Normalsein in Deutschland
Warum ich meinem Sohn die Haare schneide
Ich schneide meinem Schwarzen dreieinhalb Jahre altem Sohn die Haare. Ich tue das nicht gerne. Ich möchte ihm seine schönen, 15 Zentimeter langen schwarzbraunen Locken erhalten. Es macht mich traurig. Denn ich habe das Gefühl, versagt zu haben - eine Mutter über das Normalsein in Deutschland
Von Tupoka Ogette Freitag, 19.09.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 24.09.2014, 17:54 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Sklavenhändler fingen bis zu 300 Menschen pro Ladung ein. Bevor sie in das Schiff getrieben wurden, schnitt man ihnen die Haare ab. Grund dafür war die Vorbeugung vor Läusebefall. Es war aber auch ein erster Akt der Entwürdigung und der Versuch, den nun versklavten Menschen ein Stück ihres Selbst zu rauben 1.
Heute, 2014, schneide ich meinem Schwarzen 2, dreieinhalb Jahre altem Sohn die Haare. Um Lausbefall mache ich mir keine Sorgen. Wohl aber darum, dass Übergriffe, Ausgrenzungen und Demütigungen, die er in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft aufgrund seiner „anderen” Haare erlebt, sein kleines Selbst so beschädigen können, dass für immer Narben bleiben.
I want to know my hair again, the way I knew it before I knew that my hair is me, before I lost the right to me, before I knew that the burden of beauty – or lack of it – for an entire race of people could be tied up with my hair and me. – Paulette Caldwell, „A Hair Piece” (2000: 275)
Ich tue das nicht gerne. Ich möchte ihm seine schönen, 15 Zentimeter langen schwarzbraunen Locken erhalten. Es macht mich unendlich traurig. Denn ich habe das Gefühl, versagt zu haben. Das Gefühl ihn zu verraten. Ihm einen wichtigen Teil seines Selbst nehmen zu müssen. Ich fühle mich wie die Sklavenjäger. Und doch nicht ganz. Denn der Grund, warum ich ihm die Haare schneide, ist ein anderer.
In alten afrikanischen Hochkulturen spielten Haare eine sehr wichtige sozialpolitische Rolle. Aufwendige und kunstvolle Haarfrisuren spiegelten den jeweiligen sozialen Status der Person wider, gaben Auskunft über Familien- oder Gruppenzugehörigkeiten. An der Frisur konnte man erkennen, ob eine Person verheiratet war, Kinder hatte, auf der Suche nach einem Partner oder einer Partnerin war. Die Haare und deren Pflege waren ein wichtiger Teil der eigenen Identität.
Als Anfang des 15.Jahrhunderts der transatlantische Sklavenhandel begann, wurden den Sklaven nicht nur die Haare abrasiert, sondern aufgrund der schwierigen, menschenunwürdigen Zustände verschwanden die elaborierten Haarstile schnell.
Im Zuge der Entmenschlichung dieser versklavten Menschen durch ihre weißen „Master”, wurde auch Sprache als gezielte Waffe eingesetzt. Sklavenhalter brachten versklavten Kindern bei, ihre Haare als „Wolle” zu bezeichnen. Jugendlichen Sklaven wurde der Selbsthass auf die eigenen Haare systematisch antrainiert 3. 1850 begründete der Wissenschaftler Peter A. Brown den „offensichtlichen Unterschied der Rassen” zwischen Schwarzen und weißen Menschen damit, dass weiße Menschen Haare haben und Schwarze stattdessen Wolle 4. Alles, was der weißen Herrenrasse ähnlich war, wurde als besser und erstrebenswerter angesehen. Haare wurden Teil des sogenannten „White pride”. So waren versklavte Menschen teurer, die hellere Haut hatten oder glattere Haare. Hellere Sklaven mit glatteren Haaren durften im Haus arbeiten, die anderen mussten aufs Feld. Haussklaven mussten ihre Frisuren mit heißen Eisen glatt und „präsentierbar” machen, um die „weiße Ästhetik” nicht zu „beleidigen”. Feldsklaven mussten Kopftücher tragen und durften ihre Haare nur am Wochenende, wenn sie unter „Ihresgleichen” waren zeigen.
