Interview mit Yasemin Karakaşoğlu

„Das Bildungssystem selektiert zu früh“

In Deutschland hat die soziale Herkunft einen großen Einfluss auf den Bildungserfolg. Deshalb fordert Steinbrücks Bildungsexpertin Prof. Yasemin Karakaşoğlu ein gerechteres Bildungssystem. Wie sie das erreichen und weitere Probleme bewältigen will, erklärt sie im Interview mit MiGAZIN.

Von Freitag, 20.09.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 23.09.2013, 22:39 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Im Schattenkabinett von Peer Steinbrück sind Sie für das Ressort Bildung und Wissenschaft vorgesehen: Das Ministerium für Bildung und Forschung, in dem heute Johanna Wanka sitzt, soll also einmal Ihres werden. Warum macht eine Erziehungswissenschaftlerin, die in der Wissenschaft sehr angesehen ist, Wahlkampf für die SPD?

Yasemin Karakaşoğlu: Ich sehe gar keinen Gegensatz darin, dass ich als Wissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung nun auch auf diese Weise politisch aktiv bin. Im Gegenteil, es war für mich an der Zeit, dazu beizutragen, dass meine wissenschaftlichen Erkenntnisse ihren Weg in die politische Umsetzung finden.

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Ja, Wahlkampf ist für mich ein neues und noch ungewohntes Format der Vermittlung von Inhalten, die mir wichtig sind, also Bildungsgerechtigkeit und interkulturelle Öffnung unseres gesamten Bildungs- und Wissenschaftssystems. Mich haben aber die bildungspolitischen Ziele und Maßnahmen des SPD-Regierungsprogramms und der Anträge, die die SPD auf Landes- und Bundesebene in die Parlamente einbringt, überzeugt. Sie stimmen mit den aktuellen Erkenntnissen der Bildungsforschung überein. Die aktuelle Regierung regiert dagegen an diesen Erkenntnissen vorbei. Unser Bildungssystem ist sozial ungerecht. Bildungserfolg hängt immer noch auch von der Herkunft der Familie ab. Um hier nachhaltige Veränderungen zu bewirken, hat die SPD die richtigen Ansätze.

Welche Relevanz hat die soziale Frage in der Bildung? Welche Ursachen gibt es, die verhindern, dass Menschen die gleichen Bildungschancen besitzen?

Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu ist Konrektorin der Universität Bremen für Interkulturalität und Internationalität. 2000 veröffentlichte sie ihre Dissertation zu „Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung zu Orientierungen bei türkischen Lehramts und Pädagogikstudentinnen in Deutschland“. Zur Kopftuchdebatte veröffentlichte sie zahlreiche Stellungnahmen. Karakaşoğlu ist u. a. Mitglied im SVR, dem Rat für Migration und seit Juli 2013 im Kompetenzteam von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück für den Bereich Bildung und Wissenschaft.

Karakaşoğlu: In Deutschland spielt die soziale Herkunft eine immense Rolle beim Zugang zu höherer Bildung und bei den Bildungserfolgen. Kinder aus Akademikerfamilien haben eine dreifach höhere Chance nach der Grundschule auf ein Gymnasium überzuwechseln als solche aus Nicht-Akademikerfamilien. Kinder mit Migrationshintergrund sind immer noch überrepräsentiert an Haupt- und Förderschulen und haben größere Probleme beim Übergang in eine berufliche Ausbildung. Das Bildungssystem selektiert zu früh, ist nicht durchlässig genug und setzt zu stark auf die Unterstützung durch das Elternhaus. Wer diese nicht findet, hat eben Pech gehabt – das darf so nicht bleiben.

Welche persönlichen Erfahrungen prägen Ihr Verständnis von Chancengerechtigkeit?

Karakaşoğlu: In meiner eigenen Bildungsbiographie habe ich bei der Aufnahme in die erste Klasse durch eine Lehrerin erlebt, dass sie mich für nicht begabt hielt aufgrund meiner (halb-)türkischen Herkunft. Meine Mutter hat das zum Glück ignoriert und mich in meinem Bildungswillen sehr gestärkt. Später hatte ich auch Lehrerinnen, die meine Fähigkeiten und mein Potential richtig einzuschätzen wussten. Ich bin damit ein Beispiel dafür, wie entscheidend die Rolle einzelner Lehrer aber auch des Einsatzes von Eltern ist, damit Kindern Gerechtigkeit im Bildungssystem widerfährt. Chancengerechtigkeit bedeutet, dass der Bildungsgang eines Kindes von solchen Zufällen nicht abhängig sein darf.

Welcher Umbau des Schulsystems muss erfolgen, damit es ein gerechteres wird?

