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Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen

„Wir müssen mehr Reflexions- und Vertrauensräume schaffen“

In den vergangenen Wochen hat in Deutschland eine neue Debatte um Antisemitismus angefangen. Im Mittelpunkt stehen muslimische Jugendliche. Das Mentoringprogramm „Dialog macht Schule“ ist bundesweit an Schulen in sozialen Brennpunkten tätig. MiGAZIN sprach mit den Geschäftsführern Hassan Asfour und Siamak Ahmadi über Antisemitismus, politische Bildung und die Interessen von Jugendlichen.

Von Freitag, 08.08.2014, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.08.2014, 23:11 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

MiGAZIN: Junge Muslime haben teilweise auf Demonstrationen gegen die israelische Militäroffensive in Gaza antisemitische Parolen skandiert. Gleichzeitig gehen diese Jugendlichen in Deutschland zur Schule. Hat vielleicht da das deutsche Bildungssystem versagt?

Siamak Ahmadi: Hier sollte man nicht pauschalisieren. Das Bildungssystem hat bislang einfach noch nicht umgeschaltet von dem deutschen Durchschnittschüler zu einer multikulturellen Schülerschaft. An den Schulen, in denen wir unterwegs sind, machen Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien nicht selten über 80 Prozent der Schülerschaft aus. Ein Großteil kommt aus sozial- und bildungsbenachteiligten Familien. Dagegen haben Lehrkräfte auf der anderen Seite häufig keine Einwanderungsgeschichte und eine ganz andere Sozialisation – natürlich fällt es ihnen nicht leicht, sich in die Lebenswelt ihrer Schüler hineinzuversetzen. Unsere Dialogmoderatoren haben es da natürlich einfacher, Zugänge aufzubauen. Viele von ihnen haben eine eigene Einwanderungsgeschichte, sie sind jung und kommen aus dem Kiez. Sie werden als Vorbilder wahrgenommen und schaffen es, Zugänge aufzubauen. Ich bin der Meinung, dass das Bildungssystem die Herausforderungen, die mit einer heterogenen Schülerschaft einhergehen, nicht mehr alleine lösen kann. Schulen sollten sich schrittweise öffnen und mit externen Akteuren zusammenarbeiten, die die vielfältige Gesellschaft widerspiegeln. Nur so kann sich das Bildungssystem auf den Normalfall Vielfalt einstellen.

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Warum hat das Deutschland bislang noch nicht geschafft?

Ahmadi: Die Entwicklung des Bewusstseins, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, hat Jahrzehnte gedauert und wird teilweise immer noch nicht gelebt. Aus diesem Grund hat sich die Lehrerausbildung an den Universitäten noch nicht auf diese bunte Schülerschaft einstellen können. Allmählich stellen sich die Universitäten auf eine heterogene Schülerschaft ein, aber wir brauchen noch Zeit und geeignete praxisorientierte Angebote.

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Erschwerend kommt hinzu, dass lediglich 6 Prozent der angehenden Lehrer bundesweit einen Migrationshintergrund haben. Wir sind leider noch sehr weit davon entfernt, dass sich daran etwas ändert.

Einige Kommentatoren gehen davon aus, dass muslimische Kinder generell mit „anderen“ Werten aufwachsen, ja sogar von den Eltern antisemitisch erzogen werden. Was ist Ihre Erfahrung?

Hassan Asfour: Wir müssen differenzieren, wenn wir von muslimischen Kindern und muslimischen Eltern sprechen. Es wäre absurd zu glauben, dass alle Familien, die einen muslimischen Hintergrund haben, ihre Kinder auf die gleiche Weise erziehen. Natürlich gibt es Familien, die aus der Konfliktregion stammen und aufgrund ihrer Erfahrungen und Geschichten erhebliche Vorbehalte gegen Israel haben; einige unterscheiden hier leider auch nicht zwischen dem Staat Israel und dem Judentum. Dabei vermischen sich auch häufig starke Emotionen, Fehlinformationen, Verschwörungstheorien und antijüdische Propaganda, die in einigen Medien verbreitet werden. Kinder lernen nicht, sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Auf der anderen Seite haben wir in den Schulen oft die Situation, dass das Thema Nahost nicht besprochen wird, weil es ein „heißes Eisen“ ist, bei dem die Emotionen sehr schnell sehr hoch kochen können. Dabei ist der Bedarf so groß, dieses Thema in der Schule zu behandeln, da viele der Ressentiments gegen Juden auch aus diesem Konflikt entstanden sind und immer noch entstehen.

Infobox: Dialog macht Schule ist ein langfristiges Mentoringprogramm und unterstützt Jugendliche aus benachteiligten Einwanderfamilien direkt in den Schulen in sozialen Brennpunkten. Im Rahmen eines Zusatzangebots zum regulären Unterricht helfen ausgebildete Dialogmoderatoren den Schülern bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen sowie politischen Partizipation. Dialog macht Schule wird von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert Bosch Stiftung gefördert.

Was muss sich also ändern?

