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Zug (Symbolfoto) © jurvetson @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Im Zug nach Ungarn

Zwischen Deutschland und den Flüchtlingen steht die Polizei. Und die Schlepper.

Hunderte Flüchtlinge kamen per Zug von Ungarn nach Deutschland. Paul Simon saß ebenfalls im Zug, fuhr aber nach Ungarn. Dort sah er neben den vielen deutschen Super- und Baumärkten auch die Flüchtlinge - mit Fahrkarten nach Deutschland.

Von Donnerstag, 03.09.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.09.2015, 17:08 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

In Österreich im Zug lag eine Tageszeitung. Kürzlich waren in einem Kühlwagen 71 Menschen erstickt und jeder Artikel dreht sich darum. Irgendwann musste ich sie weglegen. Es ist ein grauenvolles Detail, wie inkompatibel dieses Massensterben mit den Standards der österreichischen Justiz ist. Es sollte so nicht sein, aber es ist so: Es ist schockierender, wenn es in einem Lastwagen auf einer Autobahnraststätte passiert, anstatt weit weg, im Mittelmeer. Ein kluger Freund sagte: „In der Politik ist es fast immer ein Versuch, den echten Fragen auszuweichen, wenn man von ‚moralischer Verantwortung‘ spricht, aber das hier ist etwas anderes.“

Nach langer Fahrt durch die eintönige, leere ungarische Landschaft steigen wir dann am Bahnhof Keleti in Budapest aus. Tausende Flüchtlinge, meist Syrer, harren dort in der Hoffnung aus, es irgendwie auf einen Zug nach Österreich oder Deutschland zu schaffen. Ich war auf chaotische Zustände vorbereitet, improvisierte Camps im Bahnhof. Aber da sind nur hunderte Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz, die in der Abendhitze in Gruppen zusammensitzen. Nur ihre Hautfarbe weist sie als Flüchtende aus.

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Was ich nicht wusste: Die Regierung hatte eine sogenannte „Transitzone“ in den Unterführungen am Bahnhof eingerichtet. Dort waren die Flüchtlinge gezwungen zu warten. Von der ungarischen Regierung und von internationalen Hilfsorganisationen wurden sie im Stich gelassen und versorgt von Freiwilligen. Gelöst wurde das Problem so natürlich nicht, nur verborgen. Bei mir, der ja eigentlich auch als Tourist in Ungarn angekommen war, und direkt vom Zug ins nächste Taxi gestiegen ist, hat es fast funktioniert.

Zuletzt hatte die ungarische Polizei sich überraschend aus dem Bahnhof zurückgezogen und es einigen Hundert Flüchtlingen so ermöglicht, Züge nach Deutschland zu besteigen. Am nächsten Morgen dann die panische Gegenreaktion, wohl als der ungarischen Regierung klar wurde, dass sie gerade im Begriff war, das Dublin-System einseitig aufzukündigen: Erst wurde der Bahnhof für einige Stunden stillgelegt, dann vollständig geräumt. Jetzt wird die Passkontrolle offenbar nicht mehr in den Zügen, sondern gleich an den Eingängen des Bahnhofs vorgenommen. Ohne Papiere darf man ihn nicht einmal mehr betreten.

War das jetzt einfach ein kurzes Einknicken des Dublin-Polizeisystems oder sogar ein bewusster Warnschuss von der ungarischen Seite, um mittels einiger überfüllter Züge nach Bayern in Deutschland eine Reaktion zu erzwingen? Hat Deutschland die Dublin-Regelung für syrische Flüchtlinge aus Ungarn nun eigentlich ausgesetzt? Oder nicht? War das eine normative Neuausrichtung oder einfach eine Anerkennung der Realitäten? Oder nur eine Reaktion auf die ungarische Verweigerungshaltung der letzten Monate?

Die angeblich so festen Regeln des europäischen Asylsystems sind gerade dabei, sich zu lösen, taten das seit Monaten schon, und verständlicherweise versuchen viele Beteiligte, auf eine für sie günstige Neuordnung hinzuarbeiten. Die leidtragenden sind wieder einmal die Flüchtlinge, die damit leben müssen, dass mit ihrem Schicksal jetzt auch internationale Politik betrieben wird, nachdem sie – nicht nur in Ungarn – schon lange zu innenpolitischen Zwecken instrumentalisiert wurden. Die vor Keleti ausharrenden Kriegsflüchtlinge zumindest haben gerade keine Gewissheiten mehr.

Ungarn ist ein kleines, leeres Land, mit einer alten Bevölkerung und einer Regierung, die zynisch Ängste vor den Fremden schürt. Es ist ein Land, in dem Flüchtlinge kriminalisiert werden, oft de-facto verhaftet, oft unter schrecklichen Bedingungen in Lagern unterkommen müssen, die in der Wildnis, weitab aller Siedlungen, errichtet wurden.

Es ist auch ein sehr armes Land, selbst in den Städten. Und die Wirtschaft ist vom reichen Westen geprägt. Alles ist deutsch, nicht nur die Supermärkte, auch die Baumärkte, die Drogerien, die Schuhläden, sogar die Banken: Spar, Deichmann, Müller, dm, Sparkasse. So sieht es also aus, zur armen Peripherie zu gehören: Verkauft werden oft original deutsche Produkte – manchmal mit ungarischen Etiketten, manchmal nicht. Die mittlerweile bitter enttäuschten Flüchtlinge in Keleti hatten am Morgen noch ihre Fahrkarten geschwungen und „Deutschland“ gerufen. Jetzt steht zwischen Deutschland und ihnen wieder die Polizei. Und die Schlepper. Leitartikel Politik

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