Der Politische Islam

Opposition, Krise und Macht

Seitdem die ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) im Irak wüted, hat der Politische Islam es wieder auf die Titelseiten hiesiger Medien geschaft. Doch was steckt dahinter? Hat es eine Zukunft? Imad Mustafa über Muslimbrüder, Hamas und Hizbollah.

Von Imad Mustafa Freitag, 04.07.2014, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 08.07.2014, 20:36 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Mediale Aufmerksamkeit für den Politischen Islam verläuft in Wellen. Häufig, wenn ein Ereignis den Sprung vom nicht wahrnehmbaren Hintergrundrauschen auf die vorderen Seiten der Zeitungen schafft, geht es um Terrorismus, Demokratiefeindlichkeit, Frauenunterdrückung. Diese Form der Themensetzung schafft ein Gesamtbild, das sowohl die Trennung zwischen Islam als Religion und Politischer Islam als Ideologie aufhebt, als auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen islamischen Parteien, Bewegungen und Organisationen verwischt. Auf diese Weise werden alle Muslime pauschal dem Verdacht der Rückständigkeit, Modernitätsfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft ausgesetzt.

Kolonialismus und islamisches Erwachen
Diese Sichtweise verkennt jedoch die Tatsache, dass der Politische Islam selbst ein Kind der Moderne ist und nur in der Auseinandersetzung mit europäischen Einflüssen entstehen konnte. Vordenker wie der Ägypter Muhammad Abduh (1849-1905) oder Dschamal al-Din al-Afghani (1839-1897) forderten zwar eine „Rückbesinnung auf die Ursprünge des Glaubens“, jedoch unterwarfen sie diese Forderung zwei entscheidenden Einschränkungen: Es müsse ein Modus gefunden werden, der es den Menschen erlaube, nach den Regeln des Korans und der prophetischen Lebensweise zu leben, und der gleichzeitig vereinbar mit der „neuen Zeit“ sei. Um dies zu erreichen, sei zweitens eine Neuinterpretation eben jener ewigen Regeln mittels der Vernunft notwendig. Nur so sei ein authentischer kultureller Ausdruck für den Islam möglich, der die Bedingungen der Moderne berücksichtige.

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Die Wurzeln dieses Diskurses lagen nicht zuletzt in den gesellschaftlichen und politischen Krisen, die der Kolonialismus in der arabisch-muslimischen Welt ausgelöst hatte. Neben der militärischen Unterlegenheit zeigte sich für Abduh und Afghani das ganze Ausmaß des zivilisatorischen Niedergangs auf der Ebene der Kultur und der Wissenschaft, der einstigen Domäne der Muslime. Deshalb müsse man von Europa lernen und nur die „negativen Begleiterscheinungen“ wie „Materialismus, Kolonialismus und Säkularismus“ ablehnen.

Krisen als Motor des Politischen Islam
In den folgenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sollten Krisenerfahrungen und die politische Opposition dagegen der Motor des Poltischen Islam bleiben. Dabei spielten sozioökonomische Umbruchsprozesse wie Landflucht, Verelendung weiter Teile der Bauernschaft und die damit verbundene Herausbildung neuer, urban-kleinbürgerlicher Mittelschichten eine große Rolle. Auf der politisch-ideologischen Ebene förderte das Scheitern des (pan)arabischen Nationalismus, das sich 1967 durch die israelische Eroberung Ostjerusalems und des Tempelbergs auf drastische Weise manifestierte, den Durchbruch des Politischen Islams als beherrschender Ideologie.

Der dauerhafte Erfolg dieser Bewegungen, der sich in millionenfacher Anhängerschaft in der gesamten arabischen Welt widerspiegelt, gründet sich in erster Linie auf deren Vermögen, schneller, günstiger und effizienter Hilfe zu leisten, als es die meisten arabischen Staaten jemals waren. Sie haben es geschafft, die Unzufriedenheit und Nöte der Menschen zu bündeln und sie glaubwürdig auszudrücken. Der Wohlfahrtssektor von Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah trägt heute wesentlich zur Sicherung des Lebensunterhalts von Millionen Menschen bei. Die angebotenen Leistungen reichen von Kindesbetreuung, Gesundheitsfürsorge, Altenbetreuung bis hin zu Armenspeisung und dem Erbringen von breiten Bildungsangeboten sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene.

