Einwanderung, Migranten, Zuwanderung, Reise, Koffer
Migration © Yannic Meyer @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Keine Schwalben

Die Wahrheiten der Migrationsdebatte

Warum sind Flüchtlinge immer Männer? Welche Flüchtlinge kosten am meisten Geld? Und was bedroht die aktuelle Flüchtlingssituation tatsächlich? Obwohl die Migrationsdebatte ihrer Natur nach ständig in Bewegung ist, gibt es in ihr einige Wahrheiten, die wissenschaftlich unstrittig sind. Von Dr. Chadi Bahouth

Von Dr. Chadi Bahouth Donnerstag, 01.10.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 04.10.2015, 15:10 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Grundsätzlich gilt zu unterscheiden zwischen Flüchtlingen, denen das Recht auf Asyl zusteht, und solchen, die aus anderen Gründen fliehen oder migrieren, also Migranten. Amnesty International Australien hat sich dem Appell von Al Jazeera angeschlossen und sich mit einem Aufruf an Medienvertreter gewandt, zwischen „Migranten“ und „Flüchtlingen“ zu unterscheiden und dabei vor Unkorrektheit im Umgang mit Sprache gewarnt.

Viele fliehen innerhalb des eigenen Landes

___STEADY_PAYWALL___

Jedes Jahr wandern tatsächlich hunderttausende Menschen nach Deutschland ein; 2014 etwa 667.000. Was jedoch oft verschwiegen wird, ist, dass dies zum Teil normale Migrationsströme sind und dass nur ein Bruchteil dieser Menschen in Deutschland Asyl beantragt.

Denn die Zahlen zeigen, wie stark Realitäten in einigen Artikeln verzerrt werden. Zur Zeit sind global 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht, die höchste Zahl, die das UNHCR jemals zählte. Der Großteil von ihnen, 38,2 Millionen, verbleibt als Binnenflüchtlinge im eigenen Land. 19,5 Millionen fliehen über Grenzen hinweg, 1,8 Millionen beantragen Asyl 1, davon 627.000 in Gesamteuropa und 203.000 in Deutschland. Allein 2014 wurden weltweit 13,9 Millionen Menschen neu vertrieben. 2

Die meisten Menschen wollen dabei überhaupt nicht fliehen. Ein syrischer Junge bringt es in einem Interview mit Al Jazeera America auf den Punkt: „Just stop the war in Syria and we don’t want to go to Europe. Just stop the war. Just that.“

Seit Ausbruch des Syrienkrieges sind knapp 12 Millionen Menschen auf der Flucht. In Syrien selbst sind es 7,6 Millionen Binnenflüchtlinge, mehr als 4 Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen. 3 270.000 Syrer haben Asylanträge in Europa gestellt, also lediglich 2,25 Prozent aller geflohenen Syrer. Zum Vergleich: Der Libanon hat 25 Prozent aller Geflohenen aus Syrien aufgenommen, einige Quellen sprechen sogar von knapp 50 Prozent der Geflohenen, also zwei Millionen – bei einer Bevölkerung von gerade einmal vier Millionen.

2014 sind 69.500 syrische Flüchtlinge in Deutschland eingereist. Seit Beginn der Krise werden keine Flüchtlinge mehr nach Syrien abgeschoben. Dieser Umstand ließ den Kabarettisten Max Uthoff fragen: „Wenn wir die Syrer eh alle anerkennen, warum lassen wir sie dann im Mittelmeer ersaufen und schaffen nicht sichere Fluchtrouten nach Europa?!“

Von den Flüchtlingen, die ihr Heimatland verlassen, machen sich nur sehr wenige auf den gefährlichen und kostspieligen Weg nach Europa. Einer der Gründe dafür liegt in der sogenannten Drittstaatenregelung. Ein Asylbewerber, der aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ einreist, muss dort seinen Antrag stellen. Deutschland ist umgeben von sicheren Drittstaaten. Bis vor wenigen Wochen war die Einreise nach Deutschland legal nur dann möglich, wenn sie mit dem Flugzeug gelang. Fluggesellschaften, die Flüchtende ohne gültiges Visum mitreisen lassen, riskieren jedoch staatliche Sanktionen. Die Dublin-III-Verordnung ist inzwischen temporär von Deutschland für syrische Flüchtlinge aufgehoben worden. 4

Europäische Werte stehen auf dem Spiel

Rechte Kräfte behaupten gerne, Deutschland werde überschwemmt von einem Heer Asylsuchender. Rechtskonservative zeichnen Schreckensszenarien und warnen vor „Demagogen“, dabei beliefern sie jene mit dem, was sie benötigen: der Angst vor der vermeintlichen „Überfremdung“.

