Tokat
Wenn Bomberjacken auspacken
TOKAT - Das Leben schlägt zurück, ist ein spannender und ambitionierter Dokumentarfilm. Es zeigt das Schicksal von 4 ehemaligen Frankfurter Gangmitgliedern - und gleichzeitig Einblicke in das, was Integration mal war, nicht ist und hoffentlich werden kann.
Von Marcello Buzzanca Freitag, 08.11.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.11.2013, 17:27 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Jacken kann man anziehen – oder auch abziehen. Dies zumindest haben die vier Protagonisten des Dokumentarfilms TOKAT – Das Leben schlägt zurück gemacht. Anfang der 1990er Jahre waren Oguz, Kerem, Dönmez und Hakan – damals alle Jugendliche – Mitglieder gefürchteter Frankfurter Jugendgans. Namen wie Turkish Power Boys oder auch La Mina waren gleichbedeutend mit Gewalt und Raub, aber eben auch mit Identifikation und Sinnstiftung, zumindest für deren Mitglieder. Neben dieser Identifikation teilte sich ein Großteil der Bandenmitglieder aber auch, so zeigt diese beeindruckende Dokumentation, den Einstieg in die Drogenabhängigkeit, in die Haft und die Abschiebung. So auch Oguz, Kerem, Dönmez und Hakan.
Alle vier sind mittlerweile ihre eigenen Wege gegangen, wobei diese trotz Verwandschaft und gemeinsamer Herkunft aus dem im Osten Anatoliens liegenden 400-Einwohner-Dorfes Bayat unterschiedlicher kaum sein könnten. Erst Andrea Stevens und Cornelia Schendels Frage danach, was wohl aus ihnen geworden ist, führte die ehemaligen Gang-Mitglieder nach gut zwanzig Jahren wieder zusammen. Kurzfristig, wohlgemerkt. Ob und wie das zurückschlagende Leben Oguz, Kerem, Dönmez und Hakan getroffen, in andere Bahnen gelenkt und verändert hat, das zeigt TOKAT.
Zwischen Bayat und Bomberjacke
TOKAT, so erfährt man zu Beginn des gleichnamigen Films, bedeutet so viel wie Ohrfeige oder Schelle oder eben auch Jacken abziehen. Ein in den 1990er-Jahren sehr verbreitetes Phänomen, nicht nur in den Straßen, U- und S-Bahnhöfen Frankfurts. Auch die beiden Filmemacher Andrea Stevens und Cornelia Schendel kennen diese Form des Raubs und die Gewalt, die von verschiedenen und ganz bestimmt nicht nur türkischen Jugendbanden ausging, aus ihrer eigenen Jugend.
Beide fürchteten sich vor diesen Gangs – und eben auch vor Leuten wie Oguz, Kerem, Dönmez und Hakan. Umso erstaunlicher und erfreulicher, dass sich gerade Andrea und Cornelia vor gut drei Jahren die Frage stellten, was wohl aus diesen Gangs und deren damaligen Mitgliedern geworden ist.
Nach langen und intensiven Recherchen und vor allem nach vielen Gesprächen mit Oguz, reifte die Idee in beiden, TOKAT zu machen (also natürlich nicht Jacken abzuziehen, sondern darüber zu berichten) – aus Überzeugung und Leidenschaft und neben dem Alltagsgeschäft als Inhaberinnen einer Filmproduktionsfirma, die Dokumentarfilme, Reportagen und Fernsehbeiträge und auch Event- und Imagefilme produziert.
Also reiste das TOKAT-Team in die Türkei und nahm Zeit, Kosten und Mühen auf, um dieses ambitionierte Projekt umzusetzen. Was sie dort vorfanden, waren keine furchterregende Schläger und Kriminelle mehr, sondern Männer um die 40, die für ihre Taten gesessen haben und ausgewiesen wurden. Entwurzelte, die nun in der Türkei (über)leben oder eben wie Oguz, als Künstler und DJ in Frankfurt und Umgebung, ein neues und ganz anderes Leben begonnen haben.
Keine Glorifizierung, sondern einfaches Erzählen von Geschichten
Nein, sagt mir Regisseurin Andrea Stevens in einem Telefoninterview, es gehe in keiner Weise um Glorifizierung, weder der vier Männer noch von deren Taten oder Gangs. Kein Mythos, sondern individuelle Geschichten würden hier gezeigt. Schließlich könne die Laufbahn der meisten Gangmitglieder – vom Diebstahl über Raub, Totschlag, Mord und Beschaffungskriminalität, Heroinsucht und Haft – kein Vorbild oder Gegenstand einer Glorifizierung sein. Es gehe vielmehr darum, ihre Geschichte(n) zu zeigen, und nicht darum, diese zu bewerten.
Der Fokus liege darauf, ein Projekt realisiert zu haben, dass dabei helfen soll, die Geschichte der „Gastarbeiterkinder“ in den frühen 1990er-Jahren jenseits von Migrationsklischees und kulturpolitischen Floskeln zu beleuchten. TOKAT solle in diesem Sinne auch ein Beitrag dazu sein, aktuelle Integrationsdebatten mit dem Blick auf das Gestern und aus dem Gestern heute neu zu beleuchten – vor allem authentisch, was durch die eigene Reflexion der Protagonisten in jedem Fall gelingt.
„Der Dokumentarfilm ist daher ein Stück Frankfurter Zeitgeschichte und spricht gerade auch deswegen Jugendliche an, die sich jetzt gerade in einer ähnlichen Situation befinden wie unsere Protagonisten damals – vermeintlich perspektivlos und gewaltbereit,“ sagt Andrea Stevens. Anhand der in TOKAT erzählten Geschichten könnten Jugendliche sehr deutlich sehen, wie drastische Entscheidungen ein junges Leben und damit die eigene Zukunft beeinflussen können – und das nicht unbedingt zum Besten.
Sehen kann man jedoch auch (vor allem am Beispiel von Oguz), wie man ein vermeintlich „verkorkstes“ Leben in neue, vitale und kreative Bahnen lenken kann. Hinzu kommt, dass die vier Protagonisten auch erzählen, was sie anders machen würden, hätten sie die Chance, die Zeit zurückdrehen zu können. Insofern, so Andrea Stevens abschließend, werde man entsprechend anstreben, TOKAT – Das Leben schlägt zurück auch in Jugendzentren in „Problemvierteln“ zu zeigen und dort einzusetzen, um letztlich dem Mythos der Gangs entgegenzuwirken – zugunsten neuer Perspektiven, die sich jenseits von Gewalt und Kriminalität auftun können. Feuilleton Leitartikel
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