Ulrike Krause, Prof, Wissenschaft, Migration, Einwanderung, Universität
Prof. Dr. Ulrike Krause © privat, bearb. MiG

Forschung

Gewaltgefahren für Geflüchtete

Millionen von Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Gewalt. Sie leiden nicht nur an den sogenannte „Fluchtursachen“, sondern auch auf der Flucht. Diese Gewalterfahrungen sind zentraler Gegenstand internationaler Forschungen. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Ulrike Krause

Von Freitag, 15.06.2018, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.06.2018, 16:36 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Millionen von Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Gewalt. Gewalt kann dabei in vielen Formen zum Auslöser von Vertreibung werden, beispielweise Gewalt in Kriegen und Konflikten, Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, Diskriminierung wegen sexueller Identität oder Orientierung oder auch ‚Naturgewalten‘ durch Klima- und Umweltveränderungen. Während sogenannte „Fluchtursachen“ in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit in politischen, gesellschaftlichen und auch wissenschaftlichen Kreisen erfahren haben, ist für Geflüchtete Gewalt keineswegs nur ein Auslöser von Flucht. Sie leiden auch auf der Flucht und an vermeidlich schützenden Aufnahmeorten unter Gefahren, die unter Umständen sogar zu erneuten Vertreibungen führen können. Diese umfassenden Gewalterfahrungen sind seit Jahrzehnten ein zentraler Gegenstand internationaler Forschungen.

Die wissenschaftliche Literatur bietet vielfältige Einblicke, die die Prävalenz wie auch die Intensität von Gewalt an Geflüchteten verdeutlichen. Dabei können zwei kritische Bereiche herausgestellt werden: (1) Bedrohungen sind zwar generell weit verbreitet, jedoch bestehen genderspezifische Gefahren für Geflüchtete. (2) Obwohl der Flüchtlingsschutz zum Ziel hat, Personen in Aufnahmeländern Sicherheit zu bieten, kann er selbst Gefahren und weiteres Gewaltpotential bergen. Will man Geflüchtete adäquat schützen, bedarf es eines umfassenden Verständnisses ihrer Gewalterfahrungen, das Ursachen und Ausprägungen in den Blick nimmt.

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1. Genderspezifische Gewaltgefahren für Geflüchtete

Bereits seit den 1980er Jahren untersuchen WissenschaftlerInnen genderspezifische Gefahren für Geflüchtete. Geprägt von der feministischen Forschung belegen Studien ein weites Ausmaß an diversen Gewaltformen insbesondere für geflüchtete Frauen, wie etwa häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe oder strukturelle Benachteiligung. Elizabeth Ferris beschrieb schon 1990 Gefahren von Frauen in Konflikten, auf der Flucht und in humanitären Aufnahmekontexten. Diese Studien haben den Flüchtlingsschutz geprägt und in den 1990er Jahren zu einer Trendwende beigetragen. Der gezielte Schutz von Frauen wurde als explizites Ziel im Flüchtlingsschutz aufgenommen, etwa durch spezifische Schutzprojekte oder die Unterstützung alltäglicher Bedarfe wie Monatsbinden.

Diese Forschungen sind also zweifelsohne wichtig, um die Bedingungen von geflüchteten Frauen zu verstehen und entsprechende Schutzmaßnahmen zu initiieren. Jedoch ist kritisch zu betrachten, dass aktuelle Studien nach wie vor auf Gewaltgefahren hinweisen und dass ein einseitiger Fokus in der Flucht- und Flüchtlingsforschung wie auch im Flüchtlingsschutz auf Bedrohungen für geflüchtete Frauen besteht. Andere Gruppen wie Männern oder LGBTQI, die ebenfalls unter genderspezifischer Gewalt leiden, erhalten bislang deutlich weniger Beachtung.

Dabei belegen empirische Studien zu LGBTQI-Geflüchteten, dass die von ihnen erfahrene Gewalt und Diskriminierung oft nicht nur Auslöser ihrer Flucht ist. Auch an Transit- und Aufnahmeorten sind sie Gefahren wie Demütigung, Ausgrenzung und physische Übergriffe wie Misshandlung und Folter ausgesetzt. Diese Gefahren können ebenso in privaten Kontexten bestehen, zum Beispiel wenn die Menschen ‚korrektive Vergewaltigungen‘ erleiden.

Zudem kritisieren einige WissenschaftlerInnen, dass geflüchtete Männer in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Praxis primär als Täter oder ‚Unruhestifter‘ porträtiert werden. Doch auch Männer sind auf der Flucht und im Exil genderspezifischen Gefahren ausgesetzt. Sie können beispielsweise Zwangsrekrutierung in Konfliktparteien oder auch Vergewaltigungen und Missbrauch erleiden. Doch die vielfältigen Gewalterfahrungen von Männern sind unzureichend beachtet, teilweise sogar bagatellisiert und banalisiert. Dies führt im Flüchtlingsschutz zu einem schwerwiegenden Mangel an Schutzmechanismen für gefährdete Personen und Opfer.

