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Leitkult

Jeder Versuch, so etwas wie eine „Leitkultur“ zu definieren, muss scheitern.

Mit einem Beitrag in der Bild am Sonntag will Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit einigen Thesen über eine Leitkultur zu einer Diskussion einladen. Einige sind dieser Einladung gefolgt. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Mit diesem Beitrag soll ebenfalls der Einladung entsprochen werden, mitzudiskutieren. Von Murat Kayman

Von Mittwoch, 03.05.2017, 4:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.05.2017, 16:12 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Das ministerielle Thesenpapier zeigt in Form und Inhalt die Schwierigkeit, kulturelle Gewohnheit und Eigenart einer Bevölkerung als Leitungsanspruch zu formulieren und dabei intellektuell konsequent zu bleiben. Denn natürlich sind historische Verantwortungen und bisherige Lebensgewohnheiten nie frei von Brüchen, Rissen und Unzulänglichkeiten. Wieso dies nicht als Wahrheit akzeptiert werden kann, sondern eine nationale Idealerzählung konstruiert werden muss, zeigt sich in der eigentlichen Funktion des Beitrages als Abgrenzung und Selbstvergewisserung im Verhältnis zu Neuankömmlingen. Dass hier eine Bevölkerung von mehr als 90 % einer Minderheit von 10 % ausdrücklich näher definieren und erzählen will, was als gut und richtig zu gelten hat, sagt mehr über die Suche der 90% aus, als über einen unterstellten Mangel der 10%.

Bereits der sprachliche Einstieg ist holprig. Er kann es auch gar nicht anders sein. „Was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet“ will de Maizière ergründen. Dabei schwingt natürlich unausgesprochen und im weiteren Verlauf des Textes eher mittelbar ausgedrückt die Selbstvergewisserung mit, dass das, was „uns“ ausmacht und von anderen unterscheidet, gut ist. Besser ist.

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Die beiden wesentlichen Assoziationstrigger, die diese Selbstvergewisserung legitimieren sollen, sind „Burka“ und „Ehrenmorde“. Die Andeutung dieser beiden Begriffe, ihre fragmentarische Erwähnung reicht bereits aus, um den Lesern klar zu machen, worum es hier geht. Nämlich darzustellen, warum wir „besser“ sind und andere sich „verbessern“ müssen. Der Gedanke, dass Neues und bisher Fremdes auch „gut“, in Teilen gar „besser“ sein könnte, als das, was wir als Eigenart definieren, ist diesem Diskussionsbeitrag völlig fremd.

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Zu dem „Wir“ kann deshalb denklogisch nur jemand werden, der so wird, wie wir schon sind. Warum jemand nicht Staatsbürger sein oder werden kann und damit zu dem, was „uns“ ausmacht, noch etwas Gutes und Schönes hinzufügt, bleibt unbeantwortet. Die 10 Thesen des Beitrages sind dann auch so idealisierte Erzählungen vom kollektiven „Wir“, dass sich diese Frage auch niemandem stellt.

Dabei begibt sich de Maizière erneut in einen Widerspruch, wenn er zwar betont, dass es nicht um die Kategorien von „besser oder schlechter“ geht, wenn „Lebensgewohnheiten im Ausland anders“ sind. Es sei letztlich „die Mischung, die ein Land einzigartig macht und die letztlich als Kultur bezeichnet werden kann“. In dieses Verständnis von „Mischung“ wird aber das, was neue Staatsbürger als kulturelles Potential mitbringen, nicht eingebunden. „Das Erfahren eines anderen Kulturkreises“ ist für de Maizière nur auf Reisen möglich. Eine Aufnahme von Elementen anderer Kulturkreise in den eigenen und damit die Veränderung der eigenen Kultur findet in dieser Vorstellung keinen Platz. Kultur bleibt etwas Statisches, etwas, das als unveränderbar und tunlichst nicht zu veränderndes imaginiert wird. Ein solches Konzept von idealisierter Kultur muss an der Wirklichkeit scheitern:

Zu den zehn Thesen

1.: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Wir zeigen unser Gesicht.

Wer tut das nicht? Eine überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft lebt mit den gleichen sozialen Verhaltenscodes. Dazu gehört auch, dass wir beim Bäcker oder im Zugabteil eben nicht unseren Namen sagen und alle Anwesenden mit Handschlag begrüßen. Was als „Norm“ üblich ist und was nicht, lernt man nebenbei. Das ist die prägende Kraft der Lebenswirklichkeit, ohne dass jemand angeleitet werden muss. Und es gehört selbstverständlich zu unserer Lebenswirklichkeit, dass es Menschen gibt, Ausnahmen, die für sich aus höchstpersönlichen guten Gründen sich diesen Normen verweigern. Ein orthodoxer Rabbiner kann unter Umständen einen Handschlag verweigern. Das ist nicht Ausdruck einer ablehnenden, respektlosen Haltung. Es ist einfach ein anderes Verständnis von Respekt und gesellschaftlicher Norm. All jenen, die sich solchen gesellschaftlichen Normen verweigern, ist bewusst, dass ihr Verhalten als Irritation wahrgenommen wird. Um diese abzumildern, entwickeln sie Ersatzgesten, die deutlich machen: „Es geht mir nicht um die Verweigerung von Achtung, sondern um die Einhaltung einer Norm, die ich für mich persönlich als verpflichtender erachte, als die herrschenden Gewohnheiten im zwischenmenschlichen Umgang.“ Dies wiederum mit einer gelassenen Haltung zu akzeptieren, wäre Ausdruck eines tieferen Verständnisses dafür, dass unsere Gesellschaft sich auch solchen Menschen gegenüber öffnet, die sich im Rahmen des rechtlich zulässigen anders verhalten. Warum sollte es unter den Gesichtspunkten der Handlungsfreiheit, des Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde nicht ebenso guter Ausdruck unseres gesellschaftlichen „Wir“ sein, diese Vielfalt zu akzeptieren? Und warum soll Menschen der Zugang zum staatsbürgerlichen „Wir“ verschlossen bleiben, nur weil sie nicht der Norm entsprechen?

