EU-Flüchtlingspolitik
Wie ein Künstler, der sein Werk verspottet
Deutschland nimmt vergleichsweise nur ganz wenige Flüchtlinge auf. Dennoch inszeniert es sich als Schutzmacht für die Bedürftigen - Bundeskanzlerin Merkel als Mutter Theresa der Asylsuchenden. Die Wahrheit sieht anders und noch viel schlimmer auf EU-Ebene.
Von A. Kadir Özdemir Freitag, 23.10.2015, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 25.10.2015, 16:24 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Weltweit sind knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet wurde. Die Hälfte davon sind Kinder. Mit 86 Prozent bleiben die meisten Flüchtenden in ihrer Region. Die übrigen 14 Prozent verteilen sich zum überwältigenden Teil auf nur wenige Länder wie die Türkei (2,2 – 2,7 Millionen), Pakistan (1,51 Millionen), Libanon (1,15 Millionen), Iran (990.000), Äthiopien (660.000) oder Jordanien (655.000).
Entgegen der medialen Darstellung – ganz im Sinne der bundesdeutschen Regierung – erreicht lediglich ein extrem kleiner Teil der Flüchtenden die Außengrenzen der EU. Dort kämpfen die Menschen an den Zäunen, Absperrungen und Mauern weiter um’s Überleben.
Im Verhältnis zur Türkei hat Deutschland gerade einmal 5 Prozent der Flüchtlinge aufgenommen. Dennoch inszeniert es eine Überforderung und steht trotz der niedrigen Zahlen als selbstloses Aufnahmeland da, als Schutzmacht für die Bedürftigen dieser Welt, Bundeskanzlerin Merkel die Mutter Theresa der Asylsuchenden.
In anderen europäischen Ländern sieht es noch menschenverachtender aus. Ihre Flüchtlingspolitik widerspricht den sonst hochgehaltenen europäischen Werten fundamental. In den Jahren 2000 bis 2015 sind vor den Augen der europäischen Gemeinschaft mindestens 26.000 Menschen im Mittelmeer gestorben.
Die meisten dieser europäischen Mauertoten verloren ihr Leben, als die europäischen Länder unter dem Druck Deutschlands, die Rettung von Menschenleben der Abwehr von Flüchtlingen unterordnete. Es war die Bundesrepublik, die sich weigerte, die Kosten der Seenotrettung „Mare Nostrum“ zu teilen.
Es bleibt der breiten Öffentlichkeit verborgen, dass das massenhafte Sterben im Mittelmeer harmonisch mit den Interessen der europäischen Staaten einher geht. Die für Leib und Leben sichere und legale Einreise mit Fähren und Fluggesellschaften wird bewusst verhindert. Selbst vorbeifahrende Schiffe dürfen Ertrinkende nicht retten, da ihnen Anklagen drohen.
Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch, dass Maßnahmen nur dann konkret formuliert werden, wenn es um die Bekämpfung von Schleusern geht. Diese Fokussierung zeigt deutlich, dass Deutschland und die EU ausschließlich daran interessiert sind, die Flucht an sich zu verhindern und nicht die Fluchtursachen zu bekämpfen.
Dies kann daran liegen, dass gerade die bisherigen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen der EU in den Herkunftsländern der Flüchtlinge gravierende Fluchtursachen bewirken. Gerade die europäischen Konzerne, die staatlich subventioniert werden, ruinieren afrikanische und arabische Volkswirtschaften und rauben den betroffenen Menschen ihre Lebensgrundlage: durch den Kauf von Fischereirechten werden tausende Fischer arbeitslos und kriminalisiert, wenn sie in den Radius europäischer Fischerei-Konzerne geraten. Durch den Export von Schlachtabfällen aus Niedersachsen nach Zentralafrika werden heimische Märkte in diesen Ländern kaputt konkurriert und selbst einige Wohlfahrtsverbände zerstören afrikanische Märkte durch den Verkauf von Textilien, die eigentlich für einen guten Zweck gespendet wurden. Europäische Lebensmittelkonzerne entziehen den ärmsten Menschen dieser Welt lebensnotwendige Ressourcen wie sauberes Trinkwasser, in dem sie sich exklusive Verwertungsrechte zusichern lassen. Für die Lokalbevölkerung bleiben dann nur noch stark verschmutztes Wasser und dafür sie täglich kilometerweit laufen müssen.
