Flucht aus Syrien

„Wir hatten Todesangst“

Zwei Millionen Syrer sind laut neuesten Zahlen auf der Flucht. Kassem Kawalda ist einer von ihnen und lebt seit zwei Wochen in Deutschland. Doch nicht jeder hat so viel Glück und Geld wie er. MiGAZIN sprach mit ihm über seine Flucht und die Situation in Syrien.

Von Mittwoch, 04.09.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 27.11.2015, 8:57 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Erzählen Sie uns etwas von Ihrem Leben in Syrien. Woher kommen Sie genau und was haben Sie dort beruflich gemacht?

Kassem Kawalda: Ursprünglich komme ich aus Darra, das ist der Ort, in dem die Proteste gegen Assad begonnen haben. Ich bin aber bereits vor Ausbruch der Proteste aus beruflichen Gründen nach Damaskus gezogen, weil dort die wirtschaftliche Lage besser war. Dort war ich selbstständig und habe mit Elektrogeräten gehandelt. Finanziell ging es mir sehr gut.

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Warum sind Sie dann geflüchtet?

Kawalda: Einerseits aufgrund der Sicherheitslage im Land. In Damaskus war es zwar weitestgehend friedlich, doch es bestand immer die Gefahr, dass irgendwo in der Nähe eine Autobombe explodiert. Zum anderen aus wirtschaftlichen Gründen. Nach Ausbruch des Konflikts hat sich die wirtschaftliche Lage im Land massiv verschlechtert und damit auch meine. Ich stand vor der Frage, in welchem Land ich mein Geschäft fortsetzen könnte. Naheliegend war Libanon. Doch die Lage dort ist unberechenbarer denn je und kann jederzeit eskalieren. Also habe ich an Europa gedacht. Ich stand vor der Alternative Schweden oder Deutschland. Nach meinem Kenntnisstand waren in diesen Ländern das Asylrecht und die Lebensbedingungen am besten. Ausschlaggebend war aber, dass ich in Deutschland Verwandte habe.

Wie sind Sie geflüchtet?

Kawalda: Ich bin über Libanon, Türkei und Griechenland nach Deutschland geflüchtet. Das war ein sehr schwieriges, lebensgefährliches Unterfangen. Ab der Türkei begannen die Probleme.

Wir waren insgesamt 14 Flüchtlinge, darunter Palästinenser, Iraker, Kurden und natürlich Syrer. Von Istanbul aus wurden wir von einem Schlepper zu einem abgelegenen Dorf gefahren. Wir sind abends angekommen und sind im Dunkel der Nacht direkt weitergelaufen, um nicht von türkischen Sicherheitskräften entdeckt zu werden. Wir haben mehrere Flüsse mithilfe aufblasbarer Boote überquert. Insgesamt waren wir zwei Nächte ohne Nahrung unterwegs, bis wir schließlich die griechische Grenze überquerten.

In Griechenland erwartete uns ein weiterer Schlepper in einem Fünfsitzer. Wir mussten alle in einen Wagen einsteigen. Unser Ziel war Assina (Griechenland). Ich musste mit zwei weiteren Personen in den Kofferraum steigen. Wir wären dort fast erstickt. Das war die mit Abstand gefährlichste Situation in meinem Leben.

In Assina lernte ich einen anderen Schlepper kennen, der mir gefälschte Ausweisdokumente für die Ausreise besorgte. Ich versuchte, auf dem Luftweg nach Deutschland zu gelangen. Beim ersten Mal flog ich auf und wurde wegen Besitz gefälschter Ausweisdokumente und Versuch der illegalen Ausreise zu 40 Tagen Haft verurteilt, wurde aber bereits nach zwei Tagen wieder freigelassen und aufgefordert, das Land zu verlassen, was ohne Papiere auf legalem Wege aber nicht möglich ist. Nach dem vierten Versuch ist mir die Ausreise schließlich gelungen.

Gab es keine Alternative zur illegalen Ausreise?

Kawalda: Ich habe mehrere Male versucht, Asyl zu beantragen, leider ohne Erfolg. Die Ausländerbehörde weiß, dass ich mit gefälschten Papieren eingereist bin. Sie haben mir eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben. Mir wurde gesagt, dass ich in ein Heim gehen könne, wohne aber bei meinen Verwandten.

In Deutschland gibt es Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.

Kawalda: Es ist natürlich unangenehm, wenn man von Demonstrationen hört, die gegen die Flüchtlinge gerichtet sind. Andererseits kann ich die Proteste und den Widerstand nachvollziehen, denn die Flüchtlinge stellen erst einmal natürlich eine finanzielle Belastung für Deutschland dar. Solange es bei friedlichen Protesten bleibt, habe ich aber nichts dagegen.

