Vermeintliche Distanz zu Opfern
Vermeintliche Distanz zu Opfern: Ein Einwanderungsland kann sich keine doppelten Standards leisten
Die weltweite Anteilnahme nach den Pariser Terroranschläge hat es wieder einmal gezeigt: Französische Opfer besitzen offenbar einen höheren Wert als syrische oder afghanische. Begründet wird das in Deutschland mit einer Nähe zu Frankreich. Dabei unterhalten wir schon längst auch andere Beziehungen.
Von Nasreen Ahmadi Donnerstag, 26.11.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.11.2015, 16:52 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Gewaltakte in Frankreich lösen weltweit Entsetzen und Bestürzung aus. 153 Menschen sind bei den Anschlägen in Paris am Freitag getötet worden. Zeitungen und Fernsehkanäle berichten im Minutentakt davon. Im Netz solidarisierten sich Menschen weltweit in Windeseile mit den Freunden und Angehörigen der Opfer aus Frankreich. Beileidsbekundungen, Mitgefühl und Trauer werden auf vielen Kanälen zum Ausdruck gebracht. Weltweit leuchten in den Ländern die Wahrzeichen in den Farben der französischen Flagge. In Facebook werden Fotofilter in den Farben der Trikolore eingeschaltet. Nutzer können so ihre Solidarität mit Frankreich bekannt geben. Die Staats- und Regierungschefs der Welt bekunden ihr Entsetzen und ihr Mitgefühl für die Opfer. „Wir deutschen Freunde fühlen uns Ihnen so nah, wir weinen mit Ihnen“, sagte Bundeskanzlerin Merkel. Die Welt ist Paris! Deutlich wird auch: Sie ist nur Paris! Und das sage ich nicht, um Leid in der Welt gegeneinander aufzuwiegen.
Offenbar besitzen mache Opfer einen höheren Wert als andere. Am Sonntagabend beispielsweise bombardierte Frankreich Syrien. Dieser Angriff raubte vielen unschuldigen syrischen Zivilisten das Leben. Auch das Leiden von Menschen in Nahost, die viel häufiger vom IS-Terror betroffen sind, findet keine vergleichbare Betroffenheit. Nur einen Tag vor den Pariser Anschlägen haben in Beirut zwei Selbstmordattentäter 40 Menschen in den Tod gerissen. Ein Akt des Terrors und gleichzeitig ein blinder Fleck in den internationalen Medien.
Natürlich ist der Terrorakt in Paris furchtbar. Doch wenn die Welt jetzt Paris ist, warum war sie nie Irak, als dort Tausende von Menschen wegebombt oder Opfer von Uranmunitionen wurden? Wo waren die Beileidsbekundungen der Politiker über die Opfer von Drohnenangriffen? Warum war die Welt nicht Beirut oder Nigeria, als dort zahlreiche Menschen getötet wurden? Wo sind unsere Flaggen, wenn in Syrien Städte in Schutt und Asche gelegt werden? Wo sind wir, wenn im Jemen mal wieder eine Drohne eine Familie auslöscht? Warum waren wir nicht Afghanistan, als dort Hochzeiten und Trauerfeiern weggebombt wurden oder jetzt vor kurzem ein Krankenhaus von Ärzten ohne Grenzen bombardiert wurde? Überall war Blut. Überall lagen Verwundete. Überall lagen tote Menschen. Auf der Intensivstation waren sechs Patienten in ihren Betten verbrannt, im OP-Saal lag ein toter Patient auf dem Behandlungstisch. Inmitten der verwundeten Patienten wurde ein Arzt operiert – vergebens. Mehr als 50 Menschen kamen allein in dieser Nacht ums Leben.
Begründet wird die selektive Empfindung und Berichterstattung mit einer Nähe zu Frankreich – geografisch, moralisch, medial. Empörung und Empathie funktioniere nur dann, wenn man sich hineinversetzen könne in die Situation der Betroffenen. Es sei natürlich, sich mehr um die Leute zu kümmern, mit denen man sich verbunden fühle.
Diese Erklärung mag im ersten Moment plausibel klingen, zeugt aber von Ewiggestrigkeit. Sie bleibt nur deshalb unwidersprochen, weil wir uns zwar als Einwanderungsland bezeichnen, aber weder so handeln, noch so fühlen. Dieser Erklärung liegt die Annahme zugrunde, die Bevölkerung Deutschlands denke und fühle einheitlich. Dem ist aber nicht so. Inzwischen leben viele Menschen in Deutschland, deren Familien, Verwandte und Freunde aus diesen Ländern kommen. Und es werden immer mehr.
Was glauben wir eigentlich, wie sich diese Menschen fühlen, wenn wir ihnen offen zeigen, dass ihre Opfern bei uns keine Beachtung finden, ihre Opfer bei uns weder eine Empörung noch eine Schlagzeile wert sind? Genau, sie fühlen sich mindestens ausgegrenzt – mit teilweise verheerenden Folgen. Und genau das dürfen wir nicht wollen. Erst Recht nicht nach so einem Attentat. Schließlich ist die Spaltung der Gesellschaft das Ziel der Attentäter. Aktuell Meinung
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Sehr geehrte Frau Ahmadi, herzlichen Dank für diesen guten Kommentar. So denke und fühle ich mich ständig, wenn ich diese ungleichen Mitleidsbekundungen und großen angeblich staats“männischen“ Gesten, Appelle etc. lese und höre – und mich dafür fast schäme.
Ich habe auch ständig den Eindruck, es wird mit mehreren Maßstäben gemessen! Die Argumente dafür sind peinlich!
Und nun auch noch diese Kriegsbeschwörungen und „wir muessen uns wehren“-Kriegshetze etc. Das macht mir große Sorgen und auch Angst. Aber mir ist klar, dass ich hier im Luxus und in Frieden lebe und sehr, sehr viele Menschen an vielen Orten dieser Welt ums Überleben „kämpfen“, keine einzige friedliche, entspannte Minute haben, in ständiger Sorge um Angehörige sind. .. Beste Grüße