Geben und Nehmen
Studenten und Asylbewerber unterstützen sich gegenseitig
Die Zahl der steigenden Flüchtlinge macht erfinderich. In Frankfurt am Main etwa treffen sich Studenten mit studierten Asylbewerbern. Die Einheimischen führen in die Stadt und die Hochschule ein, die Neuen unterstützen mit ihren Fachkenntnissen das Studium.
Von Jens Bayer-Gimm Dienstag, 24.02.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.03.2015, 9:19 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Merle Becker war schockiert: Niemand in ihrem niedersächsischen Heimatdorf hatte je ein Wort mit den vier jungen somalischen Flüchtlingen gewechselt, die vor Monaten dort einquartiert wurden. Die 26-jährige Studentin der Friedens- und Konfliktforschung wollte die Sprachlosigkeit gegenüber Asylbewerbern beenden – an ihrem Studienort Frankfurt am Main. „Es gibt viele Organisationen, die sich um die Grundbedürfnisse kümmern. Was tun wir aber, um Flüchtlingen ihre Menschlichkeit wiederzugeben?“, fragt sie.
Beckers Idee: Studenten treffen sich mit studierten Asylbewerbern zu einem gegenseitigen Geben und Nehmen. Die Einheimischen führen in die Stadt und die Hochschule ein, die Fremden unterstützen mit ihren Fachkenntnissen das Studium. Dazu gründete Becker zusammen mit ihrer Studienfreundin Melusine Reimers die Initiative „Academic Experience Worldwide“.
In einem Seminarraum sehen sechs Männer aus Eritrea, Syrien und Indien sowie vier deutsche Studentinnen ein Video über das Band-Aid-Projekt des irischen Popsängers und Hilfsaktivisten Bob Geldof. Die internationalen Popstars tragen inbrünstig den Hit „Do they know it’s Christmas?“ (Wissen sie, dass Weihnachten ist?) über Afrika vor: „Es ist eine Welt voll Schmerz und Furcht, wo der Tod in jeder Träne liegt. Wie können sie überhaupt wissen, dass Weihnachten ist?“
Der Song, der Spenden für Afrika einwerben soll, kommt im Seminarraum nicht gut an. „Alle Afrikaner werden in einen Topf geworfen und für hungrig erklärt“, kritisiert der Eritreer Merhawl Tewolde. „Ganz Afrika sei voll Schmerz und Furcht und soll Weihnachten nicht kennen“, ärgert sich sein Landsmann Tesfalen Mebrahtu. „Wir haben unsere eigene Weise, Weihnachten zu feiern.“ „Die Hilfskampagnen sollen den Marketingleuten und Hilfsorganisationen helfen, nicht den Afrikanern“, empört sich ein dritter Eritreer, der seinen Namen nicht nennen will.
Alle zwei Wochen kommt der Kreis von „Academic Experience Worldwide“ mit sechs bis 33 Teilnehmern abends für eineinhalb Stunden zusammen und diskutiert über das Afrikabild in Europa, über die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ oder über die eigene wissenschaftliche Arbeit. Beckers und Reimers Initiative bietet seit knapp einem Jahr im 14-tägigen Wechsel den intellektuellen Austausch in der Gruppe und eine Sprechstunde zur Klärung persönlicher Anliegen. Daneben sind 15 „Tandems“ entstanden: Ein Asylbewerber und ein Student des gleichen Faches treffen sich regelmäßig.
„Die Rückmeldungen sind sehr positiv“, sagt Becker. Für die Tandems gebe es eine lange Warteliste von Asylbewerbern. Der Eritreer ohne Namen ist schon einige Monate dabei. „Das Projekt ist sehr gut für die, die schnell lernen wollen“, lobt er. „Ich will mehr über Deutschland erfahren und Deutsch lernen, denn ich will Teil der Familie sein.“
Die Asylbewerber, meist Männer im Alter zwischen 18 und 50 Jahren, decken nach den Worten von Becker viele akademische Berufe wie Betriebswirt, Ingenieur oder Lehrer ab. Die deutschen Teilnehmer seien meist Studentinnen der Kultur- und Medienwissenschaften, Politologie und Soziologie. Manche der ausländischen Teilnehmer hätten sich in die Organisation eingebracht. So hätten Syrer die Homepage der Initiative mitgestaltet. „Die finden es ganz toll, nicht nur Hilfe zu bekommen, sondern selbst Teil der Organisation zu sein“, berichtet Becker.
Die Idee von „Academic Experience Worldwide“ hat dem Studentinnenduo viel Arbeit eingebrockt: „Das ist ein 40-Stunden-Job neben dem Studium her“, bilanziert Becker. „Ich habe keinen freien Abend.“ Derzeit sind sie und Reimers dabei, einen Verein zu gründen. „Der Bedarf ist gigantisch“, sagt Becker.
Schön wäre eine stabile Finanzierung, wünscht die engagierte Studentin. Unternehmen auf der Suche nach Fachkräften könnten Geld für Fahrkarten zum Seminarort oder für Deutschkurse geben, schlägt sie vor. Die Initiative könnte bald Ableger bekommen: An den Universitäten in Darmstadt, Mainz und Trier gibt es Interesse, das Modell von „Academic Experience Worldwide“ zu übernehmen. (epd) Gesellschaft Leitartikel
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Hört sich alles toll an, hat aber mit der Realität wenig zu tun. Wer studiert, hat im Allgemeinen keine Zeit, um sich um andere zu kümmern.