Der Politische Islam

Opposition, Krise und Macht

Seitdem die ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) im Irak wüted, hat der Politische Islam es wieder auf die Titelseiten hiesiger Medien geschaft. Doch was steckt dahinter? Hat es eine Zukunft? Imad Mustafa über Muslimbrüder, Hamas und Hizbollah.

Mediale Aufmerksamkeit für den Politischen Islam verläuft in Wellen. Häufig, wenn ein Ereignis den Sprung vom nicht wahrnehmbaren Hintergrundrauschen auf die vorderen Seiten der Zeitungen schafft, geht es um Terrorismus, Demokratiefeindlichkeit, Frauenunterdrückung. Diese Form der Themensetzung schafft ein Gesamtbild, das sowohl die Trennung zwischen Islam als Religion und Politischer Islam als Ideologie aufhebt, als auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen islamischen Parteien, Bewegungen und Organisationen verwischt. Auf diese Weise werden alle Muslime pauschal dem Verdacht der Rückständigkeit, Modernitätsfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft ausgesetzt.

Kolonialismus und islamisches Erwachen
Diese Sichtweise verkennt jedoch die Tatsache, dass der Politische Islam selbst ein Kind der Moderne ist und nur in der Auseinandersetzung mit europäischen Einflüssen entstehen konnte. Vordenker wie der Ägypter Muhammad Abduh (1849-1905) oder Dschamal al-Din al-Afghani (1839-1897) forderten zwar eine „Rückbesinnung auf die Ursprünge des Glaubens“, jedoch unterwarfen sie diese Forderung zwei entscheidenden Einschränkungen: Es müsse ein Modus gefunden werden, der es den Menschen erlaube, nach den Regeln des Korans und der prophetischen Lebensweise zu leben, und der gleichzeitig vereinbar mit der „neuen Zeit“ sei. Um dies zu erreichen, sei zweitens eine Neuinterpretation eben jener ewigen Regeln mittels der Vernunft notwendig. Nur so sei ein authentischer kultureller Ausdruck für den Islam möglich, der die Bedingungen der Moderne berücksichtige.

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Die Wurzeln dieses Diskurses lagen nicht zuletzt in den gesellschaftlichen und politischen Krisen, die der Kolonialismus in der arabisch-muslimischen Welt ausgelöst hatte. Neben der militärischen Unterlegenheit zeigte sich für Abduh und Afghani das ganze Ausmaß des zivilisatorischen Niedergangs auf der Ebene der Kultur und der Wissenschaft, der einstigen Domäne der Muslime. Deshalb müsse man von Europa lernen und nur die „negativen Begleiterscheinungen“ wie „Materialismus, Kolonialismus und Säkularismus“ ablehnen.

Krisen als Motor des Politischen Islam
In den folgenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sollten Krisenerfahrungen und die politische Opposition dagegen der Motor des Poltischen Islam bleiben. Dabei spielten sozioökonomische Umbruchsprozesse wie Landflucht, Verelendung weiter Teile der Bauernschaft und die damit verbundene Herausbildung neuer, urban-kleinbürgerlicher Mittelschichten eine große Rolle. Auf der politisch-ideologischen Ebene förderte das Scheitern des (pan)arabischen Nationalismus, das sich 1967 durch die israelische Eroberung Ostjerusalems und des Tempelbergs auf drastische Weise manifestierte, den Durchbruch des Politischen Islams als beherrschender Ideologie.

Der dauerhafte Erfolg dieser Bewegungen, der sich in millionenfacher Anhängerschaft in der gesamten arabischen Welt widerspiegelt, gründet sich in erster Linie auf deren Vermögen, schneller, günstiger und effizienter Hilfe zu leisten, als es die meisten arabischen Staaten jemals waren. Sie haben es geschafft, die Unzufriedenheit und Nöte der Menschen zu bündeln und sie glaubwürdig auszudrücken. Der Wohlfahrtssektor von Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah trägt heute wesentlich zur Sicherung des Lebensunterhalts von Millionen Menschen bei. Die angebotenen Leistungen reichen von Kindesbetreuung, Gesundheitsfürsorge, Altenbetreuung bis hin zu Armenspeisung und dem Erbringen von breiten Bildungsangeboten sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene.

Der Politische Islam und die Frage der Macht
Seit Ausbruch der arabischen Revolten und Revolutionen 2011 sind viele Akteure aus dem islamischen Spektrum an die Macht gekommen – auch wenn dies mit Rückschlägen verbunden ist. Zum ersten Mal seit ihrer Entstehung haben viele Bewegungen die Möglichkeit, nicht nur als oppositionelle Wohlfahrtsorganisationen in Erscheinung zu treten, sondern auch als aktiver, politischer Gestalter ihres jeweiligen Nationalstaates. Ihre zum Teil über Jahrzehnte entwickelten, breiten Programme, die auf Staatsprinzipien, Durchsetzung von Bürger- und Minderheitenrechten sowie ökonomische Prinzipien eingehen, mussten sich nun der politischen Realität stellen. Die Frage, die diesen Programmen zugrunde liegt, und an der sich die Geister innerhalb des islamischen Spektrums selbst immer wieder scheiden, ist die der Implementierung der Scharia.