Die durch Vergewaltigung der Sklavinnen durch ihre Master entstandenen Kinder hatten eine größere „bessere” Lockenstruktur und „schönere” helle Haut. Aber auch diese Kinder wurden bestraft, wenn die Haare nicht „gut genug” waren. Die Lockenstruktur der Haare wurde zum ultimativen Test, ob eine Person Schwarz oder weiß war 5. Dies ist auch der Grund, dass viele männliche Sklaven sich die Haare schoren, bevor sie einen Fluchtversuch unternahmen.
Nach dem Ende der Sklaverei hält die Entwertung Schwarzer Haare an. Schwarze Menschen, die ihre Haare ähnlich wie Weiße tragen, gelten als „gut integriert”. Studien belegen, dass sie einfacheren Zugang zu Schulen, Kirchen, sozialen Gruppen und Business Networks bekamen. Produkte wurden entwickelt, mit denen Schwarze Menschen ihre Haare „glätten” können. Trotz höllischer Schmerzen beim Auftragen und nachhaltigen Nebenwirkungen des chemischen Produkts (Ammonium Thyoglycolate) nutzen es bis heute Millionen von Schwarzen Menschen täglich, mit dem Wunsch, die Haare so glatt wie möglich zu bekommen.
In den 1960er Jahren wurden Schwarze Haare zum Symbol der Black Power Bewegung. Sie wurden Teil des Widerstands gegen die Vorherrschaft des weißen Schönheitsideals, und Frauen wie Angela Davis wurden zu Ikonen im Kampf gegen Rassismus und forderten unter Anderem damit weiße Vorherrschaft heraus. Menschen zeigten ihren Schwarzen Stolz indem sie große „Afros“ trugen mit dem Ziel, rassistische Stereotypisierungen anzuklagen, die besagten, dass Schwarze Menschen hässlich, nicht begehrenswert oder gar teuflisch seien 6.
Glatte „weiße” Haare sind weltweit trotzdem immer noch das Schönheitsideal. Es lächelt uns aus allen Schönheitszeitschriften, Filmen, Fernsehserien, und Straßenwerbungen entgegen. Und nicht nur das. Schwarze Frauen, die ihre Haare nicht glätten, haben bis heute schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem in Berufen in der Öffentlichkeit. Eines der für mich markantesten Beispiele sind die Töchter von Michelle Obama. Beide hatten bis zur Präsidentschaft ihres Vaters natürliche Haare, geflochten oder offen. Danach sieht man sie nur noch mit geglätteten Haaren. Ich gehe sogar soweit zu sagen, dass Obama vermutlich nicht Präsident hätte werden können, wenn seine Frau nicht geglättet Haare gehabt hätte.
- Byrd and Tharps 2001; White 2005
- Den Begriff Schwarz schreibe ich in dem Artikel groß, da es sich hier nicht um ein Adjektiv, sondern um eine politisch selbst gewählte Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen in Deutschland handelt.
- Bellinger; 2007
- Sieber und Herrmann 2000
- Der Test nannte sich „snow and blow” – Die Haut so weiß wie Schnee, die Haare fliegen im Wind = weiß
- hooks, 1995
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Interessanter Text, den ich trotzdem nicht nachvollziehen kann. Ich kenne niemanden, der heute nicht auf diese Locken steht. Das kenne ich aus eigener Erfahrung, auch wenn die Haare bei mir leider jedes Jahr dünner werden ;)
Tragt eure Locken, lasst eure Kinder Locken tragen und freut euch drüber! Wer etwas dagegen hat, ist meist nur neidisch und die dummen Sprüche legen sich mit dem Alter. Heute bin ich stolz, früher der „Lockenzombi“ gewesen zu sein :)
Früher hatte ich einen Freund aus Burundi, der war richtig schwarz, nicht nur dunkelbraun. Als Europäer wunderte ich mich über seine eng gekräuselten Haare und den groben Kamm, mit dem er sie pflegte.
Ein Araber bat mich einmal, meinen Bart anfassen zu dürfen, weil er meinte, das Barthaar der Europäer sei ebenso weich wie das Haupthaar. Doch da hat er sich geirrt.
