Koexistenz
Unser Land
Juden und Muslime gehören zur Bundesrepublik. Zum gegenseitigen Verständnis gibt es keine Alternative. Ein Plädoyer von Igor Mitchnik. Denn: "Wir werden auch in Zukunft in diesem Land zusammenleben."
Von Igor Mitchnik Freitag, 08.08.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.08.2014, 23:12 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es ist nicht das erste Mal, dass vornehmlich muslimische Jugendliche auf die Straße gehen und Hassparolen gegen Israel und „die Juden“ skandieren. Eine deutsche Freundin sagte mir dazu: „Wegen Antisemitismus braucht ihr Juden euch ja keine Sorgen mehr zu machen.“ Als ich sie nur verwundert anstarrte, führte sie ihren Gedanken aus: „Ihr habt doch ein eigenes Land!“
Das war zumindest die zionistische Idee der israelischen Staatsgründung: nach dem Grauen der Schoa Juden eine Zuflucht vor weltweiter Verfolgung zu bieten. Doch die Freundin könnte nicht weniger recht haben: Wegen der permanenten Kriegssituation in Israel hatten sich vor allem aus der Sowjetunion geflohene Juden wie meine Eltern vor Jahren bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden.
Es war kein Plan B, hierherzukommen. Nein: Sie zogen trotz der grausamen nationalsozialistischen Geschichte das sichere Deutschland dem jüdischen Staat vor. Ihre Kinder sollten hier aufwachsen – fern von Krieg, Hass und Gewalt des Nahostkonflikts.
Eskalation
Aber schockiert sehen wir uns nun täglich auf deutschen Straßen mit ebendiesem Hass konfrontiert. Der Konflikt verfolgt uns bis nach Deutschland; Gewalt gegen uns bricht nicht nur bei jeder neuen Eskalation im Nahen Osten aus. Nein, Antisemitismus aus dem muslimischen Milieu ist leider alltägliche Realität.
Und der kommt auch nicht von irgendwoher: Vielmehr zeigt sich, dass wir alle, Juden und Muslime, auch wenn wir in Deutschland leben und Deutsche sind, uns nicht dafür entscheiden können, wichtige Bezugspunkte unserer Identität hinter uns zu lassen. Es gibt aber auch keinen Grund, warum wir das tun sollten, warum wir Israel oder die arabische Welt vergessen sollten, um hier friedlich nebeneinander leben zu können. Eine einheitliche Position zum Nahostkonflikt haben wir Juden ja nicht einmal untereinander: Deutsche Juden wie Micha Brumlik und Dieter Graumann, Tovia Ben-Chorin und Michel Friedman vertreten völlig unterschiedliche Positionen zur israelischen Politik.
Unser Pluralismus liegt in der jüdischen Tradition. Warum sollten wir diesen Pluralismus nicht auch mit den zahlreichen muslimischen Communitys teilen können? Warum schlagen dort die Meinungsunterschiede mit uns so oft in antisemitische Anfeindungen um? Selbstverständlich teilen nicht alle Muslime in Deutschland die antisemitischen Ansichten, die zuletzt bei Demonstrationen in Essen, Frankfurt und Berlin skandiert wurden. „Ich würde mir wünschen, dass all jene, die durch die jetzige Eskalation nicht fanatisiert sind, immer wieder laut sagen: Wir sind da!“, schreibt Mohamed Amjahid in einem Kommentar für den Berliner Tagesspiegel. Er hat recht.
Komplexer
Wir müssen unsere leidenden und sterbenden Verwandten und Freunde im Nahen Osten nicht vergessen, um einzusehen, dass unser gemeinsames Leben in Deutschland nicht mehr zur Debatte steht. Der Nahostkonflikt ist viel komplexer, als dass man ihn zu einem weltweiten Krieg zwischen Juden und Muslimen stilisieren dürfte. Und selbstverständlich ist es nicht ein Krieg zwischen angeblichen „Kindermördern“ und „Widerstandskämpfern“. Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Schon gar nicht können wir den Konflikt auf deutschen Straßen austragen oder gar lösen.
Das wollen wir auch nicht. Deswegen sind wir nicht aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Daher werden wir, die als Zuwanderer das neue jüdische Leben im Land der Schoa mehrheitlich prägen, wegen des neuen Antisemitismus in Europa – egal ob er rechts oder links, islamistisch oder bürgerlich-konservativ motiviert ist – nicht fliehen.
Denn genauso wenig wie für uns ist Deutschland für die allermeisten der muslimischen Jugendlichen eine Zwischenstation. Oft ist es das einzige Land, das sie kennen. Rassistische Kommentare, der Islam sei ein Integrationshindernis, führen am Problem vorbei. Der Islam und die Muslime hierzulande sind, wie wir Juden, Teil von Deutschland.
Machete
Vor einiger Zeit saß ich mit einer afghanischen Freundin in einem Café. Auf einmal sagte sie mir, dass ihr Vater mich mit einer Machete in Stücke hauen würde, wenn er mich träfe. So habe er seit ihrer Kindheit über Juden gesprochen. Ich fragte sie, ob er je Juden begegnet sei. Sie überlegte kurz, schüttelte verneinend den Kopf. Wir wechselten das Thema. Aber ich hätte den Vater gerne getroffen und ihm das Selbstverständliche gezeigt: dass ich ein Mensch bin wie er und seine Tochter.
