Die Hadsch

Sinnbild einer spirituellen Migration

Manch einer mag sich in diesen Tagen vielleicht wundern, warum sich mehr als sonst so viele Muslime an den Flughafen Köln/Bonn, Frankfurt oder Berlin tummeln. Sie alle sind angefahren, um ihre Familien willkommen zu heißen, die von ihrer Pilgerreise aus Mekka zurückkehren – der Hadsch. Sie ist bis heute mit fast 3 Millionen Pilgern die jährlich größte Zusammenkunft von Menschen.

Von Montag, 21.10.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 23.10.2013, 23:54 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Die Hadsch Pilgerfahrt gehört zu den fünf Säulen des Islam, durch die die Gläubigen simultan die Riten des Gesandten Abraham vollziehen. Die Hadsch wird jedes Jahr in einer bestimmten Zeit verrichtet, nämlich vom 8.-12. des letzten islamischen Monats Dhul Hidscha. Da das islamische Jahr dem Mondkalender folgt, verschiebt sich die Pilgersaison jedes Jahr um etwa 10 Tage.

Der saisonale Wandel und die Tatsache, dass sich der Pilger diesem kosmischen Wechsel einfügt, sollte ihm zu Erinnerung rufen, dass er eine Einheit mit der Schöpfung bildet, die es zu respektieren und zu pflegen gilt. Einmal im Leben ist jeder erwachsene Muslim, der gesundheitlich und finanziell in der Lage ist, eingeladen diese körperliche und spirituelle Migration zu unternehmen.

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Im vormodernen Zeitalter war die Hadsch alles andere als einfach. Sich einen zweiwöchigen Urlaub zu nehmen, nach Mekka zu fliegen und danach wieder am Montag um 8 Uhr im Büro zu stehen war eine Seltenheit. Die Pilgerfahrt zu vollziehen, bedeutete damals oft eine Reise ohne Wiederkehr verbunden mit wochenlangen Strapazen und Gefahren. Der Pilger musste daher für seine Daheimgebliebenen alle Vorkehrungen treffen. Eventuelle Schulden mussten beglichen und – viel wichtiger – Menschen, denen man Unrecht getan hatte um Vergebung gebeten werden.

Falls man dann nach der anstrengenden Reise endlich in Mekka ankam, beeilte man sich nicht zurückzukehren. Viele blieben monatelang oder Jahre, tauschten sich aus und erwarben wertvolles Wissen von den hiesigen Gelehrten, die sich an diesem kosmopolitischen Ort aus allen Ecken der Welt versammelt hatten. Manche Pilger wünschten sich, dort zu sterben, dem einen Ort, wo sie eine spirituelle Wiedergeburt erlebt hatten.

Die Hadsch ist die einzige Reise, die man ausschließlich für seinen Schöpfer unternimmt. Nicht für sich selbst, die Familie oder für materielle Interessen. Sie sie ist kein erholsames Vergnügen, wie man sich sonst die üblichen Ferien vorstellt. Ganz im Gegenteil, Pilger beschreiben die Hadsch oft als anstrengend – emotional wie körperlich. Natürlich ist es nicht einfach, sich mit Millionen von Menschen, die in unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, sich auf engstem Raum zu arrangieren. Aber es ist genau diese Realität die unseren Makrokosmos widerspiegelt. Aus materieller Hinsicht ist Mekka auch kein Holiday Ressort: Die Unterkünfte sind meist sehr bescheiden, man gibt Unsummen aus, um in der Wüste auf dem harten Boden zu schlafen oder sich in der drückenden Hitze zu bewegen. Die Umgebung ist daher nicht das, was man sich als paradiesisch vorstellt.