Erst einmal meine Hochachtung an Sie, Frau Ogette,
für das teilen Ihrer Erfahrungen. Ich kann den Schmerz nachvollziehen, über den Sie sprechen. Wie unsäglich traurig, dass wir in 2014 noch immer so unsäglichen Übergrifigkeiten wie dem in_die_Haare_grabschen ausgesetzt sind, das der einzige Schutz davor eine solche radikale Entscheidung sein muss.
zu Rufus:
Mit solch arroganter Blasiertheit haben wir andauernd zu tun. Wie aber kann ein denkender, fühlender Mensch sich dazu versteigen, anderen Menschen unumwunden zu sagen: „Ertrage dumme Sprüche und andere Übergriffigkeiten, weil ich es hübsch finde. Lass Dich drangsalieren, es wird vorbei gehen.“ Nicht nur, dass es eben nicht vorbei geht, nicht nur, dass Schwarze Menschen in jedem Alter drangsaliert und beleidigt werden, verspottet, begrabscht, bedroht, verprügelt und getötet werden, nein, darüberhinaus das ignorante Ausmass an Selbstgerechtigkeit, zu glauben, es seie legitim, anderen Menschen zu sagen, was sie aushalten sollen. Das ist unerträglich.
zu Karakal: Nicht nur, das sie, anstelle der politischen Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen hier beginnen, dem shadeism zu frönen, nein, darüber hinaus auch noch ein Bericht aus dem Gruselkabinett des: „Ja, Du erlebst strukturellen Rassismus, aber ich habe auch schon mal ein einzelnes Erlebnis gehabt, das sich zwar mit Deinem nicht vergleichen lässt, für mich aber die Möglichkeit bietet, hier mal etwas doof rumzueiern.“ Also bitte, Danke
Rufus:
1. Schön, dass DU — mutmaßlich weiß — niemanden kennst, der nicht auf Locken steht. Das ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass schwarze Menschen aufgrund ihres Aussehens, hier Locken, schon von klein auf gedemütigt werden, sodass sie diesen Teil nur schwerlich als ihre Identität begreifen können. Das fängt schon in einem Alter an, indem die Entwicklung einer eigenen Identität noch ganz am Anfang steht. Das kann dann z.B. solche Auswirkungen haben, dass sich schwarze Männer auf blond färben und anderweitig versuchen ihr Schwarzsein auszuradieren. Natürlich kommt niemand zu dir und heult sich darüber aus, wie scheißer er doch N-Locken findet. Solche Menschen erzählen das aber Menschen wie uns.
2. Sprüche zu Locken legen sich mitnichten im Alter. Ich, über 30, kann davon ein Lied singen, wie andere Menschen, aussschließlich weiß, in ihren 20ern, 30ern, 40ern 50ern usw. noch heute (!) über meine Locken herziehen und schlimme Dinge sagen. Auf offener Straße.
3. Im Artikel wurde idiotensicher erklärt, warum es sich bei dieser Haarsache um Grenzverletzungen handelt und welche Schäden das schon bei kleinen Kinder zur Folge hat. Das Problem ist nicht, dass dues nicht nachvollziehen kannst, sondern nicht willst.
Leider haben weder Rufus noch Karakal den Artikel verstanden. Rufus, es geht nicht um lockige Haare, sondern um Othering, um andauernde Grenzüberschreitungen und daraus resultierende Verletzungen Schwarzer Menschen durch weiße Menschen. Ich selbst bin weiß und habe auch lockige Haare, aber ich habe an keinem einzigen Tag meines Lebens auch nur annähernd ähnliche Übergriffe erlebt wie sie meine Schwarzen Töchter beinahe täglich abwehren müssen.
Für Karakal gilt im Prinzip genau das gleiche. Nur weil einmal jemand deinen Bart anfassen wollte, willst du dich doch nicht ernsthaft mit denen vergleichen,die jeden Tag mit solchen Übergriffen rechnen müssen. Und zu deinem Freund aus Burundi möchte ich folgendes anmerken: Früher hatte ich einen Freund aus Deutschland, der war richtig weiß wie Schnee, nicht nur so rosig-beige… Merkst du was? Klingt schräg, wenn das mal umgekehrt wird, oder? Und es ist so eine völlig überflüssige Information, die so gar nichts über diesen Freund aussagt, um so mehr aber über dich und deine Sicht der Welt.
Abgesehen davon, dass kurze Haare aus der Sicht kleiner Jungs den Vorteil haben, ihnen die lästige Prozedur des Auskämmens und, noch schlimmer, die Verwechslung mit einem Mädchen zu ersparen, das ungefragte Begrapschen von „ach wie süßen“ kleinen Kindern, egal aus welchem Motiv, ist ein Übergriff, den sich jede Mutter verbitten kann.
