Ausländerpolitik in den 80ern (4/9)
„Es ist einfacher, über Integration zu reden, als selber in einem Türkenviertel zu wohnen.“
Bonn, 4. Februar 1982. Im Bundestag debattieren die Parteien über Ausländerpolitik – Familienzusammenführung, Assimilation, Einbürgerung, Gettos oder auch darüber, wie man Türken “loswird”. MiGAZIN veröffentlicht in einer neunteiligen Serie die Debatte in voller Länge. Heute: Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum (FDP)
Montag, 12.08.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 13.08.2013, 21:16 Uhr Lesedauer: 35 Minuten |
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! […]
Info: Gerhart Rudolf Baum (FDP) war zwischen 1972 und 1978 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, ehe er von 1978 bis 1982 selbst das Amt bekleidete.
___STEADY_PAYWALL___
Ich glaube, der bisherige Verlauf der Debatte hat uns vor Augen geführt, mit welch schwierigen Fragen wir es zu tun haben. Wir neigen ja in diesem Parlament sehr leicht zu abstrakten Debatten und zu Begriffen wie Rückkehranreize, Verfahrensbeschleunigung, Integrationsmodelle usw. Das darf uns nicht den Blick dafür verstellen, daß wir es mit Menschenschicksalen zu tun haben, Herr Dregger; natürlich auch mit deutschen Interessen und deutschen Belangen – dafür sind wir deutsche Politiker -, aber auch mit den Interessen und Belangen von 4,6 Millionen ausländischen Mitbürgern. Daran sollten wir hier denken.
(Beifall bei der FDP und der SPD)
Es ist für alle Seiten relativ einfach, Prinzipien aufzustellen. Aber es ist natürlich sehr schwer, im Angesicht eines einzelnen Betroffenen diese Prinzipien zu verwirklichen. Deshalb möchte ich am Beginn meiner Ausführungen, meine Kollegen, jenen im Land danken, die sich der ausländischen Mitbürger annehmen, seien sie in den Kirchen tätig, seien sie an der Grenze tätig, seien sie in den Wohlfahrtsverbänden tätig. Wir haben allen Anlaß, diesen Menschen zu danken, die beispielsweise jetzt, während wir hier debattieren, ausländischen Kindern bei ihren Hausarbeiten helfen, damit sie die gleichen Chancen wie die Deutschen bekommen, denn diese Menschen tragen eine Last
(Beifall bei der FDP und der SPD)
und ermöglichen es dadurch, den Prozeß „gleiche Lebenschancen, Integration“ überhaupt fortzuführen. Auch ich möchte der Beauftragten der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer, Frau Funcke, im Namen der Bundesregierung für ihre bisherige Tätigkeit und ihr engagiertes Eintreten für die Sache sehr herzlich danken. Meine Damen und Herren der Opposition, dem können Sie sich sicher nicht entziehen.
(Beifall bei der FDP und der SPD – Dr. Jobst [CDU/ CDU]: Sie ist ja auch eine Vertriebene: eine Bonn-Vertriebene!)
„Wir bekennen uns zu dieser Verantwortung aus der verpflichtenden Humanität unserer christlich-abendländischen Tradition und aus der besonderen Verpflichtung unserer jüngsten Vergangenheit. Wir werden nämlich daran gemessen, Herr Dregger, wie wir mit Minderheiten in unserem Lande umgehen, und wir bekennen uns zu Artikel 16 des Grundgesetzes. Die Bundesregierung wird Artikel 16, der aus den bitteren Erfahrungen der Nazi-Zeit heraus entstanden ist, nicht abändern.“
Die heutige Debatte, Herr Kollege Dregger, hat von Ihrer Seite einige Spitzen gehabt.
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr milde!)
Sie sagen: sehr milde. Ich sage, sie hat einige Spitzen gehabt. Ich möchte hinzufügen: Ihr Beitrag entspricht eigentlich nicht ganz dem Konsens, den Bund und Länder in der Ausländerfrage bisher gehabt haben, und zwar alle Länder mit dem Bund zusammen. Da gibt es auch Meinungsverschiedenheiten. Aber im Grunde sind wir uns einig und das sollte für alle staatlichen Ebenen gelten: Den Stein der Weisen haben wir nicht gefunden, und es gibt auf allen staatlichen Ebenen von den Gemeinden über die Länder bis zum Bund Defizite an Entscheidung in Ausländersachen. Hier sitzt jeder im Glashaus, und hier sollte keiner dem anderen Vorwürfe machen. Das Ausländerproblem eignet sich, Herr Kollege Dregger, nicht als parteipolitischer Knüppel.
(Beifall bei der FDP und der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Dregger [CDU/CSU])
Sie haben ihn heute auch nicht geschwungen. Ich habe von „Spitzen“ gesprochen.
(Dr. Waffenschmidt [CDU/CSU]: Die Städte haben viel getan!)
