingestuft werden. Doch ist die Grenze immer so klar? Sind extreme Armut, Hungersnot, Dürre, keine validen Gründe, um auszuwandern?
Fast jeder Europäer, der heute von der Irrfahrt der St. Louis liest, würde empört reagieren und die brutale Gleichgültigkeit der kubanischen Behörden und des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt verurteilen – nur um gleichzeitig der Entscheidung des italienischen Innenministers Matteo Salvini zuzustimmen oder sich leise auf das Dublin-Abkommen zu berufen und sich damit aus der Verantwortung zu ziehen. Aktuell Feuilleton
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