Deutsche Eliten
Die wahre Parallelgesellschaft?
Parallelgesellschaften werden meist mit Migranten und Bedrohung in Verbindung gebracht. Von der Parallelgesellschaft oben ist kaum die Rede. Dabei sind sie die mächtigen - Prof. Michael Hartmann über die Rekrutierung der oberen 5 Prozent und ihre Einstellung.
Von Michael Hartmann Donnerstag, 08.05.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 15.05.2014, 7:20 Uhr Lesedauer: 17 Minuten |
Kurz vor Weihnachten 2013 gab Uli Hoeneß, damaliger Präsident des FC Bayern München, dem Bayerischen Rundfunk ein Interview. In diesem beklagte er sich, wie schon in zahlreichen Interviews zuvor, über die unfaire Behandlung im gegen ihn wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe laufenden Strafverfahren. Er sprach von einem „riesigen Prominentenmalus“, weil er der Einzige sei von über 70.000 Selbstanzeigen, „der in epischer Breite in der Öffentlichkeit dargestellt“ würde. Und er fuhr dann fort: „Von einem Steuergeheimnis kann ja schon lange nicht die Rede sein.“ Dabei vergaß er allerdings zu erwähnen, dass sich das Steuergeheimnis naturgemäß nicht auf Gelder beziehen kann, die wie seine in der Schweiz angelegten Millionen dem Finanzamt überhaupt nicht zur Kenntnis gebracht werden.
Seine Einstellung ist typisch für die meisten prominenten Steuerhinterzieher, die in den vergangenen Jahren und Monaten aufgeflogen sind. Vom ehemaligen Post-Chef Klaus Zumwinkel über den Schraubenkönig und Milliardär Reinhold Würth bis hin zur Journalistin Alice Schwarzer – alle beklagen sich über ihre Behandlung, obwohl sie eindeutig eine Straftat begangen haben, bei der es nicht um Kleinigkeiten geht, sondern zumeist um Beträge in Millionenhöhe. Offensichtlich fehlt ihnen ein Unrechtsbewusstsein, ein Gefühl dafür, was sie tatsächlich getan haben.
Ähnliches lässt sich auch bei weiteren Skandalen der letzten Zeit feststellen. Einer davon, der ebenfalls gegen Jahresende 2013 bekannt wurde, betrifft den Deutschland-Chef von Goldman Sachs, Alexander Dibelius. Er, der nach der Bankenkrise öffentlich immer wieder vehement einen Kulturwandel in den Banken gefordert hat, hat gleichzeitig, um Steuern zu sparen, eine über vier Millionen Euro teure Luxusimmobilie in London über Briefkastenfirmen in der Karibik erworben. Den von ihm öffentlich angemahnten Kulturwandel hat er offensichtlich nicht auf sich selbst bezogen. Ein zweiter, Mitte Januar 2014 bekannt gewordener Fall ist noch bemerkenswerter. Einer der angesehensten Journalisten des Landes, der langjährige Chefredakteur und Mitherausgeber der „Zeit“, Theo Sommer, ist von einem Hamburger Gericht wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 649.000 Euro zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt worden. Zu seiner Entschuldigung führte Sommer an, er habe die korrekte Angabe seiner Einnahmen „aus Schusseligkeit oder Schlamperei“ versäumt und die Summe inzwischen „unter Inkaufnahme großer Opfer“ für seine Altersversorgung und die seiner Frau an das Finanzamt überwiesen. Diese Aussage ist fast noch skandalöser als die Hinterziehung selbst. Wer soll denn ernsthaft glauben, dass man Nebeneinkünfte in der Höhe von schätzungsweise knapp eineinhalb Millionen Euro binnen nur fünf Jahren aus „Schusseligkeit“ bei der Steuererklärung vergisst? Und der Hinweis auf sein „Opfer“ wirkt angesichts der Altersversorgung der Normalbevölkerung genauso larmoyant wie die Klagen von Hoeneß oder Schwarzer über ihre Behandlung in den Medien.
Ein derartiges Verhalten wird von der breiten Öffentlichkeit überwiegend als Doppelmoral wahrgenommen. Es erklärt zusammen mit den vielen anderen Skandalen und der zeitgleich seit der Jahrtausendwende massiv gewachsenen Kluft zwischen Arm und Reich das immer stärker werdende Misstrauen den Eliten gegenüber; denn bei den angesprochenen Personen handelt es sich ja nicht einfach nur um Prominente. Anders als etwa Boris Becker oder der Vater von Steffi Graf, die sich ebenfalls wegen Steuerhinterziehung verantworten mussten, zählen Dibelius, Sommer, Würth, Zumwinkel, aber auch Hoeneß als Präsident des FC Bayern München, der aus dem Amt geschiedene CDU-Schatzmeister und frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Helmut Linssen, der ehemalige Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz und (mit Einschränkungen) die „Emma“-Herausgeberin Schwarzer aufgrund ihrer Machtpositionen zu den deutschen Eliten. 1 All das wirft die Frage auf, ob diese Eliten vielleicht in einer Parallelwelt leben, die nach anderen Maßstäben funktioniert und deren Mitglieder dementsprechend auch in anderen Kategorien denken als die normalen Bundesbürger.