Karakaşoğlu: Die Stichworte sind hier: mehr Durchlässigkeit, individuelles Fordern und Fördern, Ressourcenorientierung, längeres gemeinsames Lernen und Schule als Lern- und Lebensraum. Wir brauchen gute Ganztagsschulen. Wir müssen Inklusion behutsam und sachgemäß umsetzen und sie auch als interkulturelle Öffnung verstehen. Außerdem sollten wir die reelle Chance eröffnen, höherwertige Schulabschlüsse in einer durchgängigen Schulform in unterschiedlichem Lerntempo zu erreichen. Das alles sind wichtige Komponenten des Umbaus.

Das Thema Inklusion berücksichtigt heute nur die Beschulung von Kindern mit Behinderung in Regelschulen. Was bedeutet für sie Inklusion? Ist das alles?

Karakaşoğlu: Inklusion ist (siehe oben) ein Paradigmenwechsel. Sie bedeutet eine Umorientierung weg von der Idee, dass der Einzelne die Erwartungen der Schule an den Durchschnittsschüler erfüllen muss, hin zu Bildungseinrichtungen, die sich an den Bedürfnissen und Ressourcen der heterogenen Nutzer orientieren. Dies muss sich niederschlagen sowohl in der materiellen Ausstattung als auch in den pädagogischen Konzepten, Methoden, den Haltungen der Verantwortlichen gegenüber Heterogenität, wie auch in den Routinen und Regeln der Institution.

Was möchten Sie tun, um Lehrer und Ausbilder dazu zu bewegen, sich auf die Vielfalt der Schüler einzustellen und Inklusion umzusetzen?

Karakaşoğlu: An der Universität Bremen habe ich die Verantwortung für die Entwicklung von verpflichtenden Ausbildungsanteilen in der universitären Lehrerbildung übernommen. Wir haben zusammen mit Kollegen der Fachdidaktiken und der Erziehungswissenschaften Modulanteile im Bachelor und Master entwickelt, in denen sich alle Lehramtsstudierende mit dem Umgang mit Heterogenität in der Schule auseinander setzen müssen. Das Modul beinhaltet Zugänge zum Thema soziale Heterogenität, Leistungsheterogenität, Gender, Altersheterogenität, sprachlich-kulturelle Heterogenität aus Sicht der Interkulturellen Bildung, der Inklusiven Pädagogik und Deutsch als Zweitsprache und verbindet so Inklusion mit interkulturellen und mehrsprachigen Inhalten. Ich würde gerne die Länder davon überzeugen, dass sie sich daran beteiligen, dieses Konzept in der Ausbildung flächendeckend umzusetzen.

Auf der Agenda des 100-Tage-Programms von Peer Steinbrück steht die doppelte Staatsbürgerschaft. Warum braucht Deutschland die doppelte Staatsbürgerschaft?

Karakaşoğlu: Damit zeigt Deutschland, dass es in der Liga der echten Einwanderungsländer mit einer zeitgemäßen Sicht auf Staatsbürgerschaft und Partizipation angekommen ist. Mit der Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft erkennen wir eben auch an, dass Migration andere, transnationale Lebensentwürfe und Mehrfachorientierungen nach sich zieht und beendet die diskriminierende Praxis der unterschiedlichen Behandlung von Zugewanderten unterschiedlicher Herkunftsländer. Aktuell Interview Politik

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  1. Wie kommt es eigentlich, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 14 Mrd. Euro einen fast ebensogroßen Etat hat wie das Schulministerium in NRW, obwohl Bildung eigentlich Ländersache ist? Während das BMBF mit Geld zugeschüttet wird, musste die rot-grüne Landesregierung in NRW den Etat für Vertretungsstellen um 50% (!) kürzen, damit NRW seine Sparziele nicht verfehlt.
    Und warum investiert das BMBF Geld in Alphabetisierungs“kampagnen“ und „-aktionen“, anstatt das Geld direkt an die Schulen zu geben, die eine gute Grundbildung liefern könnten, wenn sie finanziell nur richtig ausgestattet wären.

