Mehr als eine Wirklichkeit
Deutsche Zeitungen bilden die Flüchtlingspolitik sehr unterschiedlich ab
Zeitungen stellen die deutsche Diskussion um Flüchtlinge auf sehr unterschiedliche Weise dar. Es wurden verschiedene Themen- und Argumentationsschwerpunkte gesetzt. Akteure, die in den einen Medien zitiert wurden, wurden in anderen fast gänzlich ignoriert.
Von Valeska Cordier Donnerstag, 06.02.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.02.2014, 7:17 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
In den vergangenen Monaten wurde in den Medien viel über steigende Flüchtlingszahlen in Europa, teilweise katastrophale Zustände in den Erstaufnahme-Einrichtungen und die unbefriedigende Asylgesetzgebung berichtet. Oft gerät dabei in den Hintergrund, dass das deutsche Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht weit mehr beinhaltet als die Vergabe von Asyltiteln. 2012 lebten in Deutschland über 85.000 Menschen, die zwar kein Asyl erhalten haben, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden (können). Sie leben mit einer Duldung, einem Aufenthaltsstatus, der rechtlich gesehen keiner ist und lediglich die Aussetzung ihrer Abschiebung bedeutet.
Die meisten Menschen in Deutschland haben kaum direkten Kontakt zur ausländischen Bevölkerung im Allgemeinen und zu Flüchtlingen und Asylbewerbern im Besonderen. Medien spielen daher in gesellschaftlichen Diskursen gerade in Bezug auf Migrationsthemen eine wichtige Rolle – diese soll hier genauer betrachtet werden. Untersucht wurde die Berichterstattung von drei großen deutschen Tageszeitungen über den Bleiberechtsbeschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren (IMK) von 2006. Mit diesem Beschluss sollte einem unbefriedigenden Zustand im Ausländerrecht Rechnung getragen werden: Zu diesem Zeitpunkt lebten rund 200.000 sogenannte Geduldete in Deutschland, viele von ihnen bereits länger als fünf Jahre, ein Drittel sogar länger als zehn Jahre.
Duldungen werden zunächst für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten ausgesprochen und sind nach Ablauf der Fristen erneuerbar, sofern die Gründe für das Aussetzen der Abschiebung fortbestehen. Nach 18 Monaten endet die gesetzliche Maximaldauer einer Duldung und den Betroffenen muss ein legaler Aufenthaltstitel angeboten werden. Soweit die rechtliche Theorie. In vielen Fällen kann ein Aufenthaltstitel jedoch nicht vergeben werden, da sich die Identität der „Geduldeten“ nicht überprüfen beziehungsweise deren Angaben sich nicht verifizieren lassen.
Durch die sogenannten Kettenduldungen, die sich aus dieser Gesetzeslage ergeben, leben viele Flüchtlinge quasi in einer Warteschleife ohne Aussicht auf einen selbstständigen Neuanfang und eine erfolgreiche Integration. Da mit diesem Status zahlreiche Auflagen und Einschränkungen verbunden sind, sind die Betroffenen über sehr lange Zeiträume einer starken psychischen Belastung ausgesetzt.
Diesen Zustand nahm die IMK zum Anlass, einen Beschluss zu fassen, der langjährig „Geduldeten“ einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglichen sollte. Wer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung mehr als sechs Jahre mit minderjährigen Kindern beziehungsweise acht Jahre ohne Kinder in Deutschland lebte, sollte ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen, wenn er oder sie innerhalb von zwei Jahren ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis nachweisen konnte.
Der Beschluss der IMK war für die geduldeten Flüchtlinge in Deutschland von großer Bedeutung, die Verabschiedung und Umsetzung wurde von den Medien eng begleitet. Allerdings vermitteln und konstruieren Medien Themen auf verschiedene Art und Weise, je nach ihrem politisch-ideologischen Grundverständnis und ihrer redaktionellen Ausrichtung.
