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Aglaja Beyes © privat, bearb. MiG

Arm durch Arbeit

Fast alle Lehrer sind jetzt Menschen „Sans Papiers“

Seit Wochen streiken angestellte Lehrer. Verglichen mit den Verbeamteten spricht die Presse von ihnen als "Lehrer zweiter Klasse". Worüber nicht berichtet wird, sind Lehrer an Integrationskursen - die dritte Klasse. Wohin das führt, zeigt Aglaja Beyes in einem Zukunftszenario. Wir schreiben das Jahr 2030.

Von Donnerstag, 26.03.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19.04.2015, 11:48 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Nur noch ein Drittel der arbeitenden Menschen hat einen normalen Arbeitsvertrag. Alle anderen sind 1,-Euro-Jobber, Dauer-Praktikanten und Scheinselbständige.

Besonders schlimm hat es die Lehrer erwischt. Barbara ist eine von ihnen. „Ich arbeite täglich acht bis zwölf Stunden in meiner Schule, unterrichte Deutsch und Französisch und bei Bedarf Geschichte und Sozialkunde“, erzählt sie. „Dafür bekomme ich 20,- Euro pro Unterrichtsstunde Brutto. Wir sind Freiberufler und wurden über die Volkshochschule hierher vermittelt. Alle arbeiten so wie ich, ausgenommen der Chemie- und Physiklehrer. Die sind als einzige noch fest angestellt, weil die Wirtschaft mit Abwerbung droht.“

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Vorboten dieser Entwicklung gab es in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Ab 2005, mit Einführung der Integrationskurse für Zuwanderer und Flüchtlinge, kam der Quantensprung. Erstmals arbeiteten flächendeckend zigtausende Lehrer im Staatsauftrag Vollzeit und weisungsgebunden und ohne eine Chance auf Festanstellung. Wer dagegen klagte, bekam keine Aufträge mehr. Statt die sofortige Festanstellung zu verlangen, forderten Oppositionsparteien und Gewerkschaften noch 2015 lediglich höhere Honorare.

„Die Integrationskurse sind eine Erfolgsgeschichte“ verkündeten die Regierungsparteien damals. Kurz darauf beschloss man, das System Schritt für Schritt auch auf die allgemeinbildenden Schulen auszudehnen. Das ist billig. Als erstes ging der Sprachunterricht in die Verantwortung freier Träger, den Kooperationspartnern der Schulen. „So wie es mir heute geht, so ging es schon vor einer Generation meinen Kollegen in der Weiterbildung“, erinnert sich Barbara. Doch die Warnungen von damals nahm kaum jemand ernst. Im Gegenteil: Diese „Erfolgsstory“ wurde ausgeweitet.

Die Folgen? „Wer krank ist, bekommt kein Geld. Darum schleppen wir uns krank in den Unterricht, solange, bis die Eltern unserer Kinder kommen, uns ins Bett schicken und selbst den Unterricht übernehmen.“ Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung erscheinen als blasse Erinnerungen an die Zeit eines Sozialstaates. „Zum Glück gibt es „Ärzte ohne Grenzen“ mit ihrer Notfallkrankenversorgung für Menschen „San Papiers“, für die Flüchtlinge ohne Aufenthaltspapiere und für uns, die Lehrer ohne Arbeitspapiere.“ Aktuell Meinung

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  1. grog sagt:

    @Horstl
    warum denn nicht? Ich habe zwei Jahre in Integrationskursen gearbeitet und drei Jahre an öffentlichen Schulen. Deshalb kann ich Ihnen bestätigen, dass das genau dasselbe ist.
    Unterricht ist von 8:00 bis 13:00 nach vorgegebenem Curriculum in vorgegebenen Räumen mit vorgegebenen Schülern.
    Voraussetzung ist ein Hochschulstudium und eine Zusatzqualifikation durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
    Wo sehen Sie einen Unterschied, der rechtfertigt, dass man im Integrationskurs für 25 Stunden ca. 900 € netto verdient, während man an der Schule für 16 Stunden 1.600 € netto bekommt?
    Der einzige Unterschied ist, dass wir Ausländer unterrichten, während an den Schulen meistens Deutsche unterrichtet werden.
    Das Ergebnis ist, dass man heute kaum noch Lehrer für Integrationskurse findet. Dann lernen die Leute eben kein Deutsch und bleiben dauerhaft arbeitslos, auch wenn sie in ihrer Heimat einen Hochschulabschluss erworben haben. So sehen die Bildungschancen für Ausländer in Deutschland aus. Ich werde denen für 900 € jedenfalls kein Deutsch mehr beibringen. Das können ja die Deutschlehrer in den Schulen übernehmen. Die wissen bestimmt, wie man einen syrischen Ingenieur fit für den Arbeitsmarkt macht, oder? Genau das ist unser Job, aber der ist dem Staat leider nichts Wert.

  2. Volkswirtschaftler sagt:

    @grog Erstens herrscht – meiner Meinung nach, es kann ja sein, dass ich mich irre – überhaupt keine Kontrolle darüber, wie gut ein Integrationsunterricht sein muss. Mir ist nicht bekannt, dass Migranten, die solche Kurse besuchen, „Noten“ bekommen. Welcher Vorgesetzte, welche „Schulbehörde“ setzt Qualitätsstandards durch? Wie kann man denn kontrollieren, wie gut der Unterricht ist? Und wieso soll ein Integrationslehrer besser bezahlt werden, wenn die Standards, die von ihm verlangt werden, von vornherein niedrig angesetzt werden? Will man Leute, die „nur“ Deutsch unterrichten, mit Spezialisten für Literatur, Hochsprache und Dichtung auf eine Stufe stellen? Das Bild vom Integrationslehrer wurde auch in der Öffentlichkeit durch einige schwarze Schafe beschädigt.

    http://www.abendblatt.de/vermischtes/article107728664/Ermittlung-gegen-Sprachschule-Systematischer-Betrug-mit-Integrationskursen.html

    Hochschulabschlüsse aus dem Ausland sind meiner Meinung nach nur beschränkt vergleichbar. Die Vorstellung, dass massenweise Ingenieure hier ins Land strömen, ist illusorisch, wenn man sich die realen Zahlen vor Augen führt. Sie vergessen, dass Zuwanderer in erster Linie von der Politik gewollt werden.

  3. grog sagt:

    Hallo Volkswirtschaftler,
    die Betrügereien die sie ansprechen wurden von den Trägern gemacht, nicht von den Lehrkräften. Wie fänden sie es, wenn Schulen in gewinnorientierte Privatunternehmen verwandelt würden und Lehrer nur für die Stunden bezahlt würden, die sie unterrichten? Also nicht in den Ferien, bei Krankheit usw.? Ist das ein gutes Konzept?
    Übrigens rechnen die Träger bis heute mehr Leistungen beim Bund ab als sie erbringen. Wer im Unterricht fehlt, unterschreibt die Anwesenheitsliste am nächsten Tag, damit der Träger sein Geld bekommt. Das ist zwar nicht erlaubt, aber es kann keiner kontrollieren.
    Die Qualität der Integrationskurse ist schlecht, weil hier nicht der Weg in den Beruf geebnet wird, sondern nur Deutsch „gebüffelt“ werden soll. Lehrkräfte und Teilnehmer bleiben auf der Strecke, die einzigen Gewinner sind die Träger, besonders die Volkshochschulen, die einen großen Teil ihres Umsatzes durch Integrationskurse generieren.
    Der Staat leistet sich bei den Integrationskursen ein schlechtes Bildungssystem, das auf illegalen Arbeitsverträgen mit den Lehrkräften basiert. Statt ein gutes System aufzubauen, von dem die Lehrkräfte leben können und wo die Teilnehmer an den Job herangeführt werden, wurde von der rot-grünen Bundesregierung vor 10 Jahren ein Billigmodell aufgebaut, von dem nur die Privatanbieter und die Volkshochschulen Vorteile haben. So werden Ihre und meine Steuergelder verplempert.
    Da es kaum noch Lehrkräfte gibt die den Job machen wollen will man nun die Zugangsvoraussetzungen absenken. Vielleicht werden in Zukunft Schüler oder Rentner die Kurse leiten, Hauptsache sie machen es billig und Hauptsache, die Träger und die Schulbuchverlage machen den Reibach.
    Es gibt auch Träger, die die Fahrtkosten der Kursteilnehmer nicht oder nur teilweise weiterleiten. Das Bundesamt kontrolliert nicht, ob der Träger die Fahrtkosten an die Teilnehmer auszahlt, das geht da mehr auf Vertrauensbasis.
    Die Integrationskurse sind in vielerlei Hinsicht ein Fall für den Staatsanwalt. Vor Kurzem war der Zoll an einer Volkshochschule vorstellig, um dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit der Lehrkräfte nachzugehen. Scheinselbstständigkeit ist ein Straftatbestant, es handelt sich dabei um Sozialversicherungsbetrug seitens des Arbeitgebers.