Aber es sind genau diese Aspekte der Hadsch, die so viel Symbolcharakter beinhalten: Der Mensch in seiner spirituellen Migration des Lebens (Kindheit, Jugend, Alter, Tod) ist angehalten, diese Ideale in seinem Leben zu verwirklichen. Diese Lebensreise, die oft mit Anstrengungen verbunden sein kann, sollte mit dem Bewusstsein unternommen werden, dass man am Ende allein und jederzeit zu seinem Schöpfer zurückkehren kann. Daher sollte man bereit sein, dem Tod mutig ins Angesicht zu blicken. Der Pilger in seinem weißen Gewand, das das Leichentuch symbolisiert, bringt nichts zu seinem Schöpfer außer seiner inneren Schönheit: Rang, Ruhm, Titel, Geld, äußerliche vergängliche Schönheit – all das ist während der spirituellen Migration des Lebens und im Grab unbedeutend.

Familie und Nahestehende begleiten einen nicht für ewig im Leben, daher sollte man sie mit Liebe, Respekt und Achtung behandeln. Die Einsicht, dass das Leben ein kurzer Aufenthalt in diesem Gasthaus ist, bringt Aufrichtigkeit und Demut in das moralische Handeln des spirituellen Migranten: sich mit seinem Herzen nicht an weltlichen materiellen und äußerlichen Dingen festzuhalten, jederzeit bereit sein, Geld, Zeit, Körper und die Emotionen für das Gute einzusetzen und sie somit zu verewigen.

Wie alles im materialistischen Zeitalter, ist auch die Hadsch vom Konsumexzess nicht verschont geblieben und viele Muslime setzen sich mit dieser Problematik selbstkritisch auseinander: Die extreme Ausbeute der Infrastrukturen, die sinnlose Werbung für Luxuspilgerfahrten in fünf Sterne Hotels, historische Heiligtümer, die für riesige Einkaufsmalls mit Bulldozern zerstört werden oder nicht zuletzt Pilger, die sich mehr mit Handys und Einkäufen beschäftigen als mit ihrer spirituellen Formation und Charakterbildung.

Die Hadsch als Mikrokosmos der Welt ist zwangsläufig auch eine kleine Reflektion des gegenwärtigen globalen Zustands. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist auch sicherlich in Mekka spürbar. Menschen unterschiedlicher Absichten – aufrichtig oder oberflächlich – kann man hier finden. Ein Mensch, der die Hadsch nur als externe und physische Angelegenheit betrachtet, wird innerlich kaum berührt werden. Es ist die Einheit von Körper, Vernunft, Herz und Seele, die der Islam im Visier hat und die in Harmonie und Gleichgewicht gebracht werden sollte.

In der Vergangenheit aber bedeutete die Hadsch eine vielschichtige Transformation des Menschen. Der Pilger, der nach Hause zurückgekehrt war, galt als moralisches Vorbild für die Gemeinschaft – so sehr veränderte die Hadsch den Menschen und berührte ihn in der Tiefe seiner Persönlichkeit, dass er ganz natürlich andere Menschen in seinem Umfeld inspirierte und zum Guten animierte.

Aber die größte Kritik, die die Hadsch in ihrem spirituellem Ausmaß an die Menschheit sendet, ist die Unfähigkeit zu begreifen und zu verinnerlichen, dass vor dem Schöpfer alle gleich erschaffen sind, ausgestattet mit derselben fundamentalen menschlichen Würde und denselben Potenzialen. Wenn alle Pilger zum Höhepunkt der Hadsch auf dem Berg Arafat stehen, um Vergebung bitten und sich ins Gewissen rufen, dass die Menschheit am Ende für ihr moralisches Handeln Rechenschaft ablegen muss, dann sind sämtliche Gründe, die das Töten von Unschuldigen zu legitimieren versuchen, unbedeutend.