Die Berichterstattung in der tageszeitung (taz), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ) habe ich über den Zeitraum von 14 Monaten untersucht. Diese Zeitungen zählen zu den deutschen Leitmedien und bilden eine gewisse Bandbreite normativer und inhaltlicher Standpunkte ab. Zu Themen wie Bleiberecht, Abschiebungen und Duldungen wurden im Untersuchungszeitraum (Januar 2006 bis Februar 2007) insgesamt 402 Artikel erfasst, von denen 275 Artikel einer quantitativen Analyse bezüglich mehrerer Faktoren unterzogen wurden: thematische Schwerpunkte, zitierte Akteure und Argumentationsmuster. Aus weiteren 127 Artikeln, die sich mit individuellen Flüchtlingsschicksalen beschäftigten, wurde die Auswahl einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.
Zwischen den Zeitungen ergeben sich zunächst deutliche Unterschiede, was die messbare Aufmerksamkeit für die genannten Themen betrifft. So berichtet die taz über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg mehr als doppelt so oft über die Debatte rund um den Bleiberechtsbeschluss wie FAZ und SZ. Allerdings gilt für alle drei Medien, je näher der Beschluss der IMK im November 2006 rückte, desto intensiver und vielfältiger wurde die Berichterstattung.
Bei der Auswahl der thematischen Schwerpunkte lassen sich ebenfalls Unterschiede zwischen den Zeitungen ausmachen. So dominiert zwar durchweg die Debatte um den IMK-Beschluss selbst, jedoch in unterschiedlichen Relationen (vgl. Grafik). Überraschend ist, dass die Kritik an dem Beschluss und seiner Umsetzung in allen drei Zeitungen rund ein Viertel der Berichterstattung einnimmt. Betrachtet man die Themenauswahl über den zeitlichen Verlauf hinweg, fällt jedoch auf, dass die taz gleichmäßiger über die verschiedenen Themen berichtet, während in SZ und FAZ kritische Subthemen eher in der Mitte des Untersuchungszeitraums zu finden sind. Auf dem Höhepunkt der Debatte um den Beschluss und dessen Umsetzung findet Kritik kaum noch ihren Weg auf die Agenda. Bei der Berichterstattung über individuelle Flüchtlingsschicksale fällt auf, dass die taz über mehr als doppelt so viele Einzelfälle berichtet wie die anderen beiden Zeitungen und diese Fälle auch intensiver begleitet.
Bei der Analyse der zu Wort kommenden Akteure wurden die unterschiedlichen politischen und administrativen Ebenen ebenso erfasst wie die wichtigsten politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Akteure. Dominiert wird der Diskurs um den Beschluss von Vertretern der zuständigen Kommunalbehörden sowie von CDU/CSU-Politikern aller Ebenen und den Innenministern als den Teilnehmern der IMK. Auffällig ist, dass sich die FAZ an den Positionen der regierenden Politiker und verantwortlichen Beamten orientiert. Kritik wird dort vor allem vonseiten der Kirche zugelassen, was dem wertekonservativen Standpunkt der Zeitung entspricht. In der SZ und taz werden neben den verantwortlichen Politikern Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus dem Flüchtlingsbereich und die geduldeten Flüchtlinge selbst relativ häufig zitiert; Akteure, die in der FAZ fast gänzlich ignoriert werden. Außerdem fällt auf, dass SZ und taz neben ihrer vielfältigeren Auswahl den unterschiedlichen Akteuren einen gleichmäßigeren Zugang zum Diskurs verschaffen als die FAZ. Leitartikel Meinung Studien
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Die FAZ berichtet konservativer als SZ und vor allem taz, ist jetzt noch einmal quantitativ belegt – nett, dass bestätigt zu bekommen, aber richtig neu ist diese Erkenntnis nicht.
Gibt es einen Grund, warum die Biild/Welt, die ja wahrscheinlich eine größere Rolle im Diskurs der Medien spielen (siehe Auflage), und insofern für den Ansatz interessant sind, nicht untersucht wurden?
Zur Grafik: Wie kann denn der prozentuale Anteil der Bleiberechtsdebatte (schwarzer Balken) der „gesamten Berichtserstattung“ (vermutlich ja bezogen nur auf die untersuchten Zeitungen, also die in der Grafik folgenden Werte) niedriger sein als jeder einzelne Wert (aus denen sich der Durchschnitt ja zusammensetzen sollte)?