  4. Volkswirtschaftler sagt:

    @grog Danke. Das war mal wirklich ein sehr informativer Beitrag von der „Integrationsfront“, der mich in meiner Meinung bestätigt, dass es eine Integrationsindustrie gibt, die nicht so ganz verantwortungsvoll handelt. Ich für meinen Teil bin der Ansicht, dass man eine Beschränkung der Zuwanderung braucht, weil mit zunehmender Zuwanderung die Verteilungsspielräume – etwa für Integrationslehrer – naturgemäß kleiner werden. Was hilft es, kostspielige Infrastrukturen aufzubauen, wenn die Integrierenden – sprich die Integrationslehrer – zu wenig verdienen und diejenigen, die integriert werden sollen, wegen zu geringer Mittel nicht optimal gefördert werden? Eine Zuwanderungspolitik, die das materiell Machbare aus dem Auge verliert, wird auf längere Sicht hin weder bei Migranten noch bei der einheimischen Bevölkerung auf allzu viel Gegenliebe stoßen. Meine Fragen an Sie: Glauben Sie, dass alle „Träger“, etwa in NRW oder im deutschen Osten wirklich das Geld haben, um optimale Bedingungen zu schaffen? Und wenn nein, wie hoch sind die Folgelasten in den nächsten – sagen wir mal – 20 Jahren? Wenn das, was Sie schreiben, zutrifft, wird das bei Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Altersarmut betroffen sind, vermutlich große Irritationen hervorrufen, denn wer will schon etwas von seinen eh schon geringen Einkünften hergeben, wenn es im Endeffekt auf eine nicht optimale Nutzung von Steuergeldern hinausläuft. Das ist in meinen Augen ein durchaus kritischer Punkt: Falsche Meinungen und verderbliche Gesinnungen entstehen bekanntlich doch genau dann, wenn die „Menschen auf der Straße“ die Resultate einer Fehlentwicklung sehen, nicht aber die Ursachen und aus diesem Grund simplifizieren.

    PS: Wenn wir für Unterricht Geld verlangen würden, würde das die Unterrichtsqualität sicherlich steigern, aber wollen wir das wirklich? Das wäre ein Rückschritt um 100 Jahre!

  5. grog sagt:

    Hallo,
    es stellt sich die Frage, ob Deutschland als eines der reichsten Länder der Welt überhaupt Flüchtlinge aufnehmen will, oder ob man nur die „wirtschaftlich verwertbaren“ aufnehmen will – oder ob man in Rechnung stellt, dass unser reiches Land eine Mitverantwortung an der Armut der Herkunftsländer trägt. Unsere Rüstungsfirmen liefern immerhin die Waffen, mit denen die Herkunftsländer zerstört werden und wir Konsumenten kaufen die Kleidung, die dort für Centbeträge produziert werden. Unser Wohlstand ist der Grund, warum diese Leute aus der Armut und dem Krieg flüchten.
    Deshalb finde ich, dass man denen, die es überhaupt hierher schaffen, menschenwürdige Lebensbedingungen geben sollte. Dazu gehören Bildung, Gesundheit und vernünftige Wohnungen.
    Das könnte dieses Land alles mit links bezahlen, Deutschland schwimmt doch im Geld, aber leider ist das Geld ungleich verteilt. Es sind ja nicht nur die Integrationskurse unterfinanziert, das betrifft den gesamten Bildungs- und Sozialbereich von der Pflege über Kita-Plätze bis zum Hochschulbereich. Das richtet sich nicht nur gegen Einwanderer und Flüchtlinge, sondern auch gegen Deutsche, die im Niedriglohnbereich arbeiten und nie eine Rente bekommen werden, obwohl sie immer gearbeitet haben.
    Diese Gesellschaft verwahrlost zusehend und die Ungleichverteilung hat den Glauben an die Demokratie in großen Bevölkerungsteilen zunichte gemacht. Der Verteilungskampf findet nicht zwischen Deutschen und Ausländern statt, sondern zwischen arm und reich. Wenn man nur eine angemessene Erbschaftssteuer einführen würde, dann könnte man alles bezahlen, von den maroden Straßen über die kaputten Schulen bis hin zu den Pflegeheimen, wo man Leute, die ein Leben lang gearbeitet haben, vergammeln lässt, weil uns ihre Pflege zu teuer ist.
    Die „dritte Welt“ ist schon längst in Deutschland angekommen, und es gibt heute schon jede Menge gut qualifizierte Deutsche, die in die Schweiz gehen, weil sie dort anständig bezahlt werden. Das können Köche, Pflegefachkräfte, Erzieher oder Busfahrer sein. An deutschen Schulen verdienen die Beamten sehr gut, während sich die Sozialarbeiter von befristetem Job zu Job hangeln müssen. Und Kinder von Flüchtlingen kommen oft erst gar nicht in die Schulen rein, weil das Land dafür angeblich kein Geld mehr hat.