Wie ist die Flüchtlingssituation in Syrien insgesamt und wie geht es ihrer Familie?

Kawalda: Es sind mehrere Millionen Menschen auf der Flucht. Sie wählen diesen Weg trotz aller Schwierigkeiten, denn alles ist besser als die Todesgefahr. Wer wohin flüchtet, hängt davon ab, wo er lebt und wie seine finanzielle Lage ist.

Die Menschen, die in den Grenzgebieten leben, flüchten häufig in die naheliegenden Nachbarländer, wie Türkei, Libanon, Jordanien oder Irak. Die mittellosen Syrer leben dort in der Regel in Flüchtlingslagern, arbeiten als Niedriglohner und leben unter sehr schlechten Bedingungen. Krankheiten sind weit verbreitet und die Versorgung ist sehr schlecht. Die Möglichkeit in den Westen zu flüchten, haben natürlich nur diejenigen, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Meine Flucht nach Deutschland hat mich 9.000 Euro gekostet. Das kann sich nicht jeder leisten.

Aber für viele Menschen kommt eine Flucht nicht in Frage. Das gilt vor allem für diejenigen, die in den sicheren Gebieten Syriens leben. Das sind Gebiete, die von den syrischen Sicherheitskräften kontrolliert werden. Es gibt dort keine Kämpfe und damit auch keine akute Lebensgefahr. Das Leben dort ist ganz normal, so als gäbe es keinen Krieg. Kinder gehen in die Schule, Arbeiter gehen ihrer Arbeit nach. Und dennoch ist eine gewisse Anspannung spürbar. Die Gefahr, dass Attentate verübt werden, ist vorhanden. Meine Familie lebt überwiegend in den sicheren Gebieten. Wir telefonieren und kommunizieren über das Internet miteinander.

Gebiete, die von der bewaffneten Opposition besetzt sind, sind unsicher. Dort versucht die syrische Regierung die Kontrolle zurückzuerlangen und es kommt zu Konfrontationen.

Wie war die wirtschaftliche, soziale und politische Lage vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien?

Vor Ausbruch des Kriegs befand sich Syrien im wirtschaftlichen Aufschwung. Besonders zwischen 2006 und 2011. Es gab Millionen von Arbeitsmigranten aus dem Ausland. Vor allem in den Großstädten.

Das Verhältnis zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen war ebenfalls sehr gut. Das Syrer-Sein stand im Vordergrund und nicht die Religion. In Syrien ist auf dem Ausweis die religiöse Zugehörigkeit nicht angegeben. Syrien ist ein säkularer Staat. Es gibt keine staatliche Diskriminierung gegen irgendeine religiöse Gruppierung. Als Schiit habe ich gemeinsam mit meinen sunnitischen Geschwistern in deren Moscheen gebetet. Es gab einen starken Zusammenhalt und in Teilen Syriens ist das immer noch so.

Was waren die Auslöder für die Demonstrationen in Syrien?

Kawalda: Nachdem die Menschen in Tunesien, Ägypten und Libyen für ein besseres Leben demonstriert haben, strebte auch das syrische Volk Veränderungen an. An den Demonstrationen nahmen unterschiedliche religiöse Gruppierungen teil. Bis dahin sprach niemand von einem Bürgerkrieg, geschweige denn von einem Religionskrieg. Es waren auch unbewaffnete Sicherheitskräfte vor Ort, die die Demonstrationen beobachteten.

Ich habe auch für mehr Freiheit demonstriert, bis ich gemerkt habe, dass die Opposition ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen versucht. Es ging nicht mehr darum, die Lebensverhältnisse zu verbessern, sondern das Ziel vieler Demonstranten bestand darin, das Land zu zerstören. Ihnen ist jedes Mittel recht, um Assad zu stürzen. Interview Leitartikel

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  1. Mathis sagt:

    „Stellvertreter Krieg“, „Bürgerkrieg“ ??
    So, so: das macht also einen Unterschied? Für´s humanitäre Engagement, meine ich??
    Da wir da wohl in der Politik auf keinerlei einheitliche Interpretationen hoffen können, sollten wir „der Politik“ in Asylfragen nicht noch solche Details vor die Füße werfen, auf dass sie auf einer ideologisch einheitlichen Linie tätig werden.Mir wäre die „pure Menschlichkeit“ als Asylgrund vollkommen genug, den Menschen „vor Ort“ sicherlich auch.