Während salafistische Strömungen, wie die al-Nur-Partei, auf die buchstabengetreue Umsetzung aller schariarechtlichen Bestimmungen des Korans bestehen, legen Bewegungen wie Hizbollah, Muslimbrüder und Hamas eher wert darauf, dass lediglich die aus dem Koran ableitbaren, abstrakten Prinzipien und Werte wie (soziale) Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit umgesetzt werden. Dies führt dazu, dass die al-Nur-Partei Frauen nur mit Hinweis auf die „traditionellen gesellschaftlichen Werte“ Gleichheit gewähren will, während man eine solche Einschränkung bei der Hizbollah oder der Hamas vergeblich sucht. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn es um die Gewährung der Rechte für religiöse Minderheiten geht.

Ähnliche Unterschiede ergeben sich in wirtschaftspolitischen Fragen, wo die Verfechter einer wörtlichen Auslegung des Korans eher einem neoliberalen Individualismus das Wort reden, in dem jeder seines Glückes Schmied ist. Soziale Fürsorge erscheint in diesem Kontext nur als nachträgliches Almosengeben, um die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden. Hizbollah und Hamas hingegen fordern einen intervenierenden Sozialstaat, der eine Sozialversicherung für alle Bürger als zentrales Prinzip vorsieht.

Doch abseits aller Detailfragen über eine „ideale islamische Ordnung“, sehen sich die islamischen Akteure in den nächsten Jahren viel größeren Herausforderungen gegenüber. Der Umgang damit wird auch darüber entscheiden, ob der Politische Islam als Bewegung zukunftsfähig ist und die komplexen sozialen Probleme der arabischen Welt lösen kann. Im Kern dieser Herausforderungslage steht die Frage, ob sich Bewegungen wie etwa Muslimbrüder und Hamas breiteren Bevölkerungsschichten öffnen können oder sich endgültig den Interessen der eigenen Anhängerschaft verschreiben. Auch wenn der ägyptische Militärputsch viele komplexe Ursachen hatte, die sich nicht auf einen Kulturkampf zwischen Säkularismus und Islamismus einengen lassen, so hat er zwei wesentliche Phänomene aufgedeckt, die weit über Ägypten und den Politischen Islam hinausweisen und maßgeblich zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage beitragen:

Zum einen den Mangel an politischer Kultur und die damit verbundene Unfähigkeit, Fragen der politischen Machtverteilung friedlich zu regeln. Die jahrzehntelange Ausübung erst kolonialer, dann heimischer autoritärer Herrschaft –oftmals vom Westen unterstützt- hat zu einer Erstickung zivilgesellschaftlicher Ansätze und Organisationsformen geführt, die über die Erfüllung wohltätiger Zwecke hinausgehen. Zudem hat die damit einhergehende Privatisierung staatlicher und ökonomischer Macht dazu geführt, dass die Gesellschaft in widersprüchliche Gruppeninteressen zerfällt, zwischen denen ein Ausgleich nur noch sehr schwer zu realisieren ist. Auch aus diesem Grund scheiterte Muhammad Mursi daran, Präsident aller Ägypter zu werden.

Zum anderen hat der Mangel an politischer Kultur in einer Situation der fast anarchischen Freiheit in den Umbruchsländern des sogenannten Arabischen Frühlings zu einer blinden Hinwendung zu westlich-liberalen Modellen der Machtverteilung geführt, ohne jemals substanzielle Erfahrungen damit gemacht zu haben. Im Ergebnis führte dies zu einem sehr formalistischen Verständnis von Demokratie, bei dem der Wahlsieger wähnte, vom Volk einen Blankoscheck ausgestellt bekommen zu haben.

Die Fähigkeit, für traditionell außerhalb ihrer Klientel liegende Bevölkerungsschichten attraktiv zu werden, wird in den nächsten Jahren maßgeblich davon abhängen, Abstriche bei ihrer religiös-ideologischen Programmatik vorzunehmen und die Rechte der säkularen Teile der Bevölkerung auf einen säkularen Staat zu berücksichtigen.

Die Gegner islamischer Bewegungen in der arabischen Welt wiederum scheinen zu übersehen, dass sie es mit zwar sehr konservativen, aber nichtsdestotrotz legitimen, sozialen Bewegungen zu tun haben, die nicht nur aus Analphabeten bestehen, wie Muhammad El Baradei gesagt hat. Aus diesem Grund kann man diese Organisationen auch nicht per Dekret beseitigen und unterdrücken. Die darin zum Ausdruck kommende Verachtung ärmerer Bevölkerungsschichten verschärft die gesellschaftlichen Konflikte nur und schlägt in die gleiche Kerbe wie die Gegner islamischer Bewegungen im Westen, die Islam und Politischen Islam mit Rückständigkeit und anti-modernem Denken gleichsetzen.

Diese Konstellation birgt viel gesellschaftlichen Sprengstoff für die Zukunft. Die Völker des Nahen Ostens können eine Explosion vermeiden, wenn sie sich auf einen langen Prozess einlassen, in dessen Verlauf sie große Geduld, Kompromissbereitschaft und Respekt für den politischen Gegner beweisen müssen. Nur so ist – vielleicht in einigen Jahrzehnten – ein Wandel möglich.