  6. Volkswirtschaftler sagt:

    @grog Grundsätzlich haben Sie in vielen Dingen recht. Allerdings möchte ich vor dem „deutschen Größenwahn“ warnen. Der hat sich von der imperialistischen, außenpolitischen Ebene erst auf die ökonomische Ebene („Wirtschaftswunder“, „Scheckbuchpolitik“) und dann auf die Ebene des Sozialstaats verlagert („Wohlfahrtsstaat“). Schon Ludwig Erhard — alles andere als ein „Rechter“ – hat die Schwachstelle unserer Demokratie erkannt, indem er davon sprach, dass „nichts unsozialer sei als der Wohlfahrtsstaat“. Der Wohlfahrtsstaat ist eine angenehme Sache, er entbindet die Menschen der individuellen Pflicht, sozial zu handeln und sozial zu denken. Er regt die Umverteilungsfantasien von Funktionären an, er weckt Begehrlichkeiten, die nicht finanzierbar sind. Er führt dazu, dass der eine Bürger die Hand in der Tasche des anderen hat. Kurz er fördert Egoismus, falsches „Gutmenschentum“ und geistige Trägheit. Tatsächlich ist das alles auch der Fall. Das ist das Resultat einer Politik, welche die Erfolgsrezepte der 50er und 60er Jahre längst vergessen hat. Der Staat für alle ist ein Staat für keinen. Es darf sich daher auch keiner wundern, wenn die Politik nicht so funktioniert, wie man sich das wünscht. Die Politik reagiert nach dem Gießkannenprinzip. Sie ist für die „Menschen“ da, aber nicht für das „Allgemeinwohl“. Was das Allgemeinwohl ist, wissen die meisten heutigen Funktionäre gar nicht, das verstehen sie gar nicht. Wenn von den Menschen und dem Allgemeinwohl die Rede ist, meinen doch die meisten Leute ihr eigenes Wohl und ihr ideelles Wohlempfinden, das möglichst an keine Pflicht gebunden sein soll. Das ist die Realität. Dass der Staat unter diesen Umständen Billionenschulden macht, ist doch klar. Dass man es keinem recht macht, wenn man es allen recht machen will, ist auch eine Binsenweisheit.
    Das ist aber nicht die alleinige Schuld der Politiker, sondern auch die der Bürger. Tatsächlich ist Deutschland auch kein besonders „reiches“ Land mit unendlichen Ressourcen. Das Problem liegt nicht zwischen „arm“ und „reich“, sondern darin, dass gerade der Unterschichtenmensch und der Ottonormalbürger einen schwach ausgeprägten Sinn für den „Dienst“ am Allgemeinwohl hat. Eine Gesundung eines Systems beginnt nicht damit, dass man lauter Forderungen aufstellt, sondern damit, dass man seine eigenen Forderungen zurückschraubt. Wenn ich zu viele Migranten ins Land hole, darf ich mich nicht beschweren, wenn der einzelne Migrant nicht optimal gefördert werden kann. Wenn ich zu viele Akademiker ausbilde, darf ich mich nicht wundern, dass die Löhne geringer ausfallen und die Anstellungsmöglichkeiten schlechter sind. Wenn ich die Löhne erhöhe, darf ich mich nicht wundern, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt. Wenn ich mehr Bildungsgerechtigkeit à la Einheitsschule will, darf ich mich nicht beschweren, wenn die Abschlüsse weniger wert sind. Wenn ich einen Kuchen in 1000 Stücke schneiden will, darf ich mich nicht beschweren, wenn Leute „distanziert“ reagieren. Wenn ich umverteile und verschwende, darf ich mich nicht beschweren, dass gerade die Reichen davon profitieren. Wenn ich zu hohe Mindestlöhne einführe, darf ich mich nicht wundern, dass in manchen Bereichen mehr „schwarz“ gearbeitet wird. Wenn ich Korruption beim „kleinen Mann“ entschuldige, darf ich mich nicht wundern, wenn „die“ „Reichen“ sich auch bereichern (was in Deutschland noch nicht so das Problem ist). Wenn 50% des Haushalts nur für Schuldentilgung und Arbeit und Soziales ausgegeben werden, darf ich mich nicht wundern, wenn die Solidarität in der Gesellschaft unterschwellig erlischt. Wenn ich der Meinung bin, dass ein Staat nicht wirtschaften muss und wie ein gute Hausfrau auf das Geld schaut, darf ich nicht „den“ Reichen die Schuld daran geben. Schuld ist man dann schon selbst.

    Was ich moniere, ist die Tatsache, dass man ideelle und politische Fehlentwicklungen nicht immer mit Berufung auf die Gerechtigkeit und Demokratie entschuldigen darf. Was ich beklage, ist der Wille der Linken, jeden politischen Diskurs zu bestimmen, ohne das Rüstzeug dafür zu besitzen. Tatsächlich besitzt die deutsche Linke keineswegs die Fähigkeit politisch zu denken. Zum politischen Denken gehört die Erkenntnis, dass Menschen sich keineswegs von Idealen leiten lassen, sondern von ihren höchst materiellen Interessen und ihren unterschwelligen Sehnsüchten. Diese Interessen und Sehnsüchte müssten reguliert werden, aber genau das geschieht ja nicht. Die Gefahr für unsere Demokratie kommt nicht von den Rändern, sondern direkt aus der linken Mitte. Diese Gefahr resultiert nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Bequemlichkeit, aus Trägheit und Langsamkeit und der Überschätzung der eigenen moralischen Qualitäten. Die Demokratie ist halt keine Veranstaltung von Edelmenschen, sondern von Menschen mit ganz normalen Schwächen und Stärken. Und das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Deutschland war mal ein Land mit sehr ausgeglichener sozialer Stratifikation, mit hohen Löhnen und hohem Lebensstandard. All das schwindet seit der Regierung Brandt. Ja warum wohl?