Europäische Konzerne benutzen zudem die Menschen dort als billigste Arbeitskräfte ohne Arbeitnehmerrechte, die sowohl hinsichtlich des Lohnes und der Arbeitszeit ausgebeutet als auch giftigen Substanzen ausgesetzt werden. Während die Konzerne in Staaten mit ihren Hauptsitzen auf Umweltschutz achten müssen, beuten sie in arabischen und afrikanischen Ländern die Natur rücksichtslos aus und vergiften mit ihren gesundheitsschädlichen Abfällen ganze Landstriche. Insbesondere europäische Energiekonzerne verseuchen ganze Dörfer in Ländern wie Nigeria. Ohne universelle Arbeiterrechte oder Umweltschutzbestimmung können diese Unternehmen mit der lokalen Bevölkerung quasi nach Belieben umgehen. Deshalb sind europäische Konzerne an universellen Rechten kaum interessiert und würden Initiativen zu verzögern oder gar zu verhindern wissen.
Europäische Staaten und Konzerne, die die Weltbank und IWF dominieren, bestehen zudem darauf, dass die arabischen und afrikanischen Staaten die Ernährung ihrer Völker nicht subventionieren dürfen, wenn sie weiterhin Entwicklungshilfen wollen. Der Einfluss der europäischen Regierungen und ihrer Unternehmen geht aber viel tiefer. Sie können da, wo dies ihren Interessen gelegen kommt, zur ethnischen und religiösen Spaltung ganzer Staaten beitragen. Schließlich ist gerade Deutschland der drittgrößter Waffenverkäufer der Welt. Und bei so lukrativen Waffengeschäften wird selbst der sudanesische Regierungschef, der vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Völkermord angeklagt wird, als Geschäftspartner akzeptiert. Und wegen diesen Waffengeschäften wird Sudan als sicheres Land eingestuft und die Vertriebenen des Bürgerkrieges nicht als Flüchtlinge anerkannt. Denn würde man Sudan nicht mehr als sicher kennzeichnen, so müssten die Waffenverkäufe eingestellt werden.
Deutschland verkauft nicht nur an Diktatoren Waffen, sondern unterstützt auch auf breiter Ebene die Drohnenkriege der USA. Sowohl logistisch als auch diplomatisch ist die BRD ein Bündnispartner der Kriegseinsätze. Wie inzwischen bekannt ist, würde der Drohnenkrieg ohne die Unterstützung Deutschlands nicht möglich sein. Alle diese Handlungen, seien es Waffendeals mit Diktatoren oder die Frondienste an die USA, rauben tausenden Menschen ihre Lebensgrundlage und zwingen sie zur Flucht.
Die Flüchtenden sind Folge der ökonomischen, politischen und militärischen Strategie der EU und allen voran Deutschlands. Die steigenden Flüchtlingszahlen sind lediglich die Konsequenz dieser Wirtschafts- und Außenpolitik. Die Mehrheit der Bevölkerung ist tief erschüttert, über das Schicksal der Menschen, die bei dem Versuch dem Terror von Krieg und Hunger zu entfliehen, entweder im Mittelmeer ertrinken oder von etlichen europäischen Ländern quasi eingesperrt werden. Sie sind moralisch enttäuscht , über die Gewalt gegen Flüchtlinge durch Heimbetreiber, Polizei und die rechte Szene. Dennoch pflegen sie weiterhin den Glaubens an die höheren Werte und das gute Gewissen Deutschlands. Das liegt mitunter daran, dass sich die Mehrheit mit dem tatsächlichen Umgang der BRD mit Regionen außerhalb der EU kaum auskennt. Deshalb kann hier weiterhin so getan werden, als hätte Deutschland nichts mit den Fluchtursachen dieser Menschen zu tun und wäre ein selbstloses Aufnahmeland am Rande seiner Belastbarkeit. Die Verantwortung Deutschlands wird in der politischen Öffentlichkeit verharmlost oder mit rührigen Reden abgetan, während gleichzeitig das Recht auf Asyl weiter eingeschränkt und die EU Grenzen noch mehr hermetisch abgeriegelt werden.