Soziale Ungleichheit in der Wahrnehmung der Eliten
Wie stark sich die Einstellungen der deutschen Eliten von denen der übrigen Bevölkerung unterscheiden, zeigen die Ergebnisse einer zwischen Ende 2011 und Ende 2012 vorgenommenen Untersuchung über die Inhaber der 1.000 wichtigsten Elitepositionen in Deutschland. 2 Besonders deutlich wird das bei der Frage, ob die sozialen Unterschiede in Deutschland gerechtfertigt sind oder nicht. Während sowohl in soliden sozialwissenschaftlichen Umfragen (wie etwa dem Sozio-oekonomischen Panel) als auch in den regelmäßig veröffentlichten Medienumfragen stets ungefähr drei Viertel der Bevölkerung antworten, dass die Unterschiede nicht gerechtfertigt seien, sieht das Bild bei den Eliten anders aus. Nur 43 Prozent der Eliteangehörigen teilen in dieser Frage die Einschätzung der breiten Bevölkerung.
Noch interessanter und politisch wichtiger ist, dass es innerhalb der Eliten große Differenzen je nach sozialer Herkunft gibt. Jene Eliteangehörigen, die selbst schon in Reichtum oder zumindest Wohlstand aufgewachsen sind, stehen den sozialen Unterschieden weit weniger kritisch gegenüber als jene, die aus den Mittelschichten oder (noch stärker) aus der Arbeiterschaft stammen. Besonders deutlich wird das an den beiden Polen des Herkunftsspektrums. Während die Großbürgerkinder, also jene, deren Familien zu den oberen fünf Promille der Gesellschaft zählen, mit einer eindeutigen Mehrheit von gut zwei zu eins die Unterschiede für gerecht halten, ist es bei den Arbeiterkindern genau umgekehrt. Sie, deren Eltern in der Herkunftsgeneration noch die Hälfte der Bevölkerung stellten, empfinden die Unterschiede mit einer noch klareren Mehrheit von fast zweieinhalb zu eins als ungerecht.
Jene Eliteangehörigen, die schon ihre Kindheit und Jugend unter privilegierten Bedingungen verbracht haben, die Bürger- und vor allem die Großbürgerkinder, sind mit großer Mehrheit fest davon überzeugt, dass die sozialen Unterschiede hierzulande gerechtfertigt sind; ihrer Meinung nach beruhen diese Unterschiede im Wesentlichen auf unterschiedlichen Leistungen. Schon als Kinder haben sie erlebt, dass ihre Väter hart gearbeitet haben und die Zeit für die Familie bei vielen eher knapp bemessen war. Diese Erfahrung hat sich dann in ihrer eigenen Berufskarriere bruchlos fortgesetzt. Auch sie arbeiten viel und ziehen aus all dem den Schluss, dass ihre harte Arbeit den entscheidenden Grund für den eigenen Erfolg und Wohlstand darstellt, wie schon für den ihrer Väter und teilweise auch Großväter.
- Als Mitglieder der Eliten gelten in der Eliteforschung jene Personen, die qua Amt oder Eigentum in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Vgl. Michael Hartmann, Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?, Frankfurt/M. 2013, S. 21ff. Bei Schwarzer handelt es sich allerdings um einen Sonderfall, da die von ihr herausgegebene Zeitschrift zu klein ist, um Schwarzer zur Medienelite zu zählen. Aufgrund ihres enormen öffentlichen Einflusses vor allem in Geschlechterfragen kann man sie aber zur deutschen Elite im weiteren Sinne rechnen.
- Die Untersuchung, die insgesamt 958 Personen umfasst (einige dieser Personen bekleiden mehr als eine Eliteposition), ist vom Verfasser gemeinsam mit dem Wissenschaftszentrum Berlin realisiert worden. Die Ergebnisse, die sich auf die Zusammensetzung der Eliten (Geschlecht, soziale Herkunft, Bildungs- und Karrierewege) und ihre Einstellung zu den sozialen Unterschieden im Land sowie zur Finanzkrise beziehen, sind im Mai 2013 erschienen. Siehe M. Hartmann (Anm. 1).
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Die Masse der Politiker und Journalisten hinterziehen keine Steuern – unterstelle ich- , gehören aber auch zur Parallelgesellschaft „die da oben“, was ihre Entferntheit vom Leben der grossen Mehrheit anbetrifft. Die Sprachlosigkeit zwischen ihnen ist Sprengstoff für die Demokratie.
In Deutschland funktioniert die Steuerhinterziehung der Elite wie die Wette auf eine Finanzoption. In der einfachsten Ausgestaltung erwirbt man bei einer Finanzoption das Recht, ein Wertpapier zu einem vorher festgelegten Preis zu kaufen oder zu verkaufen. Man spekuliert an der Börse. Entwickelt sich der Kurs des Wertpapiers in die günstige Richtung, kann man die Differenz zu dem vorher festgelegten Preis, ist ein Gewinn sicher. Wenn der Wertpapierkurs sich ungünstig entwickelt, verfällt die Option und die Risikoprämie ist der einzige Verlust, den man für sich verbuchen muss.