Der Politische Islam und die Frage der Macht
Seit Ausbruch der arabischen Revolten und Revolutionen 2011 sind viele Akteure aus dem islamischen Spektrum an die Macht gekommen – auch wenn dies mit Rückschlägen verbunden ist. Zum ersten Mal seit ihrer Entstehung haben viele Bewegungen die Möglichkeit, nicht nur als oppositionelle Wohlfahrtsorganisationen in Erscheinung zu treten, sondern auch als aktiver, politischer Gestalter ihres jeweiligen Nationalstaates. Ihre zum Teil über Jahrzehnte entwickelten, breiten Programme, die auf Staatsprinzipien, Durchsetzung von Bürger- und Minderheitenrechten sowie ökonomische Prinzipien eingehen, mussten sich nun der politischen Realität stellen. Die Frage, die diesen Programmen zugrunde liegt, und an der sich die Geister innerhalb des islamischen Spektrums selbst immer wieder scheiden, ist die der Implementierung der Scharia.

Während salafistische Strömungen, wie die al-Nur-Partei, auf die buchstabengetreue Umsetzung aller schariarechtlichen Bestimmungen des Korans bestehen, legen Bewegungen wie Hizbollah, Muslimbrüder und Hamas eher wert darauf, dass lediglich die aus dem Koran ableitbaren, abstrakten Prinzipien und Werte wie (soziale) Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit umgesetzt werden. Dies führt dazu, dass die al-Nur-Partei Frauen nur mit Hinweis auf die „traditionellen gesellschaftlichen Werte“ Gleichheit gewähren will, während man eine solche Einschränkung bei der Hizbollah oder der Hamas vergeblich sucht. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn es um die Gewährung der Rechte für religiöse Minderheiten geht.

Ähnliche Unterschiede ergeben sich in wirtschaftspolitischen Fragen, wo die Verfechter einer wörtlichen Auslegung des Korans eher einem neoliberalen Individualismus das Wort reden, in dem jeder seines Glückes Schmied ist. Soziale Fürsorge erscheint in diesem Kontext nur als nachträgliches Almosengeben, um die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden. Hizbollah und Hamas hingegen fordern einen intervenierenden Sozialstaat, der eine Sozialversicherung für alle Bürger als zentrales Prinzip vorsieht. Aktuell Meinung

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  1. H.P.Barkam sagt:

    Gut!

  2. u. h. sagt:

    Der irakische Schriftsteller Achmed Wali hat bei seiner „Reise in das Herz des Feindes“ gelernt, daß Demokratie nicht die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit bedeutet, sondern die Gewährung der Minderheitenrechte. Dies müssen anscheinend demokratisch legitimierte Regierungen – nicht nur in islamischen Staaten – wohl erst noch lernen, auch ihre Völker, auch die Mehrheiten, damit die Minderheiten die Mehrheitsmeinungen akzeptieren können und das friedliche gemeinnsame Leben möglich ist.

  3. posteo sagt:

    Der europäische Kolonialismus hat der arabischen Welt nicht nur Unterdrückung sondern auch jede Menge moderner Infrastruktur gebracht, man denke nur an den Suezkanal. In religiöser Hinsicht waren die europäischen Kolonialisten des 19. Jahrhunderts absolut tolerant. D. h. sie interessierten sich schlicht nicht mehr für die Religionen ihrer Kolonien, sondern nur für ihre Güter.
    Was die sozialen Leistungen der Moslembrüder angeht, sind solche Zuwendungen oftmals nur der „Speck, mit dem man Mäuse fängt“, das bedeutet, mit dem man sich Anhänger verschafft. Wie teuer der Preis für diese sozialen Leistungen letztendlich ist, müssen Millionen Araber jetzt erleben.

  4. Mika sagt:

    Dieses immer und immer wieder Aufbereiten in den Medien hat nur ZWEI Ziele: zum einen sollen Muslime als schlechte Menschen und Terroristen dargestellt werden. Zum anderen wird immer wieder betont, dass die ISIS-Einheiten aus Sunniten besteht, die Schiiten bekriegen; also versucht man auch Zwietracht unter den Muslimen zu schüren! That’s it!

    Posteo, ja sicher…..moderne Infrastruktur…..man denke nur an die Säurebäder, in die Männer hinabgleiten mussten. Und wissen Sie, woher der Spruch „Kinder an die Wand klatschen kommt“? Ja richtig: die europäischen Kolonialisten haben es wortwörtlich genommen und tatsächlich Säuglinge und Kinder an die Wand mit aller Wucht gedonnert.