Italienische "Gastarbeiter"
Es ist ein bitteres Ankommen, die Rückkehr ist auch bitter.
Die meisten Gastarbeitergeschichten kennt man hierzulande von Türken. Doch auch Hunderttausende Italiener haben Geschichte geschrieben – im Kollektiv und ihre eigenen. Francesca Polistina hat einige dieser Geschichte aufgespührt:
Von Francesca Polistina Freitag, 19.12.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.07.2018, 15:04 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Nach Deutschland kam Diego mit einem Pappkoffer. Drinnen lagen Unterwäsche, ein Paar Socken und wenig mehr. Den Wintermantel, erzählt er, hat er erst später gekauft, mit dem ersten Gehalt: Es war kalt in Deutschland, eine Kälte, die er auf Sardinien nie erlebt hatte. Aber er wollte weg, er wollte nicht mehr auf dem Land arbeiten. Und so kam er nach Wolfsburg, der „nördlichsten italienischen Stadt jenseits der Alpen“, mit einem Traum: bei Volkswagen zu arbeiten. Es waren die sechziger Jahre.
Wie Diego kamen tausende Italiener nach Deutschland. Das erste Anwerbeabkommen für italienische Arbeiter hatten die zwei Länder schon vor dem Zweiten Weltkrieg unterschrieben: Deutschland brauchte Arbeitskräfte, Italien wollte seine Sozialleistungen für die Arbeitslosen verringern. 1955 folgte das zweite und größere Abkommen, das als Vorbild für weitere bilaterale Verträge diente 1. Das Ergebnis: 1955 wohnten ungefähr 26.000 Italiener in Deutschland, 20 Jahre später waren es mehr als 600.000 2. Als Gastarbeiter sollten sie nur eine kurze Zeit bleiben und zum deutschen Wirtschaftswachstum beitragen, doch viele sind geblieben. „1961 bin ich in Köln angekommen und wollte am gleichen Tag zurück“, erzählt Mario. Mittlerweile ist er 82 Jahre alt, Köln hat er nie mehr verlassen.
Das Italien der fünfziger Jahre war ein Land im Wandel. Die Folgen des wirtschaftlichen Wachstums waren nur ungleichmäßig zu spüren und den Einwohnern, die in den ärmsten Regionen lebten, blieb oft nur die Auswanderung. So emigrierten viele nach Deutschland: mit dem Zug fuhren sie über Neapel und Verona (wo die „Deutschen Kommissionen“ saßen) und wurden dann in die deutschen Industriegebiete verteilt, auf sie wartete ein Bett in provisorischen Baracken und eine Stelle in den Zechen oder Fabriken. Sprachkenntnisse hatten sie nicht, klare Vorstellungen über das Leben in Deutschland auch nicht und oft keinen gelernten Beruf. Nein, es war nicht einfach: eine richtige Wohnung vermietet zu bekommen, Beziehungen zu Einheimischen aufzunehmen, die Zusammenführung mit der Familie zu organisieren. Keine Überraschung, dass viele Migranten bald zurückkehrten.
Auf die Italiener reagierte die einheimische Bevölkerung mit Skepsis. Wie auch heute, wurde damals das Unbekannte mit Klischees gefüllt: So galten die Italiener als rückständig, mit dem Messer schnell bei der Hand, temperamentvoll, faul. Sie trafen sich üblicherweise am Bahnhof, dem Ort der Ankünfte und der Abfahrten, was nicht gern gesehen war. „Am Anfang waren wir die ‚Badoglio‘. Die ‚Verräter‘. […] Dann, mit den Jahren, wurden wir ‚Spaghettifresser‘ und ‚Makkaronifresser‘. Und auch wenn du versucht hast, darauf zu reagieren, zurückzufrotzeln und sie ‚Kartoffelfresser‘ zu nennen, tat es immer ein bisschen weh. […] Irgendwann haben sie dann angefangen, uns ‚Itaker‘ zu nennen. Warum, das weiß ich wirklich nicht, ich habe es nie verstanden“, erzählt ein Migrant 3.
Heute
Ungefähr 560.000 Italiener leben heute in Deutschland und stellen somit, nach Türken und Polen, die drittgrößte Ausländergruppe im Land dar 4. Anders als früher werden sie von den Deutschen „kaum mehr als Problemgruppe angesehen“ 5. Doch integriert hat sich die Gruppe nur teilweise: obwohl die Mehrheit der Italiener seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt und viele gemischte Familien gegründet wurden, und obwohl die Italiener gute Sprachkenntnisse vorweisen können, haben sie durchschnittlich viel niedrigere Löhne und viel schlechtere Arbeiten als die Deutschen; außerdem werden sie als „bildungsfern“ bezeichnet 6. Selbst im Vergleich zur anderen Migrantengruppen, beeindrucken die Daten über die Ausbildung im negativen Sinne.