Ihnen geht es nicht um die Migrationszahlen, sondern darum, zu entscheiden, wer migrieren darf und wer nicht. Hunderttausende Franzosen, Amerikaner oder Japaner: kein Problem. Afrikaner und Araber: auf keinen Fall aufnehmen. Erst kommt die „Dämonisierung [als …] das ideologische Fundament einer ungleichen Gesellschaft“ und dann erwächst aus der Ungleichheit basierend auf Merkmalen wie Ethnie oder Religionszugehörigkeit Rassismus. Nicht weniger als die Werte eines aufgeklärten, demokratischen und rechtsstaatlichen Europas stehen derzeit auf dem Spiel.

Das zeigt zum Beispiel die Schweizer Gemeinde Oberwil-Lieli, die Geldstrafen im fünfstelligen Bereich dafür zahlt, dass sie keine Asylbewerber aufnimmt. Jeder zehnte Einwohner ist Millionär, deshalb kann man es sich auf lange Zeit leisten, das Dorf freizuhalten von „Schmarotzern“ und „Parasiten“.

Mit Waffenexporten, wirtschaftlichen und politischen Interventionen und der Einflussnahme durch Finanzinstitutionen trägt der „Westen“ dabei einen großen Anteil an der Verschlechterung der Situation vieler Menschen. Europäische Regierungen arbeiten beispielsweise an Vereinbarungen wie der Khartoum Erklärung. Laut dieser sollen afrikanische Länder die Grenzen nach Europa hin dicht machen. Mit am Verhandlungstisch sitzen auch Vertreter der Militärdiktatur in Eritrea. Die Anerkennungsquote für Asylsuchende aus diesem Land liegt bei 99 Prozent.

Das Männerproblem?

Von Populisten wird auch der hohe Männeranteil bei den Flüchtlingen kritisiert. Wenn „Krieg oder Hungersnöte“ herrschten, „dann fliehen sie in der Regel alle zusammen: Alte und Kinder, Frauen und Männer“, so David Frum. Tatsächlich sind zwei Drittel der in Deutschland ankommenden Asylbewerber Männer. Wie die Jahresstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für das Jahr 2014 zeigt, liegt ihr Anteil in der Gruppe der 18- bis 35-Jährigen sogar bei knapp 75 Prozent.

  1. UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2014 und UNHCR: Asylum Trends. Levels and Trends in Industrialized Countries.
  2. UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2014.
  3. 1.805.255 Türkei, 249.726 im Irak, 629.128 in Jordanien, 132.375 in Ägypten, 1.172.753 im Libanon und 24.055 an verschiedenen Orten in Nordafrika, vgl.: Pro Asyl
  4. BAMF: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“ Vgl.: Twitter
Aktuell Meinung

Seiten: 1 2

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. Gabriele Boos-Niazy sagt:

    Allerherzlichsten Dank für diesen informativen Artikel! Die Zahlen sollte jeder, der sich mit dem Thema beschäftigt, zur Hand haben um zu zeigen, dass bei dem derzeit zu beobachtenden Umschwung der Stimmung politisches Kalkül die Hauptantriebsfeder ist und Tatsachen schlicht ignoriert werden.

  2. Alexei sagt:

    „Die Unterschiede werden bleiben, aber es werden nützliche Unterschiede sein.“
    Ja die nützlichen Unterschiede haben wir ja schon in Leipzig,Kassel und Hamburg gesehen.In der Tat sehr nützliche Unterschiede…

    „Diese Kosten werden auch von den hier lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln getragen. Das ist mittlerweile jeder Fünfte in Deutschland“

    Und das ist wichtig weil? Will man damit implizieren,dass ich es super finde,dass ne million Kulturfremder Migranten nach Deutschland kommen,nur weil ich selber nach Deutschland eingewandert bin?
    Migranten sehen das im allgemeinen nicht anders als Einheimische.Zunächst stehen Sicherheit und Wohlstand der eigenen Familie über allem. So lange diese nicht gefährdet sind kümmert mich die Debatte nicht.Seh ich diese aber als gefährdet ist meine Reaktion die gleiche wie die eines Einheimischen Deutschen.

  3. Pingback: Algunas verdades sobre el debate en torno a la migración | Translate for Justice

  4. Pingback: Le verità dietro al dibattito sull’immigrazione | Translate for Justice