Außer Bildung und Begegnung gibt es keine vernünftigen Antworten auf Vorurteile, Verschwörungstheorien und Hass. Deswegen müssen wir europäischen Juden uns gleichwohl Sorgen machen, wegen des grassierenden Antisemitismus. Egal, ob deutsche Freundin oder afghanischer Papa – beide ignorieren den gleichen Punkt: Wir werden auch in Zukunft in diesem Land zusammenleben. Aktuell Meinung
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Eigentlich selbstverständlich…
Der Israel/Gaza-Konflikt ist kein Religionskrieg.
Schon deshalb können in Deutschland lebende Juden oder Muslime keine Stellvertreter für Israel oder Gaza sein.
Gewalttätige Auseinandersetzungen die 3.000 km weit entfernt stattfinden, dürfen hier nicht fortgesetzt werden.
Philosemitismus und Antisemitismus sind wichtige Zutaten, um anti-muslimischen Rassismus zu legitimieren. Hinter dem philosemitischen Schutzschild mobilisieren pro-amerikanische Rechte einen Rechtfertigungsdiskurs, um die Anti-Kriegsrhetorik als antisemitisch denunzieren zu können.
Sarrazin beschwörte das jüdisch-christliche Abendland gegen den muslimischen Geburten-Jihad. Kurze Zeit später werden die Juden wieder aus dem Zylinder gezaubert in der Beschneidungsdebatte, um die sexuelle Alterität der Juden und Muslims an den Pranger zu stellen, und sie zusätzlich als unsichere Kantonisten bei Menschenrechten zu denunzieren. Strategisch geschickt wurde dabei die Beschneidung der jüdischen und muslimischen Jungen gewählt, weil „Gewalt“ gegen Kinder einer breiten Medienaufmerksamkeit sicher ist. In diesem Fall traf man ins Schwarze, weil es als rituelle Gewalt gegen unmündige Jungen in die Köpfe gehämmert werden konnte. Die Angreifer sind nicht so weit gegangen, um die antisemitische Ritualmord Legende wieder zu beleben. Kastrationsängste haben diesmal gereicht, um stereotype Wahrnehmung von Juden und Muslimen als signifikanten Anderen in der BRD zu etablieren.
Die Verteidiger der Jungen-Beschneidung konnten als Kulturrelativisten verlacht werden. Die anti-feministische Männerbewegung konnte ihre Munition verschießen, um die Ungleichbehandlung von Jungen-Beschneidung und Klitoris-Beschneidung anprangern zu können. Die diskursiven Bodengewinne von Alice Schwarzer, Necla Kelek, Seyran Ates wurden so wieder von ihren Puppenspieler eingesackt.
Was kommt als Nächstes ? Ich gehe eine Wette darauf ein, dass die Rechte auf die Idee kommt, landesweit Streitgespräche zwischen Juden, Muslims, Katholiken und Prostestanten und LBGT zu inszenieren, um Homosexualität im Unterricht zu verhindern.
Ich habe in Deutschland noch nie offenen Antisemitismus erlebt.
Ich glaube eher dass das momentan von den pro-jüdischen Medien hochgeschaukelt wird um von den aktuellen Kriegsverbrechen seitens der Israelischen Regierung gegen die Palästinenser abzulenken.
Oder habt ihr schon mal eine „headline“ gelesen wo steht:
“ Muss Netanjahu vors Kriegsverbrechertribunal wenn er unschuldige Frauen und Kinder umbringen lässt???“.
Oder haben diese so „seriösen“ Nachrichtenorgane schon mal geschrieben: „Der Gaza-Krieg muss beendet werden“ oder „Die 2-Staaten-Lösung muss her wenn man den Frieden herbeiführen will“?
Ich erlebe tagtäglich, wie türkische Mitbürger (und auch andere, vornehmlich
muslimische) den Begriff „Jude“ als Schimpfwort, als abwertende Bezeichnung benutzen. Dazu gibt es dann einschlägige Ansichten, wonach Juden an praktisch allem, was gerade in den Medien an negatives berichtet wird, Schuld sind.
Für diese durchaus „offene“ Abneigung gegen Juden muss man sich nur öfters unter Migranten aufhalten, speziell in den islamischen Communities.
Gerne wird immer wieder auf vorgeschoben, es gehe ja nur um die brutale Behandlung der Palästinenser durch die Israelis, aber dieses Scheinargument ist schnell entlarvt.
*Survivor* hat freundlicherweise den passenden Beitrag geschrieben, wo alles nötige dabei ist : die negierung des faktischen Judenhasses unter den Muslimen (hauptsächlich, aber nicht nur), die pauschale Annahme von verlogenen westlichen Medien (natürlich mit jüdischer Beteiligung),
und der Hinweis, wie schlimm Isreal aber wirklich handelt.
Dawid hat freundlicherweise alles geschrieben, aus dem erkennbar ist, dass er Kritik an Israel und die Kritik an proisrelischen Medien mit Antisemitismus gleichsetzt. Dass Sie tagtäglich erleben, wie der Begriff „Jude“ als abwertendes Schimpfwort von türkischen Mitbürgern verwendet wird, nehme ich Ihnen nicht ab. Ich habe durchaus auch guten Kontakt zu Türken und habe das noch nie, nicht einmal ein eiziges Mal gehört.
@surviver
Es ist beides! Es gibt tatsächlich eine antisemitische Stimmung unter muslimischen Einwanderern, diese ist aber nicht so schlimm wie in den Medien dargestellt und geschweige denn vom ZdJ, aber sie ist auch nicht so vernachlässigbar klein, als ob es kein Klärungsbedarf geben würde!
Es muß verhindert werden, dass der Gaza-Konflikt nach Deutschland importiert wird!