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Buchtipp zum Wochenende

Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns.

Wegschauen funktioniert nicht mehr. Syrien hat sich zum Schlachtfeld regionaler und internationaler Interessen entwickelt. Die Menschen vor Ort werden im Stich gelassen – politisch, militärisch und humanitär. Das rächt sich: Hunderttausende suchen Schutz in Europa. Die Zeit der Kuscheltiere am Bahnhof ist aber vorbei. Was muss jetzt getan werden?

Freitag, 16.09.2016, 8:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 18.09.2016, 7:31 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Seit dem Ausbruch der Revolution im Jahr 2011 und dem darauf folgenden zerstörerischen und blutigen Krieg in Syrien sind mehr als 500.000 Syrer nach Deutschland geflohen. Sie alle möchten in Deutschland Arbeit oder Ausbildungsplätze finden, ihre Kinder wollen in Kindergärten und Schulen gehen, sie müssen – so die Forderung von Politik und Gesellschaft – gut integriert werden. Eine gewaltige Herausforderung, die auch Ängste in der deutschen Gesellschaft freigesetzt hat.

Mit ihrem Buch „Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land“ ermöglicht die Journalistin Kristin Helberg ein besseres Verständnis für die Syrer, für ihr Land, ihre Kultur, ihre Mentalität und für ihr Zurechtfinden in einem neuen und für sie
fremden Land. Helberg hat sieben Jahre in Syrien gelebt und ist über ihre syrische Familie und viele Freunde eng mit dem Land verbunden. Sie weiß, wie es jenen geht, die bis heute in Syrien ausharren, und jenen, die versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Sie kennt die syrische Geschichte, Politik und Mentalität.

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Angst, so schreibt Helberg, sei keine gute Ausgangsposition, „denn Angst ist ein schlechter Ratgeber und der beste Nährboden für politische Manipulation und Agitation […] Deshalb will ich versuchen, mit diesem Buch ein paar Pfeiler in den Boden zu rammen – auf dass wir gemeinsam darauf Brücken bauen […] Wollen wir in diesem Land auch weiterhin gut miteinander auskommen, müssen wir für den sozialen Frieden jetzt etwas tun. Haltung zeigen ist das eine, den anderen verstehen das andere.“

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Was macht den Deutschen Angst, worüber sorgen sich die Syrer? Warum kommt es immer wieder zu Missverständnissen auf beiden Seiten und wie können wir diese vermeiden? In verständlicher Sprache, einsichtig und selbstkritisch geht die Autorin, die selbst sieben Jahre lang in Damaskus gelebt und gearbeitet hat und die Freundschaften zu vielen Syrern in Deutschland pflegt, diesen wichtigen und aktuellen Fragen nach. Sie erklärt und beschreibt die komplexe und faszinierende Geschichte Syriens in all ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit, erörtert das autoritäre Regime der BaathPartei, den
Bürgerkrieg, seine Folgen, den Zerfall des AssadStaates und geht vielschichtig auf das kritische Thema der militärischen Interventionen ein.

Im zweiten Teil des Buches analysiert und beschreibt Helberg, auf welche Schwierigkeiten und Probleme Syrer und Deutsche stoßen, wenn sie sich versuchen anzunähern. Fremde Umgangsformen, der Hang der Deutschen zu Verschlossenheit und Individualismus, Familiengefüge, der Westen als Projektionsfläche, Vorstellungen von Moral und Liebe, Feministinnen mit Kopftuch, der deutsche Föderalismus und Sozialstaat – bei all diesen Themen lässt Helberg den Leser verstehen, mit welchen Kulturschocks Deutsche und Syrer im Umgang miteinander und im gegenseitigen Kennenlernen zu rechnen haben.

Mit dem dritten Teil dieses aufklärenden Buches offeriert und diskutiert Helberg mögliche Handlungsoptionen für die aktuelle Situation. Sie hinterfragt die Argumente der vermeintlichen „Vorkämpfer eines jüdischchristlichen Abendlandes“ und plädiert mutig für eine offene Gesellschaft, in der Werte wie Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit und Vielfalt mit einer stärkeren Sachlichkeit und Normalität gelebt werden.

Helberg schlussfolgert: „Tatsächlich können uns die Syrer bei der Suche nach uns selbst helfen. Denn die Geflüchteten sollen sich in etwas integrieren, von dem wir selbst nicht so genau wissen, was es ist. Indem wir uns also fragen, worauf wir im Zusammenleben mit den Ankommenden besonderen Wert legen, konnten wir herausfinden, wo der Kern unseres deutschen Selbstverständnisses liegt, welche Herausforderungen das mit sich bringt und wo es Berührungspunkte oder Überschneidungen gibt.“ (hs) Aktuell Feuilleton

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