Das tägliche Morden motiviert durch religiöse, nationale, politische oder ethnische Differenzen oder egoistischer Interessen widerspricht nicht nur dem menschlichen Verstand, sondern auch dem Geist der Hadsch. Fassungslos betrachtet man daher das sektiererische Morden zwischen Sunniten und Schiiten, die dem Geist des Islam radikal widersprechen. Kein anderer als Malcolm X, der unter den schwierigsten Bedingungen den Rassismus durchlebte, kann besser formulieren, wie die Hadsch diese falschen selbstzerstörerischen Ziele verurteilt. Nachdem er 1964 die „Nation of Islam“ verlassen hatte, verrichtete er die Pilgerreise, die ihm dazu verhalf, seine Perspektiven vollständig zu überdenken. Die Hadsch in seinen Worten ausgedrückt ist eine spirituelle Reise: eine Reise zum Schöpfer, zum inneren Ich und zur globalen Familie:

Da waren Zehntausende von Pilgern aus aller Herren Länder. Sie hatten alle Farben, von blauäugigen Blonden bis zu tiefschwarzen Afrikanern. Aber wir alle nahmen an demselben Ritual teil, entfalteten einen einheitlichen Geist und eine Brüderlichkeit, von der ich nach meinen Erfahrungen in Amerika nie geglaubt hätte, dass sie unter Weißen und Nicht-Weißen existieren könnte… Während meiner ganzen Reisen durch die muslimische Welt habe ich viele Leute getroffen, mit ihnen gesprochen und sogar gegessen, die in Amerika als Weiß angesehen würden – aber die Eigenschaften der “Weißen” waren aus ihren Köpfen durch die Religion des Islam beseitigt. Ich habe nie zuvor so eine ernsthafte und ehrliche Brüderlichkeit von Menschen aller Farben zusammen gesehen, ungeachtet ihrer Farbe.

Niemals zuvor war ich Zeuge einer so ernsthaften Gastfreundschaft und eines so überwältigenden Geistes wahrer Brüderlichkeit, die von Menschen aller Farben und Rassen hier in diesem alten, heiligen Land, dem Heim Abrahans, Muhammads und all der anderen Propheten der Heiligen Schriften praktiziert werden. Die letzte Woche verbrachte ich ganz und gar sprachlos und verzaubert von der Dankbarkeit, die diese Menschen aller Farben um mich herum ausstrahlten.

Ihr werdet geschockt sein, diese Worte von mir zu hören. Aber auf dieser Pilgerreise, hat mich das, was ich gesehen und erfahren habe, gezwungen, viele meiner früheren Denkmuster neu zu ordnen und einige meiner früheren Schlussfolgerungen über Bord zu werfen. Das war nicht allzu schwer für mich. Trotz meiner festen Überzeugungen bin ich immer ein Mann geblieben, der versucht, den Tatsachen ins Auge zu sehen und die Realität des Lebens als neue Erfahrung und neues Wissen zu akzeptieren und zu entfalten. Ich habe mir immer ein offenes Bewusstsein bewahrt, das für die Flexibilität notwendig ist, die mit einer jeglichen Form der intelligenten Suche nach der Wahrheit Hand in Hand gehen muss.

Während der letzten elf Tage hier in der muslimischen Welt habe ich mit muslimischen Brüdern, deren Augen das blaueste Blau, deren Haare das blondeste Blond und deren Haut das weißeste Weiß besaßen, von demselben Teller gegessen, aus demselben Glas getrunken und auf derselben Matte geschlafen, während wir zu demselben Gott beteten. Und in den Worten und Taten dieser weißen Muslime fühlte ich dieselbe Ernsthaftigkeit, die ich unter den schwarzen afrikanischen Muslimen Nigerias, Sudans und Ghanas verspürte. Wir waren wirklich alle gleich (wie Brüder) – denn ihr Glaube an einen Gott hat das Weiße aus ihrem Bewusstsein, das Weiße aus ihrem Verhalten und das Weiße aus ihrer Einstellung verbannt. 1

  1. Aus: Malcolm X: Die Autobiographie, von Alex Haley (Atlantik Verlag, 2003)
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