Der privilegierte Steuerhinterzieher handelt ähnlich. Er sagt sich, das was ich an Steuern zu bezahlen habe, zahle ich einfach nicht und geht damit eine Wette ein, nicht erwischt zu werden. Er spekuliert. Die nichtgezahlte Steuer ist mein sicherer Gewinn solange ich nicht erwischt werde, also solange sich das Wertpapier in dem Fall meine Steuervermeidungsstrategie günstig entwickelt. Werde ich als Mitglied der Elite doch erwischt, wird in der Regel keine Freiheitsstrafe ausgesprochen und ich muss lediglich die Steuern nachzahlen, werde also nur die Risikoprämie los. Dass Hoeneß eine Freiheitsstrafe erhalten hat, stellt einen eher einen seltenen Fall für die Elite dar und lag einfach nur daran, dass sein Fall öffentlich wurde und der öffentliche Druck nicht mehr ignoriert werden konnte.
„Nur“ 43% finde ich eigentlich einen erstaunlich hohen Wert. Das sind ja fast die Hälfte der sog. „Elite“, die die „sozialen Unterschiede für nicht gerechtfertigt halten“.
Abgesehen davon ist das Thema ein intellektueller Brei. Wenn man Elite als die Personen/Familien definiert, die kraft ihres Vermögens ODER ihrer Stellung „Einfluss“ nehmen können, dann erweitert man den Begriff ja auf unzählige Menschen, die nicht unbedingt über hohe Einkünfte verfügen, aber dafür über einen ziemlich hohen Einfluss. Nehmen wir zum Exempel die „einflussreichste Frau der Welt“, die Kanzlerin, die von Leuten aus der Wirtschaft wegen ihres geringen Gehalts bemitleidet wird, dabei aber einen allseitigen Druck managen muss, wie er im Wirtschaftsleben kaum vorkommt. Ist das Gehalt „gerechtfertigt“, „nicht gerechtfertigt“?
Andererseits wird das Interesse an Einflussnahme der durchschnittlichen Millionäre und sogar Milliardäre bei weitem überschätzt. Die Leute, die kraft ihres Richtums „Elite“ sein sollen, sind es nicht im Hinblick auf Einflussnahme. Ihr vorherrschendes Interesse ist das Bewahren, die Enkelkinder, die Ruhe und Gemütlichkeit, Coupons schneiden. Einfluss nehmen sie höchstens in ihrem Betrieb, ansonsten versuchen sie sich durchzumogeln.
Auch die Macht der „Elite“ wird oft mystifiziert, oft als „unschagbar“ dargestellt, wo er tatsächlich wackelig ist. Man sieht es an der aktuellen Rentenreform. Ein Projekt, gegen das die „Eliten“ hörbar Sturm laufen, aber mit wenig Erfolg (bislang). Es wird mehr diskutiert, das ist beinahe schon alles und in einer Demokratie ja nicht per se schlecht.
Ich würde dringend raten, die „besitzende Klasse“ nicht mit Einflussführerschaft gleich zu setzen. Sie haben in D Einfluss, nehmen Einfluss, organisieren auch teilweise ihren Einfluss – aber das Geschehen ist eben nicht durch sie determiniert. Der Kampf geht immer noch tagtäglich um Meinungsführerschaften, Druck machen, Druck abwehren etc. – ein letztlich chaotisches Geflecht, auch dank der elf Bundesländer mit ihren unterschiedlichen Mehrheiten. Mir fällt kein Milieu ein, dass dabei nicht auch Niederlagen erleidet – auch die Besitzelite hat in den letzten Jahren massive Niederlagen erlitten, denken wir nur an die Abschaffung der steuerfreien Spekulationsgewinne 2008 durch die GroKo, also unter tätiger Mithilfe der CDU, der Traditionspartei der „Elite“.
Ob die „sozialen Unterschiede“ gerechtfertigt sind, lässt sich sowieso nicht per Umfrage beantworten. Es gibt ja die unterschiedlichsten Gründe dafür. Ein Fall aus meiner Verwandtschaft: Näherin in einer Lederwarenfabrik und Chemiefacharbeiter, beide in den Beruf mit 14/15 Jahren. Heirat mit 20. Aus sehr geringen Einkünften gespart. Kleinen Schrebergarten gekauft. Er steigt in mittlere Position auf. Vorherrschendes Thema 30 Jahre lang: sparen. Heute wohlhabende Rentner: Neuer Mercedes vor der Tür. Mehrere Hundertausend Vermögen auf der hohen Kante. Neues Haus circa 500.000 wert. Rechnerisch gehört diese Erwerbsgemeinschaft zu den oberen 1%. Ungerechtfertigt? Und nehmen die auf irgendetwas Einfluss? Eher im Gegenteil …
Mir scheint der Elitebegriff eher ein Symptom zu sein als ein analytisch scharfes Messer.