Asfour: Wir müssen mehr Reflexions- und Vertrauensräume in den Schulen schaffen und herausfinden, was die Schüler bewegt, warum sie diese teilweise doch sehr starken und sehr radikalen Ansichten haben. Offener mit diesem Thema umzugehen und Raum dafür zu schaffen, kann viel dazu beitragen, dass mit vielen Mythen und Konstrukten aufgeräumt wird und eine differenzierte Debatte um dieses Thema entstehen kann. Wir beobachten, dass viele Schüler es als belastend empfinden, dass ihre Themen häufig nicht angesprochen werden. Es entsteht schnell das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Das wiederum führt zu Frust und verstärkt ihren Eindruck, dass ihre Interessen und ihre Geschichten weniger Wert seien. Zugleich müssen diese Themen glaubwürdig und differenziert vermittelt werden. Dafür braucht es authentische Akteure, die zum einen fachlich kompetent sind und zum anderen einen Zugang zu diesen Schülern haben.

Was soll in so einem Reflexions- und Vertrauensraum passieren?

Ahmadi: Die Themen der Schüler sollten durch eine wertschätzende und von Neugier geprägten Haltung erkundet werden. Dafür haben wir in den zwei Jahren, in denen wir zu zweit mit den Jugendlichen ab der 7. Klasse in kleinen Gruppen von maximal 15 Schülern arbeiten, genug Zeit. Dabei werden stets die lebensweltlichen Themen der Schüler auf eine gesellschaftspolitische Ebene gehoben und vertieft. Aus einem Gespräch über den letzten Twilight-Film kann die Brücke zum Thema Geschlechterrollen geschlagen werden. Das Thema Facebook kann mit der NSA-Ausspähaffäre verknüpft und in diesem Zusammenhang der Wertekonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit diskutiert werden. Darüber hinaus können aus dem Streit zwischen Klassenkameraden demokratische Grundkompetenzen eingeübt werden – wie beispielsweise Versprachlichung von Konflikten und wie man sich eine eigene Meinung bildet und andere Meinungen aushält. Für das Thema Nahostkonflikt hat sich das biographische Lernen von Friedensaktivisten – wie Mahatma Gandhi – als gute Methode erwiesen, die wir bereits in unseren Reflexions- und Vertrauensräumen in den Schulen nutzen, um den Schülern eine gewaltlose und differenzierte Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen zu ermöglichen. Aktuell Gesellschaft Interview

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  1. aloo masala sagt:

    @Wolfgang

    Als Islamisten am 11 September 2001 in New York das World Trade Center versenkten, starben mit einem Schlag etwas mehr Menschen als im aktuellen Gaza Krieg.

    Man stelle sich vor, dass bei Anti-Islamisten Demonstrationen in Deutschland, eine aufgebrachte Menge Muslime ins Gas wünschen und unschuldige Muslime verprügeln würde. In diesem Fall erwarte ich, dass sich meine Regierung in erster Linie um ihre eigenen inneren Angelegenheiten kümmert und diesen Rassismus scharf verurteilt.

    Ich stimme Ihnen allerdings ausdrücklich zu, dass eine Debatte über israelischen Terror in Gaza weder in den Medien noch in der Politik stattfindet, sondern eher in Bogs und Leserkommentaren. Hier fehlt sowohl Journalisten als auch Politikern der Mut, Israel mindestens ebenso scharf anzuklagen, wie es die Springer Presse mit der Hamas tut. Ich gehe davon aus, dass auch unter Journalisten und Politikern eine Reihe von Typen sind, die ähnlich denken wie wir, aber sich nicht trauen ihre Meinung frei zu äußern.

  2. Han Yen sagt:

    Die deutschen Medien produzieren gut und gern jeden Tag unglaubliche Mengen an Kommunikationsmüll. Der wahre Grund für die deutsche Liebe zu Israel ist nicht die Shoa Erfahrung, sondern der militärische Nutzen Israels als unsinkbarer Flugzeugträger der NATO. Ohne Bodentruppen funktioniert das AirSea Battle Konzept der Amerikaner nicht. Israel und die Türkei sind da wertvolle nützliche Idioten. Israels Existenz ist eine Garantie, dass die USA ihren Teil des Petrodollars Deals mit den Saudis erfüllen kann – nämlich sie gegen äußere Angriffe zu verteidigen. Auf dieser ökonomischen Grundlage lebt die US Militärmacht, die die Ölversorgung für die EU und die asiatischen Verbündeten der USA sichert.

    Israel hat Züge eines Apartheid-Staates – das in den deutschen Medien immer unterschlagen wird. Übrigens hat die deutsche Regierung und Geheimdienst tatkräftig mit geholfen das Apartheid-Regime in Südafrika am Leben zu unterhalten wegen Israel. Das weiße Südafrika war nämlich der größte Waffenkäufer der israelischen Rüstungsindustrie. Ohne Südafrika ist Israel richtig teuer für die NATO. Zum Glück sind die Israelis unternehmerisch ud bieten ihre Waffen und militärisches Training inzwischen asiatischen Staaten an, die sich gegen dem vom Westen generierten islamischen Terror wehren müßen. Das gleicht das Budget wieder aus.