Dämmerlicht

Wie im Kleinen, so im Großen

Worauf basieren Gesellschaften, in denen Menschen mehr oder weniger harmonisch miteinander und nebeneinander leben? Sie basieren auf Werte.

Von Navid Dastkhosh-Issa Freitag, 06.09.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 12.09.2013, 1:49 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Und zwar nicht auf irgendwelche Werte, sondern auf solche, die eine gewisse Stabilität, eine gewisse Vertrauensbasis im Umgang miteinander gewährleisten. Werte, die für das Weiterbestehen und den Erhalt der Gesellschaft Sorge tragen. Die Werte, um die es sich hier handelt, kennen wir alle, Werte wie Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl. Wie so vieles andere auch, nützt das alleinige Kennen dieser Werte nicht unbedingt, wenn man diese im täglichen Leben nicht konsequent praktiziert und in der Praxis nicht trainiert.

Die Basis hierfür ist uns Menschen angeboren, d.h. wir zeigen im unvoreingenommenen Kleinkindalter, dass wir dazu neigen, gerecht zu handeln und Mitgefühl zu zeigen. Die geistig-emotionale Flexibilität des Menschen, wie sie insbesondere in der Kindheit und Jugendzeit gegeben ist, bringt es jedoch mit sich, dass diese Grundlage, die wir in uns tragen, überschüttet werden kann durch andere Werte, die wir im Laufe unserer jungen Jahre vorgelebt bekommen. Spätestens hier wird deutlich, welchen unüberwindbar direkten Bezug die „Beschaffenheit“ einer Gesellschaft mit jeder der in ihr lebenden Familien hat – also der Institution, von der Menschen richtungsweisend geprägt werden. Kurzum gesagt, intakte Familien sind die Grundbedingung einer intakten Gesellschaft. Ohne stabile und aufbauende familiäre Verhältnisse bröckelt langsam aber sicher die Gesellschaft auseinander.

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Eine „intakte“ Familie – ja auch das Bild kennen wir alle und wissen instinktiv, wie sie auszuschauen hat. Im vereinfachten Idealfall sind es Mutter und Vater, die Ihr(e) Kind(er) liebevoll und verantwortungsbewusst aufziehen. Der Ist-Zustand unserer Gesellschaft zeigt jedoch ein etwas anderes Bild: Zunehmend mehr alleinerziehende Elternteile, vor allem jedoch alleinerziehende und dabei nicht selten im Stich gelassene Mütter, die einen belastenden Spagat zwischen Berufstätigkeit und Muttersein über Jahre hinweg aufrechterhalten und durchziehen müssen. Dem vorausgehend zunehmend mehr Trennungen, in denen die Kinder, nicht selten über Monate und Jahre hinweg, die verunsichernde und Angst einflößende Situation, in der sich genau die zwei Menschen, die das Kind am meisten liebt und braucht, sich bekriegen, aushalten müssen.

Elternteile, die ihr(e) Kind(er) „nebenbei“ aufziehen, Kinder, die von den Unterhaltungsmedien erzogen werden usw. nehmen zu. Nicht, dass es keine Familien mehr gibt, die geprägt sind von einem harmonischen Miteinander beider Elternteile, die gibt es – mit und ohne Migrationshintergrund – aber es scheint, dass dies immer mehr zu einem Luxus wird. Als Grund dafür hört man oft den Umstand, dass die Familie, dass Mütter und Kinder nicht oder nicht effektiv von der Politik unterstützt werden. Das ist z.T. richtig und leider wahr. Aber wenn man sich die Nöte der Kinder und Jugendlichen anschaut, bemerkt man unweigerlich, dass es ihnen am allermeisten an geistiger und/oder emotionaler Zuwendung fehlt.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der die vielversprechende Selbstverwirklichung vollkommen entgleist ist und breitflächig und oft unbemerkt in purem Egozentrismus umgeschlagen hat, der sich natürlich auch auf das Familienleben auswirkt. Unbemerkt deshalb, weil viele Eltern trotz Liebe zu ihren Kindern sich im Grunde egozentrisch verhalten, indem sie z.B. die Freizeitgestaltung ihrer Kinder bereitwillig und dankbar den Unterhaltungsmedien überlassen, indem sie nicht immer wieder das Gespräch mit Ihren Kindern suchen, indem sie Streitigkeiten miteinander vor ihren Kindern austragen, indem sie ihre eigenen Vorurteile an ihren Kindern weitergeben, indem sie nicht nachfragen, was gerade „ansteht“ bei ihren Kinder, was sie „bewegt“ und vielleicht verunsichert, was die Inhalte der Spiele sind, die ihre Kinder schon im Grundschulalter konsumieren, was die Internetseiten beinhalten, die ihre Kinder besuchen, was sich hinter der Maske der Aggression für Ängste und Sorgen befinden usw. usf.