Aber um solche grundsätzlichen Erwägungen geht es gar nicht. Nahezu niemand in Deutschland trägt eine Burka. Sich davon explizit öffentlich abzugrenzen, ist Ausdruck einer Ersatzhandlung. Die Abgrenzung erfolgt in der Assoziationsleistung der Leser von weit mehr, als nur der Burka. Es geht darum, mittelbar zu signalisieren, dass „wir nicht Islam sind“.

2.: Allgemeinbildung als ein Wert für sich.

Weshalb das prägend für Deutschland sein soll, bleibt offen, bleibt bloße Behauptung. Allein das politische Abgrenzungsspiel mit dem Assoziationsraum „Islam“ mittels einem unter deutschen Muslimen praktisch gar nicht vorkommenden Phänomen „Burka“ macht deutlich, dass Politik – gerade zu Wahlkampfzeiten – auch darauf vertraut, dass Allgemeinbildung vielleicht doch nicht so prägend für Deutschland ist.

3.: Leistungsgedanke als deutsches Prinzip. Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit.

Christian Anton Mayer, bekannt unter dem Pseudonym Carl Amery, schrieb zu den „preußischen Tugenden“: „Ich kann pünktlich zum Dienst im Pfarramt oder im Gestapokeller erscheinen; ich kann in Schriftsachen ‚Judenendlösung‘ oder Sozialhilfe penibel sein; ich kann mir die Hände nach einem rechtschaffenen Arbeitstag im Kornfeld oder im KZ-Krematorium waschen.“ Oskar Lafontaine sagte zu „[…] Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. […] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“

Gerade wenn de Maizière im darauffolgenden 4. Thesenpunkt unser historisches Erbe betont, darf er den Leistungsgedanken nicht von der historischen Erfahrung trennen, in der Menschenvernichtung mit deutscher Gründlichkeit betrieben wurde. Wo unsere wirtschaftliche Leistung auch darin bestand, aus menschlichem Haar Garnfüßlinge für U-Boot-Besatzungen zu fertigen.

Wenn wir dieses Erbe als historische Verantwortung verstehen, müssen wir uns auch heute noch fragen, ob unsere wirtschaftliche Leistungskraft dieser Verantwortung gerecht wird. Wir gehören zu den weltweit größten, leistungsstärksten Waffenexporteuren. Warum macht es für uns offensichtlich einen Unterschied, ob wir mit der Waffe in der Hand unsere Nachbarn überfallen oder ob wir anderen Leuten massenweise Waffen verkaufen, mit denen sie ihre Nachbarn überfallen?

Und warum stört uns, dass ein Bundespräsident folgende Worte sagt: „[…] Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg. […] Es wird wieder sozusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei Soldaten, möglicherweise auch durch Unfall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […] Man muss auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren. […]“

Warum stört es uns, dass Horst Köhler diese Sätze gesagt hat und nicht die Tatsache, dass unsere „Leistungswirklichkeit“ eben auch diese Folgen hat? Warum war die Konsequenz dieser Sätze der Rücktritt Horst Köhlers und nicht die Veränderung unserer Wirtschaftspolitik und unseres „Leistungsgedankens“?

4.: Wir sind Erben unserer Geschichte.

Das ist richtig. Das gehört dazu, wenn man Deutscher ist oder wird. Aber „das Bekenntnis zu den tiefsten Tiefen unserer Geschichte“ ist eine schlechte Formulierung. Wir sollten aufhören, in Kategorien von „Bekenntnissen“ zu reden. „Bekenntnis zu unserer Geschichte“, „Bekenntnis zum Grundgesetz“. Bekenntnis ist einfach. Bekenntnis ist bequem, weil abschließend. Bekenntnis erzwingt keine Konsequenz. Es reicht aber nicht, zu bekennen. Wir müssen wissen, erkennen, handeln. Wir tragen Verantwortung. Sich zu dieser Verantwortung zu bekennen, ist nicht genug, wie im vorausgehenden Punkt aufgezeigt. Wir müssen auch konsequent handeln. Tun wir das? Bei der Aufklärung des NSU-Komplexes? Bei der gesellschaftlichen Ächtung und behördlichen Verfolgung von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte oder Moscheen? Was kommt nach dem Bekenntnis?