Und heute? Obwohl Italien mit den uns täglich erreichenden Bildern aus Lampedusa, eher als ein Ankunftsland wahrgenommen wird, sind die Migrationsflüsse nach außen als Folge der Krise wieder stark gestiegen: nach den Daten der Aire, dem Verzeichnis der im Ausland ansässigen italienischen Staatsbürger, haben 2013 ungefähr 82.000 Italiener ihr Land verlassen, 14.000 mehr als 2012 und 20.000 mehr als 2011 7 – nach inoffiziellen Prognosen werden es 2014 sogar 100.000 sein. Wenn man überdies bedenkt, dass sich nicht alle Italiener im Verzeichnis registrieren lassen, scheint die Zahl noch auffälliger. Nach Großbritannien ist Deutschland das am häufigsten gewählte Ziel. Die Italiener kommen zwar nicht mehr mit dem Pappkoffer und stammen nicht mehr nur aus den ärmsten Regionen, doch Ihre Beweggründe und Erwartungen erinnern an die Vergangenheit: die Suche nach einer Arbeit, einem festen Lohn, besseren Zukunftsperspektiven. Eine Suche, die oft nach Berlin führt: die Hauptstadt zieht wegen ihres kulturellen, politischen und sozialen Lebens an und wird vor allem von jungen Italienern bevorzugt. Doch die Statistiken selbst zeigen gleich die Kehrseite der Medaille: und zwar die eines weit verbreiteten, oft langfristigen Prekariats und schlechter Arbeitsverhältnisse.
Die Arbeitslosigkeit liegt in Italien gerade bei 13 % 8. Bei Personen zwischen 15 und 24 sind die Zahlen noch dramatischer (ungefähr bei 43 %), auch die jungen Erwachsenen unter 35 haben es schwer. Und wenn jemand einen Job hat, dann ist er oft schlecht bezahlt und unsicher. Nur deswegen ist Miriam Mannino, 30 Jahre alt, vor zwei Jahren nach Köln gezogen. „Ich habe mein Land nicht aus Spaß und mit Leichtigkeit verlassen, sondern ausschließlich wegen der Arbeit“, erzählt sie. In Köln arbeitet sie als Rezeptionistin in einem Hotel und als Babysitter. Nicht ihre Traumberufe, doch zumindest ein sicheres Einkommen am Ende des Monats. Deshalb wollen sie und ihr Mann, ebenfalls aus Italien, erst mal bleiben. Auch wenn sie wissen, dass die Integration in die Gesellschaft sehr schwierig ist. „Alle meine Freunde hier kommen aus Italien oder stammen zumindest aus italienischen Familien. Ich glaube, das hat auch mit der Mentalität zu tun“, erzählt sie.
- Es folgten Abkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968) zur Abwerbung ausländischer Arbeitnehmer.
- Vgl. L’emigrazione italiana nella Repubblica Federale Tedesca. In: Italiani in Germania tra Ottocento e Novecento. Hrsg. von Gustavo Corni und Christof Dipper. Il Mulino: Bologna 2006. S.189.
- Vgl. Margherita Carbonaro, Das Leben ist hier. Wolfsburg, eine italienische Geschichte. Metropol Verlag: Berlin 2012. S.119.
- Lange stellten die Italiener die zweitgrößte Ausländergruppe in Deutschland dar und wurden erst vor wenigen Jahren von den Polen überholt.
- Vgl. Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge: Fortschritte der Integration. Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. S. 229: „Das Zusammenspiel von vergleichsweise guter Arbeitsmarktintegration, sprachlicher und sozialer Integration bei italienischen Personen hat dazu beigetragen, dass diese heute kaum mehr als Problemgruppe anzusehen sind“.
- Ibidem. S. 15; S. 229.
- Die Daten stammen aus dem Aire-Verzeichnis der im Ausland ansässigen italienischen Staatsbürger.
- Die Daten, vom Italienischen Statistikamt Ende Oktober veröffentlicht, beziehen sich auf den Monat September 2014.
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Laut Wikipedia war „Itaker“ in der deutschen Landsersprache des Zweiten Weltkriegs die die Abkürzung für Italienischer Kamerad. Erst in den 1960er und 1970er gelangte der Begriff in die Umgangssprache als gängige abwertende Bezeichnung für „die Italiener“, wobei sich die Endung zu -er wandelte.