Es gibt zwar erste Bemühungen von humanitären Organisationen, Schutzprogramme auch für Gruppen bereitzustellen, die bislang vernachlässigt wurden, beispielsweise zum Schutz von männlichen Gewaltopfer oder LGBTQI-Geflüchteten. Über einzelne Ergänzung hinaus bedarf es jedoch einer erneuten strukturellen Trendwende, wie es sie in den 1990er Jahren für Frauen gab, um Gefahren für alle Geflüchtete entgegenzutreten.

2. Humanitärer Flüchtlingsschutz und Gewaltgefahren

Der Flüchtlingsschutz dient – wie der Name schon sagt – der Schutzgewährung und Unterstützung von Geflüchtete. Empirische Studien zeigen indes, dass Geflüchtete nicht nur an Aufnahmeorten weiterhin Gewalt erfahren, sondern dass die humanitären Maßnahmen und Strukturen selbst zum Anhalten oder Anstieg von Gewalt an Geflüchteten führen können. Dies wird in Einrichtungen wie Flüchtlingslagern besonders deutlich, sowohl in den Herkunftsregionen als auch in Europa.

WissenschaftlerInnen zeigen, dass Aufnahmelager ‚gewaltsame Orte‘ sind, an denen Geflüchtete vielfältigen Bedrohungen wie Benachteiligung, gewaltsamen Angriffen, Mord und Vergewaltigungen ausgesetzt sind. Dies wird unter anderem durch die begrenzten Lebensbedingungen in Lagern bedingt, in denen ein langfristiges Zusammenleben auf engem Raum, mit wenig Privatsphäre und Zukunftsperspektiven der Regelfall ist.

Die Gefahren im Lager können durchaus auch mit den humanitären Akteuren und Leistungen zusammenhängen. Zum einen kann es zu gewaltsamen Übergriffen von Mitarbeitenden humanitärer Organisationen an Geflüchteten kommen. Zum anderen ist der Flüchtlingsschutz geprägt von hierarchischen Strukturen. Regierungs- und humanitäre Organisationen entscheiden über fast alle Aspekte des Lebens, wobei Geflüchtete häufig als reine ‚HilfsempfängerInnen‘, aber nicht als aktive, selbstverantwortliche Menschen behandelt werden. Die geringen Mitsprachemöglichkeiten veranlasst Barbara Harrell-Bond zurecht zu fragen, ob Flüchtlingsschutz überhaupt menschenwürdig sein kann.

Dieser Artikel basiert auf dem Literaturbericht Gewalterfahrungen von Geflüchteten und dem Policy-Brief Schutz von Geflüchteten vor Gewalt, den die Autorin im Rahmen des Verbundprojekts Flucht: Forschung und Transfer. Flüchtlingsforschung in der Bundesrepublik Deutschland verfasst hat.

Diese Machtpraktiken schränken Handlungsmöglichkeiten von Geflüchteten stark ein und können in der Folge zu Frustration und physischer Gewalt beitragen. Exemplarisch zeigt sich dies an der priorisierten Hilfe für geflüchtete Frauen: Obwohl der bevorzugte Zugang zu humanitären Leistungen dem Schutz der Frauen dient, werden Männer damit benachteiligt. Durch die Projekte übernehmen humanitäre Organisationen die Rolle der ‚Entscheider‘ und ‚Versorger‘, die zuvor meist Männer innehatten und die so ihren sozialen Status verlieren. Damit können die Organisationen neue oder anhaltende Gewalt hervorrufen.

Vor diesem Hintergrund sollten humanitäre Organisationen von strikten Hierarchien ablassen und vielmehr die Partizipation von Geflüchteten ermöglichen. Denn nur wenn die Zusammenarbeit mit Geflüchteten auf Augenhöhe stattfindet und sie Raum für Entwicklung und Entfaltung vorfinden, können sich ihre Bedingungen verbessern.

Doch was bedeutet all das für politische Akteure? Ein Patentrezept zum Schutz von Geflüchteten vor Gewalt gibt es nicht. Denn die Menschen befinden sich in vielfältigen Situationen, in denen sich ihre Lebensverhältnisse und Bedürfnisse stark unterscheiden können. Mit weltweitem Blick zeigt sich aber, dass die internationale Zusammenarbeit von Staaten in den letzten Jahren unzureichend war und die Schutzbereitstellung und Lösungsfindung für Geflüchtete beeinträchtigt hat. Als Folge davon müssen Geflüchtete häufig über viele Jahre hinweg in Aufnahmeländern – nicht selten in Lagern – bleiben, wo humanitäre Maßnahmen aufgrund unzureichender Finanzierung kaum im benötigten Maße bereitgestellt werden können. Die aktuellen Debatten zum Global Compact on Refugees gehen auf diese Schwachstellen ein und versuchen Verbesserungen vor allem auch zum Schutz von Geflüchteten zu initiieren. Es bleibt aber abzuwarten, ob Staaten anhaltenden politischen Willen haben, Geflüchtete adäquat zu schützen. Aktuell Meinung

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