Der Preis dafür ist viel zu hoch, als dass Eltern – deutschstämmige wie nicht-deutschstämmige – solche Achtlosigkeiten mit Zeitmangel und/ oder Sprachschwierigkeiten usw. zu erklären versuchen. Erschwernisse wie Zeitmangel, Stress, Sprachprobleme usw. sind zwar oft tatsächlich vorhanden, und dass die Erziehung von Kindern gerade auch unter den genannten Bedingungen nochmal ein Stück mehr Nerven und Ausdauer braucht, ist keine Frage. Aber die Entscheidung, Kinder zu haben, bringt nun mal unweigerlich die immense Verantwortung mit sich, aktuell informiert zu sein über das Umfeld, die Umwelt, den geistigen Konsum und das emotionale Befinden der Kinder, allein schon, um diese schützen zu können.

Mehr denn je ist es heute nicht möglich, Kinder „nebenbei“ zu erziehen. Ein chinesisches Sprichwort sagt treffend: „Es bedarf eines ganzen Dorfes, um ein Kind zu erziehen.“ Dieses Dorf haben wir aber nun mal nicht, geschweige denn eine Gesellschaft, in der sich die Menschen verantwortlich füreinander fühlen, in dem sie Interesse am Wohlergehen des Anderen haben. Bis auf Ausnahmen herrscht die Strategie des Wegschauens mit der Begründung, dass es doch nicht das eigene Problem ist. Inmitten eines solchen Zeitgeistes dürfen Eltern ihre Kinder nicht geistig-emotional sich selbst überlassen, denn wenn Kinder und Jugendliche nicht durch ihre Mutter, nicht durch ihren Vater oder andere nahen Verwandten emotionale Stabilität erfahren und keine sozial notwendigen Werkzeuge für ein friedvolles Miteinander in die Hand bekommen, werden sie diese höchstwahrscheinlich überhaupt nicht erlangen.

Wie, wenn nicht im tagtäglichen Umgang miteinander, sollen Kinder und Jugendliche Werte wie Verantwortungsbewusstsein und Mitleid lernen? Auch wenn die allermeisten Eltern sich im Grunde wünschen, dass aus ihren Kindern glückliche und konstruktive Erwachsene werden, übersehen viele, dass zu einem „glücklichen“ Leben innerhalb einer Gesellschaft auch gewisse soziale Kompetenzen gehören, die den Kindern von den Eltern beigebracht werden müssen, gewisse geistige Tugenden wie Geduld, Rücksicht und die Fähigkeit, ohne Aggressivität mit einem anderen Menschen zu kommunizieren. Kinder und Jugendliche lernen zu allererst an Vorbildern.

Wie also sollen aus den heutigen Kindern und Jugendlichen liebesfähige, beziehungsfähige und verantwortungsbewusste Erwachsene werden, wenn zumindest ein erheblicher Teil ihrer Erziehung durch die Unterhaltungsmedien übernommen und von den meisten Eltern in Ahnungslosigkeit bereitwillig und dankend diesen überlassen wird? Wenn man sich klar macht, dass die Erziehung der Kinder, d.h. die Erziehung der nächsten Generation(en) ein Gut ist, um das immer mehr konkurriert wird, dann sticht die Sorg- und Ahnungslosigkeit vieler Eltern bezüglich der Zukunft ihrer Kinder und somit der Zukunft unserer Gesellschaft noch heftiger hervor.

Die Feststellung, dass eine gesunde Gesellschaft emotional zufriedener Menschen bedarf, bringt die Verantwortung mit sich, dass Werte, die dies bedingen, aktiv gelebt und an die nächste Generation weitergegeben werden. Das ist in unserer Verantwortung als Erwachsene und es bedeutet im Falle der Eltern, dass diese sich Zeit nehmen sollten für ihre (jugendlichen) Kinder und zwar weit mehr, als das heute in der Regel der Fall ist. Es sind genau die kulturübergreifenden und religionsübergreifenden Werte wie Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein, altmodisch anmutende geistig-emotionale Güter wie die Fähigkeit zur Nächstenliebe und zur Nachsicht, die existenziell sind für eine harmonische Familie und somit existenziell für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander – diese Werte entfalten ihre heilsame Wirkung nicht, wenn sie nicht täglich von uns Erwachsenen vorgelebt werden, sie bleiben ungenützt, wenn Kinder und Jugendliche keinen Reiz, keine Aufforderung und keinen Ansporn sehen, diese Werte selbst anzuwenden und zu leben.