Die Städte haben viel getan. Die Länder haben viel getan. Aber auch der Bund war nicht untätig, Herr Dregger. Das muß doch hier deutlich gesagt werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Der Bund hat nichts getan!)
„Wir bekennen uns zu dieser Verantwortung gegenüber den ausländischen Mitbürgern auch ganz schlicht deshalb, weil wir die Arbeitnehmer ja schließlich um unseres Vorteils willen ins Land geholt haben. Sie sind ja nicht spontan gekommen, sondern wir haben sie von 1955 an in dieses Land geholt. Es geht also um die Solidarität mit Menschen, die einen wesentlichen Anteil am Aufbau unserer Volkswirtschaft und an der Sicherung unseres sozialen Systems haben. Auch wenn sie arbeitslos sind, haben wir ihnen gegenüber Verpflichtungen.“
Ich werde das hier im einzelnen ausführen.
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Nichts Wirksames! – Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Kann schon mal jemand das Bundesverdienst kreuz holen?)
Die zahlenmäßige Entwicklung des Ausländerproblems war in den letzten Jahren vor allem durch zwei Umstände bestimmt: Zum einen haben wir einen sehr starken Zuzug von Familienangehörigen und den Anstieg der Geburten. Hier ist eine Zahl zu nennen. 1978 bis 1981 waren es 649 000 Personen. Das heißt, nach einer relativ konstanten Periode gibt es beim Familiennachzug einen deutlichen Anstieg. Dieser Anstieg hat sich inzwischen verlangsamt. Er betrug 1981 3,8 % gegenüber noch 7,4 % im Jahre 1980. Das zweite Element ist die Entwicklung der Asylbewerberzahlen. Hier gibt es in der Tat – Herr Kollege Dregger, wir haben oft darüber diskutiert – einen dramatischen Anstieg im Jahre 1980; es waren etwa 108 000 Asylbewerber. Der große Anteil von ihnen war Türken, die auf unseren Arbeitsmarkt kommen wollten. Diese Bundesregierung – die Sie angreifen – hat im Bereich der Asylpolitik Maßnahmen getroffen mit der Folge, daß die Zahl der Asylbewerber im Jahre 1981 um 55 % zurückgegangen ist. Herr Kollege Dregger, Sie müssen anerkennen, daß die Maßnahmen, die wir getroffen haben, dazu geführt haben, daß die Zahl der Asylbewerber um 55% zurückgegangen ist. Dabei handelt es sich bei den Asylbewerbern des Jahres 1981 zu einem Drittel um Flüchtlinge aus Osteuropa. Die will keiner von uns zurückschicken. Das muß man nüchtern und ehrlich sagen, wenn man über das Problem der Asylbewerber spricht. Man muß genauso hinzufügen, daß weitere 6 % aus Afghanistan kommen, ein Land, dem wir nicht nur rhetorisch Hilfe geben sollten, sondern den Flüchtlingen aus Afghanistan sollte hier Asyl gewährt werden. Das ist meine politische Meinung.
(Beifall bei der FDP und der SPD) Aktuell Politik
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Neue Behörde Ukrainer sollen arbeiten oder zurück in die Heimat
- Der Fall Prof. Dr. Kenan Engin Diskriminierung an deutschen Hochschulen kein Einzelfall
- Symbol der Abschottung Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete sofort stoppen!
- Kaum Auslandsüberweisungen Studie entlarvt Lüge zur Einführung von Bezahlkarten
- Einstiegsdroge: Ausländerfeindlichkeit AfD zur politischen Säule von Rechtsextremen geworden
- Umbruch in Syrien Was bedeutet der Sturz Assads – auch für Geflüchtete…
“Es ist einfacher, über Integration zu reden, als selber in einem Türkenviertel zu wohnen.”
Dieser Satz ist nach wie vor absolut richtig…man könnte auch sagen, die Toleranz wächst mit dem Abstand zum Problem.
„Dieser Satz ist nach wie vor absolut richtig…man könnte auch sagen, die Toleranz wächst mit dem Abstand zum Problem.“
Meine Toleranz wächst auch immer, je weniger ich mit Deutschen zu tun haben muss. Leider muss ich mich aber schon von berufswegen mit diesem Problem tagtäglich auseinandersetzen.
@Sandra
“Es ist einfacher, über Integration zu reden, als selber in einem Türkenviertel zu wohnen.”
Der Satz kommt vermutlich von FDP Politiker Gerhart Baum. Nun war Gerhart Baum ein Sohn von Rechtsanwälten und hatte nie in einem sozial schlechter gestellten Viertel gelebt. Wie will er denn überhaupt beurteilen können, wie es sich in einem Türkenviertel lebt, wenn er nie dort gelebt hat?
Mit anderen Worten: Es ist einfacher über etwas zu schwafeln, was man nicht kennt, als es kennen zu lernen.