Ich meine, was ist die Lösung? Wenn Menschen nichts Schlimmes dabei finden, einfach mal zu prüfen, wie sich krauses Haar anfühlt, oder ihre Übergriffigkeit gar als freundliches Interesse auffassen, nützt es nichts, auf die rassistische Bedeutung hinzuweisen. Damit fordert man das Gegenüber höchstens zum Widerspruch heraus.
Einzige Lösung eigenen Kindergarten organisieren mit Nichtdeutschen dunkleren Menschen. Dann wird einem Kind auch nicht von kleinauf Minderwertigkeitskomplexe eingetrichtert.
Pingback: Links 21.09.2014 – ryuus Hort
Meine Kinder sind weder schwarz noch haben sie schwarze Locken. Trotzdem gibt es -vor allem in der älteren Generation- immer wieder Leute die gern mal in Kinderwagen oder Karre grapschen. Grad gestern bei einem anderen nicht-schwarzem Kleinkind beobachtet.
Es hat doch nichts mit Schwarz oder Locken zu tun, sondern in D ist es halt immer noch so das Minderheiten ausgegrenzt, begrapscht, beleidigt, drangsaliert usw werden. Rassismus stirbt nicht in diesem Land.
Es sind doch nicht nur schwarze Kinder Opfer von Übergriffen diverser Art. Was ist mit denn z.B. mit muslimischen Kindern? Anders als Frau Ogette buckeln die Familien aber nicht und assimilieren sich, sondern stehen zu dem wer und was sie sind. Und das obwohl die Kinder von Klein auf immer wieder Angriffe erleben und es auch nicht mit der Volljährigkeit endet sondern weiter statt findet.
Ich habe mich sehr über diesen Artikel geärgert und frage mich am Ende der Lektüre was jetzt eigentlich damit bezweckt wird? Waren wir nicht schon mal weiter? Warum muss sich eigentlich der moderne „schwarze“ Mensch immer noch den Sklavenhut überstülpen? Für mich liegt da bereits der Denkfehler, man macht sich automatisch klein und klagt dazu noch seine „weißen“ Zeitgenossen an. Da wird ein riesiger Minderwertigkeitskomplex weitergegeben. Es ist entsetzlich!
Bildet eure Kinder und lehrt sie Manieren und sie werden von der Gesellschaft angenommen. Ich wünschte ich hätte diesen Artikel nicht gelesen! Mir tun die Kinder Leid die so eine Story mit auf den Weg bekommen. Mich belastet das in einer Art und Weise dass ich wütend auf jene „Brüder und Schwestern“ der „Afrodeutschen“ Fraktion bin – die diese Form von gesellschaftlicher Auseinandersetzung vertreten. Ich frage mich wo dieser selbstauferlegte Feldzug denn noch hinführen soll? Orientiert Euch nicht immer nur am Big Brother USA – wir sind Deutsche und haben eine eigene Identität und sollten stolz und froh sein dass wir hier noch einigermaßen frei atmen können. Warum spalten wir nun weiter die Gesellschaft und ziehen uns in unsere Grüppchen zurück? So etwas in einem „Fachblatt für Migration und Integration“ zu lesen ist eine Bankrotterklärung! Es geht doch um ein Miteinander – nicht um ein Gegeneinander.
Steht auf und seid stolz auf euer multilaterales Erbe und bereichert die Gesellschaft mit Intelligenz und Humor. Damit überwindet man überall Grenzen! Und hört mir auf mit Farben, es widerstrebt mir schon Schwarz/Weiß zu schreiben denn ich hasse es Menschen auf ihre Hautfarbe zu reduzieren. So einfach ist die Welt nicht und wenn wir Respekt und Toleranz von anderen einfordern müssen wir als Erstes bei UNS SELBST anfangen.
Fassungslos,
Pat Appleton
P.S. Falls jetzt die Nachfrage nach meiner Herkunft kommt: googelt mich gern: meine Mutter ist Deutsche, mein Vater ist Liberianer und wenn Schwarze Menschen mein ungeglättetes Haar sehen fragen sie mich immer was ich da rein tue um es so glatt zu machen. (Gar NIX im übrigen!) Soll ich deshalb jedes Mal ausrasten oder muss ich das nur wenn die Frage von Weißen kommt? Ich sage dann immer das mir mein Preußisches Temperament die Haare glattgebügelt hat. Stimmt ja auch irgendwie!