  2. Han Yen sagt:

    Frau Yasemin Karakasoglu ist eine Erziehungswissenschaftlerin und nur eine Erziehungswissenschaftlerin – das merkt man. Bildung ist formale Bildung, Erfahrungslernen, Verbraucherbildung, Digital Literacy und Literalität bezogen auf Gebrauchstexte. Der grosse Wurf im bestehenden Bildungssystem lässt sich im nationalen Rahmen nicht machen. Bildung hat immer auch die Aufgabe Arbeitsmärkte zu konstruieren. Das deutsche Schulsystem ist anachronistisch geworden durch die EU Integration. Heutzutage kann man nicht mehr davon ausgehen, dass Schulabgänger dem lokalen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt auffüllen werden. Die Freizügigkeit im EU Arbeitsmarkt führt zu der Lebensform Jobnomade. Der transnationale Hochschulraum stellt ebenfalls Anforderungen an die zubringenden Schulen. Praktikanten müssen heute für den Lebenslauf unbezahlte Praktika auch in entfernten Ländern annehmen, um beschäftigungsfähig zu werden. Diese Anforderungen an Mobilität, Flexibilität und lebenslanges Lernen werden nochmals potenziert durch die Euro-Krise. Alle Staaten in der EU stehen vor dem Problem ein anachronistisches Schulsystem mit anachronistischen Lehrplänen zu haben. Die entstehende Freihandelszone zwischen der EU und der NAFTA wird einigen Wirbel und Unternehmenstode mit sich bringen, die den Wettbewerb durch us-amerikanische Firmen nicht standhalten. Die Hartz – Gesetze zwingen Menschen überall im Land sich um Stellen zu bewerben, obwohl es zu wenig Stellen gibt in einzelnen Berufsgruppen. Einfach den Suchraum um die Arbeitsmärkte der Grenzregionen im europäischen Ausland zu erweitern, geht schon wegen der fehlenden EU-weiten Standardisierung der Lehrpläne nicht. Ähnlich mau sieht es aus mit der Internationalisierung der Schulen. Gegenwärtig hat jeder EU Staat eigene Schulen für seine Auswanderer in den ehemaligen Kolonien, Botschaftsvierteln und wichtigen Handelspartnern. Viele Migranten in Europa sind aus ehemaligen europäischen Kolonien eingewandert. In Europa haben sie viel Flexibilität bewiesen. Es fehlt an transnationalen Schulpartnerschaften mit multinationalen Konzernen, um Work & Travel Programme und Auslandsjahre im Ein- und Auswanderungsland allein über den Kanal Auswanderschulen der EU Staaten zu organisieren. Die Citizenship Education hat bis heute nicht geschafft, Service Learning Partnerschaften zwischen Bildungsakteuren und transnationaler Zivilgesellschaft normal zu machen. Bei der Friedenserziehung wird einfach auf den Aufbau von Peace Corps nach us-amerikanischen Vorbild verzichtet. Zu J.F. Kennedy Zeiten waren Peace Corps ein Mittel um Friedenserziehung praktisch erlebar zu machen. Europa als Friedensprojekt ist in der Pflicht, Migranten in einen Peace Corps und in die Entwicklungszusammenarbeit einzubinden. Im Kleinkind Bereich fehlen Waldkindergarten als Zubringer für die Pfadfinder und Natursportarten, um die Jugend aus den trostlosen Städten zu holen. Wir haben keine sinnvollen Karriereleitern und Entlohnungssysteme für Lehrer. Wir brauchen die Personal-Förderungsprogramme der multinationalen Konzerne auf Lehrkräfte angewandt. D.h. wir brauchen einen gemeinsamen Arbeitsmarkt EU-weit für Lehrkräfte. Wir brauchen ein Bonus-System, das Lehrkräfte nach Mehrwert enlohnt den sie bei den Schülern geschaffen haben. Dazu müssen wir Personalbudgets für Lehrkräfte nicht als Kosten sehen, sondern als Umschichtungsbudget zwischen Bildung und Gefängnis und sozialer Arbeit. Der Beruf eines Lehrers ist auch Sozialarbeiter und Gefängniswärter arbeitslos zu machen. Im Wesentlichen brauchen wir flächendeckend Europa-Schulen mit Charakteristika der elitären Internationalen Schulen und der Bodenständigkeit von Community Schools. Die Journalismus Ausbildung ist unbedingt wieder von PR-Ausbildung zu trennen, um die öffentliche Meinung nicht vom italienischen Beispiel vergiften zu lassen. Journalisten können nur dann kritisch berichten, wenn sie bei Arbeitslosigkeit nicht als PR Mann beim ehemals kritisierten Konzern anklopfen müssen für ein Vorstellungsgespräch. Die Digitalisierung und Virtualisierung der Universitäten, Kurse und Lehrmaterialien verschlafen wir völlig. USA und Südkorea sind da schon viel weiter. Der Rundfunk-Rat sollte demoratisch durch die europäischen Regionen nach einem Verhältnis bestimmt werden, um europäische Teilöffentlichkeiten zu schaffen. Ebenso der Werberat.

  3. Clemens M. sagt:

    @ Georg Niedmüller
    Das BMBF ist nicht nur für den schulischen Bereich zuständig sondern für alles was mit Bildung und Forschung zu tun hat. Man kann natürlich streiten, ob das dafür bereitgestellte Geld sinnvoll ausgegeben wird.
    Aber die Landesmittel, das jedes Bundesland ausgibt, bestimmt das Bundesland selber bzw. hängen von den Einnahmen ab.
    NRW ist nicht sehr reich aus verschiedenen Gründen, und gehört zu den Bundesländern, die am wenigsten pro Schüler ausgeben (ca. 5000€ für alle Schulformen – Thüringen gibt mit 7700€ das meiste aus). Die Qualität hängt aber nicht alleine vom Geld ab.