Liebe Valeska Cordier, Sie haben eine interessante Studie durchgeführt, die den Eindruck, den ich von den zitierten Zeitungen habe, wissenschaftlich bestätigt. Die Abbildung von Integrationsdiskursen in den Zeitungen zu untersuchen, ist wichtig, da – wie Sie auch schreiben – dort Meinungen gebildet und v.a. salonfähig gemacht werden. Haben Sie vielleicht in der Folgezeit noch aktuellere Erkenntnisse (nach 2006) zu dem Thema gesammelt? Grüße, Roman
Über die reine Medienkritik funktioniert die Kritik aus der Diaspora-Perspektive nicht. Inzwischen sind digitale Produktionstechniken für Online Zeitung erhältlich, und mittels Software-Werkzeugen kann man sie in Printzeitungen konvertieren. Technisch besteht die Möglichkeit aus der diskursiven Hegemonie der Leitmedien des Einwanderungs- und des Auswanderungsstaates auszubrechen.
Inzwischen sind auch Geschäftsmodelle und Universitätsstudiengänge zu Digital Media Entrepreneurship an der Stanford University entstanden.
Das Problem besteht nur noch auf der Finanzierungsseite. Es gibt ein großes Problem mit den GEZ Gebühren, weil nichtweiße Bürger Rassismus in den Medien mit finanzieren müssen. Es gibt ein unerträgliches Problem mit den Verwertungsgesellschaften, weil nichtweiße Bürger die Künstlersozialkasse und die Verdienste von rassistischen Kunstschaffenden mittragen müssen über Speichermedien-Kauf. Diese Gelder hätten besser für die Forcierung der öffentlichen Vernunft durch deutschsprachige und muttersprachliche Medienmacher verwendet sollen.
Auf der Seite der politischen Klasse in den Auswanderungsstaaten existiert ein sehr kurzfristiges monetäres Interesse an den migrantischen Rücküberweisungen, weil es Devisen liefert und makroökonomische Schocks abfangen kann. Das ist bequem, weil die migrantischen Wählerstimmen mit durchschnittlich 3% Bevölkerungsanteil keine Chance im Umverteilungskampf in den Auswanderungsstaaten haben. Was diesen Entscheidern nicht einleuchtet ist, dass der medial verbreitete Rassismus den Versicherungsmechanismus der transnationalen familiären Rücküberweisungen in der Funktion für die Weltwirtschaft stören kann.
Rassismus ist nämlich pro-zyklisch und der Alltags- und politische Rassismus der Volksparteien und ihrer Wählerschaft richtet sich nicht nach dem Konjunkturzyklus, der Handelsbilanz und des Währungskurs. Prinzipiell wären die Volksparteien und ihre rassistischen Häscher in den Medien besser beraten ihr Gift während eines Aufschwungs zu versprühen, damit die Lohnsumme der Migranten in der Rezession die makroökonomische Versicherungsprämie für die internationale Arbeitsteilung auf die Nationalstaaten spielen können. Denn diese erhalten die Nationalstaaten durch die solidarische Bande der transnationalen Familien währen der globalen Rezession kostenlos. Rassistische und sozialdarwinistische Medienpropaganda setzt aber gerade in der Rezession ein. Die Weltbank, die UNO, Ein- und Auswanderungsstaaten wären gut beraten einen Fonds für die Medienproduktion der Diasporas zu bilden und mit der Verrechtlichung von diasporischen Medienunternehmen im Gesellschaftsrecht steuerlich wettbewerbsfähig zu machen gegen die Mehrheitsmedien der Ein- und Auswanderungsstaaten.
@ han yen
ihre analysen treffen zu , aber ihre lösungsvorschläge sind utopisch und unerreichbar
Mich hätte ein Vergleich zur Bildzeitung noch interessiert ;)
Sehr interessant ansonsten. Wobei ich die These, dass“die meisten Menschen in Deutschland“ auch im Jahr 2014 keinen Kontakt zu Ausländern haben, etwas steil finde. Gibt es dazu Empirie?
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