Machen wir uns als Teil dieser unserer Gesellschaft, als Mütter, als Väter, als PädagogInnen, als einzelne Menschen, die Heilsames vollbringen können und damit als die tatsächlichen Gestalter unserer Gesellschaft nur ein einziges Mal diese unsere große Verantwortung klar und lassen sie nicht mehr aus dem Sinn – um wie vieles vorausblickender und eigenverantwortlicher wären die nächsten Generationen, ja um wie vieles friedvoller unsere Welt. Aktuell Meinung

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  1. Han Yen sagt:

    Die Wertedebatte hilft uns kaum weiter. Wenigstens das sollte man gelernt haben nach all des Ping-Pong zwischen Leitkultur, Multikulturalismus und Pluralismus. Konservative Regierungskoalitionen setzen auf die Erfindung einer christlich-jüdischen Identität, um ein grosses „Wir“ gegen ein muslimisches „Ihr“ durchzusetzen: auf dem Terrain der Wertedebatte lässt sich nichts gewinnen. Sozialdemokratische Koalitionen in Skandinavien leben einen ausgesprochenden Wertepluralismus und haben dennoch strukturell ähnliche Probleme mit Zuwanderung. Das Projekt Weltethos des Theologen Hans Küng identifizierte Gemeinsamkeiten zwischen allen Weltreligionen und ist ausser eine diskursive Geste politisch, sozial und kulturell bedeutungslos. Gerade die migrantischen Familien werden verächtlich gemacht, weil sie fremdartige Formen der Geschlechterrollen leben. Die Verächtlichmachung manifestiert sich am einen Ende als Angst vor schwarzen Männern als „Black Brute“, dass sich auch popkulturell in metaphorischen Kassenschlagern wie „King Kong und die weisse Frau“ manifestiert hat. Am anderen Ende an verweiblichten jüdischen Mann und dem jüdischen Flintenweibern, weil man Angst vor dem politischen Feminismus der jüdischen Frauen hatte. Dazwischen sind die seid den Napoleonischen Kriegen explosionsartig angewachsenden Orient-Fantasien von Vielweiberei, Harems und Paschas. Es ist nicht möglich, positive Familienwerte in die Diskurse der Dominanzgesellschaft zu bringen, weil sie die Parlamente, Kulturproduktion, Medien und Bildungsinstitutionen kontrollieren. Migrantische Familien werden immer als Sozialschmarotzer, Überbevölkerungsproduzenten, heimliche Invasoren angesehen, Kinder aus migrantischen Familien müssen zwangsläufig Scham und Selbthass für ihre Eltern und Ihresgleichen entwickeln. Gegen diese Allianz der Ungerechtigkeit hilft nur die Gegenöffentlichkeit der Strasse. Dafür haben wir in der BRD eigene Traditionslinien: angefangen von den Kindergeldkampagnen der Gastarbeiter in den 1970er, wo sich die Leute gewehrt haben gegen Kindergeldkürzungen nur bei Gastarbeitern bis zu bis zu den Streiks der Ruhrpolen und der türkischen Ford-Arbeiter. Die isolierten Zurückweisungen der Zumutungen der Domminanzgesellschaft haben sich nicht verstetigt. Weltweit gesehen ist die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er – 1970er erfolgreich gewesen, die Seggregation zwischen afroamerikanischen und weissen Kindern aufzuheben. Was wir brauchen ist kollektives politisches Lernen durch soziale Konflikte, Verhandlung und Agenda-Setting durch Massenmärsche. Sonst wird die Kindersterblichkeit und die Sterblichkeitsrate bei Erwachsenden weiterhin so hoch bleiben. Nichtweisse Frauen werden weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert, während erfolgreiche weisse deutsche Frauen, sich slawische Haushaltsangestellte für die Hausarbeit leisten können. Das Grundgesetz ist längst unterlaufen. Die Amtliche Statistik definiert Kinderarmut einfach weg. Die Staatsorgane nehmen Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht ernst für alle Einwohner – um so weniger wird sie ernst genommen bei Bevölkerungskategorien, die als Wählerblock keine Rolle spielen.

  2. Nun ja, HAN YEN kommt mit einem kämpferischen Duktus daher, das hat sicher seine Berechtigung.

    Leider entspricht vieles nicht der Wirklichkeit. Es ist z.B. völlig absurd und unverschämt zu behaupten Migrantenfamilien würden vor allem und von allen als Sozialschmarotzer, Überbevölkerungsproduzenten usw. angesehen. Völlig absurd.

    Was mich betrifft ich intellektualisiere und verdamme nicht nur, sondern ich habe auch Kontakt zu einer großen Anzahl von ganz anders denkenden Menschen … „die Deutschen“ sind übrigens auch bekannt für ihre massive Selbstabwertung sie „lieben es“ vor allem auch „sich selbst schlecht zu machen“, aber dass nur als intime Kenntnis nebenbei. Vielleicht sollte sich HAN YEN mal wirklich mit „den Deutschen“ befassen das täte ihm ganz gut.

    Es ist beschämend diese unendliche Anzahl von gutwilligen und wohlgesonnen Menschen, die voller Menschlichkeit sind in diesem Land so abzuwerten.

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International)