5.: Wir sind Kulturnation.

Wir spielen Musik. Selbst im KZ. Aber nicht als Überlebenshilfe. Eigene Musik der Lagerinsassen haben wir bestraft. Musik durften nur Häftlingsorchester spielen. Singen mussten Insassen zu ihrer Erniedrigung und um ihren Lebenswillen zu brechen. Zum Beispiel bei Hinrichtungen oder um Nazi-Größen zu unterhalten. Auf dem Weg zur Zwangsarbeit haben wir singen lassen. Bei der Ankunft von Deportationszügen an der Selektionsrampe haben wir Häftlingsorchester spielen lassen, damit die Menschen abgelenkt und arglos in die Gaskammern marschieren. Wir haben, wie in Treblinka, vor den Gaskammern klassische Musik spielen lassen, damit die Todesschreie übertönt werden. Kulturnation zu sein, hat uns nicht davor bewahrt, in Begleitung von Marschmusik und Operetten in die Barbarei herab zu sinken. Aktuell Meinung

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  1. Michel sagt:

    Ich habe bereits nach wenigen Sätzen dieses Artikel mit dem Lesen aufgehört. Was Herr de Maizière als Leitkultur skizziert, halte ich für ähnlich interessant wie wenn in China ein Sack Reis umfällt.

    Herr de Maizière ist ein Anachronismus. Die Zeiten sind zum Glück vorbei , wo es opportun war, eine Leitkultur im Stil“ Am teutschen Wesen mag die Welt genesen“ und andere nationalistische Blödheiten zu verbreiteten.

    Er spricht nicht für „uns“, sondern für eine kleine rechte Gruppe, die allerdings auch Anhänger in der Mittelschicht für sich gewonnen hat. Ich finde es von Herrn de Maizière jedoch untragbar, dass er weiterhin Mitglied der CDU bleiben will und sich dennoch als geistiger Brandstifter betätigt. Die AfD würde doch viel besser zu seiner Grundhaltung passen und dort wäre er dann nicht der Wolf im Schafspelz.

    Alle diejenigen, welche zu den „10%“ gehören, bitte ich die Worte von Herrn de Maizière zu ignorieren und ich lade sie hiermit herzlich ein Deutschland als unser gemeinsames Vaterland voran zu bringen. Mir ist bewusst, dass meine Einstellung auch nicht von allen Bürgern geteilt wird, aber lassen sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir auch die anderen davon überzeugen, dass eine Vielfalt mehr bringt als eine „Mono-Leitkultur“ ;-)

  2. Zoran Trajanovski sagt:

    Wir sind Kulturnazion!
    (aus die Kultur heraus, am Ende des
    Ersten Weltkrigsschreibt W.Hasenclewer)

    Der Zug entgleist.Zwanzig Kinder krepiren.
    Die Fligerbomben töten Mensch und Tier.
    Darüber ist kein Wort zu verliren.
    Die Mörder sitzen im Rosenkavier.

    Der Mensch ist bilig, und das Brot wird teuer.
    Die Offiziere schreiten auf und ab.
    Zwei große Städte sind verkohlt im Feuer.
    Ich werde langsam wach in Massengrab.

    Man rührt die Trommel.Sie zerspringt in Klange.
    Brot wird Ersatz und Blut wird Bier.
    Mein Vaterland, mir ist nicht bange!
    Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

    Als Santayana in Harward zu seine Studenten über deutsche Metaphysik sprach, leufte es ihm kalt über den Rücken und ein dumpfes Gefühl der Bedrohung packte ihn.

    Ich selbst hab Erfarung gemacht was es deutsche Kulturelle Haltung von Hass her getrieben bedeutet.

    Denoch ohne deutsche Kultur ohne deutsche Musik,
    ohne deutsche Sprache bin nur ein Abbild meines selbst. Es gibt viel zu Kritisieren, aber auch sehr viel zu Lieben. Nach 27Jahre verbrachten hier möchte ich die deutsche Kultur nicht missen. Sie ist nicht die beste aber sie ist schon längst teil meines selbst geworden,
    ohne Zwang ohne Notwendigkeit einfach so.

  3. President Obama sagt:

    Der Artikel verrät mehr über die Ansichten des Autors als dass er sich ernsthaft mit einer Leitkulturdebatte befasst.

    Zum Einen stört mich der Bezug zwischen Kultur und KZ. Da sollte einem Juristen deutlich mehr einfallen. Niemand beschönigt das Dritte Reich, aber die deutsche Musik besteht aus mehr als das.

    Auch die alte Leier der Unterprivilegierten und dauerhaft diskriminierten Minderheit der Muslime zeigt mehr eine innere Haltung als ein ernsthaftes Befassen mit de Maizieres Thesen.

    Und letztlich die bewusste Schlechtdefinierung von Patriotismus. Patriotismus ist was anderes als Nationalismus oder gar Nationalsozialismus. Wenn man aber ewig alles als Eines darstellt wird es dadurch nicht richtiger.