Die Situation ist sogar noch perfider. Deutschland, das Land, das jahrelang die Dublin-Abkommen zur enormen Belastung Griechenlands durchgesetzt und sämtliche Hilfsgesuche nach Solidarität überhört hatte, fordert nun Solidarität. Insgesamt wird deutlich, dass weder die BRD noch die EU nicht einfach nur zu wenig für den Flüchtlingsschutz unternehmen, es sind gerade die BRD und die EU, die weltweit Flüchtlinge produzieren. Und wenn die europäischen Länder sich über die ankommenden Menschenmengen wundern und diese gar nicht haben wollen, so ist es nichts anderes, als wenn ein Künstler sein Werk verspottet. Aktuell Meinung
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„Deutschland nimmt vergleichsweise nur ganz wenige Flüchtlinge auf.“
Dafür hat Deutschland aber mit die höchsten Standards bei der Versorgung von Flüchtlingen. Ich denke der Kommentar ist eine Milchmädchenrechnung.
Selbstverständlich hat die EU und die BRD ein Mitverschulden an einigen Krisen in der Welt. Der Autor macht es sich aber zu einfach, hier global zu beschuldigen.
Deutsche Konzerne haben Syrien nicht ausgebeutet. Deutsche Konzerne haben den Irak nicht ausgebeutet und waren auch nicht in entscheidendem Maße wirtschaftlich ausbeutend in Eritrea oder Afghanistan präsent.
Darüber hinaus kann der Autor auch nicht von solch einer simplen Verursachung ausgehen. Wenn Menschen in Bangladesch ausgebeutet werden, dann doch nicht von nationalen Konzernen. Es handelt sich um Multinationale Konzerne. Damit wird zwar nicht die Schuld geringer, der Sachverhalt ist komplizierter.
Außerdem möge der Autor mal erklären, wie er auf die Idee kommt, der Sudan habe Waffen bei deutschen Regierung gekauft.
@ matthias
seit 1961 beliefert deutschland den sudan mit waffen
siehe greenpeace und auch amnesty international
https://www.greenpeace-magazin.de/der-export-des-krieges
&
https://www.amnesty.de/2014/2/17/waffen-fuer-die-welt
@manfred
Ich denke hier herrscht ein Mißverständnis.
Ich glaube tatsächlich, dass in den Jahren vor 1989 Exporte stattfanden. Unbestritten. Für die Zeit bis ins Jahr 2000 kann ich keine Aussage treffen. Aber ab 2000 haben keine Waffenlieferungen, die der Bundestag hätte genehmigen müssen, in den Sudan stattgefunden.
Tatsache hingegen ist, dass deutsche Waffen dort verwendet werden. Diese stammen aber nicht aus dem deutschen Rüstungsexport in Deutschland, sondern aus der Produktion von Lizenznehmern, etwa für Heckler und Koch. Wenn also in Saudi-Arabien als Beispiel Waffen gefertigt werden, die in den Sudan geliefert werden, bedeutet das nicht, dass die deutsche Regierung hierfür ihr Einverständnis erklärt.
Auf der Internetseite Waffenexporte.org kann man die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung ab 2000 einsehen und sich eine Meinung dazu bilden.
Wenn die Türkei bis zu 2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat und die BRD dieses Jahr 800.000, dann sind das nicht 5% sondern annähernd 50% im Vergleich zur Türkei. Dazu kommt, dass wirr seit Jahrzehnten Flüchtlinge und Asylanten aufgenommen haben, darunter auch 300.000 Asylanten aus der Türkei.