Arm durch Arbeit
Vom Sinn und Unsinn der „Orientierungskurse“
Mit dem Orientierungskurs sollen Zuwanderer Deutschland näher kennenlernen. Was von den Teilnehmern aber abverlangt wird, sprengt teilweise den gesunden Menschenverstand: Riester-Rente, Einfluss des Bundesrates, Ehrenmord. Georg Niedermüller kennt den täglichen Wahnsinn. Er ist Integrationskurslehrer.
Von Georg Niedermüller Montag, 11.02.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.02.2013, 23:44 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Der „Orientierungskurs“ stellt einen Teil im Integrationskurs dar, in dem die TeilnehmerInnen „Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland“ erlangen sollen. Im § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Integrationskursverordnung wird als Ziel des Kurses die „Vermittlung von Alltagswissen sowie von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“ 1 angegeben. All dieses soll innerhalb von 60 Unterrichtseinheiten gelernt werden und mit einem Test abschließen, der aus 25 von 250 möglichen Fragen besteht. Werden mindestens 13 Fragen richtig beantwortet, gilt der Test als bestanden. Die Kursinhalte und Ziele lassen sich im 35-seitigen „Curriculum für einen bundesweiten Orientierungskurs“ nachlesen.
Mit dem Orientierungskurs soll erreicht werden, dass sich alle Zuwanderinnen und Zuwanderer „auf ein näheres Kennenlernen des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft“ einlassen und in einen „positiven Dialog“ eintreten. 2 Der Kurs besteht aus 7 Abschnitten, von denen drei als „Module“ bezeichnet werden, deren Stundenumfang vorgegeben ist. Zu jedem Abschnitt gibt es „Feinlernziele“, die „eine verbindliche Maßgabe für die genaue Kursplanung“ darstellen 3. Ganz offensichtlich handelt es sich um detaillierte Arbeitsanweisungen, die die Lehrkräfte zu befolgen haben.
Die pädagogischen Vorstellungen des Curriculums sind sehr hoch gesteckt: „Die Teilnehmer sollen angeregt werden, sich aktiv in das Unterrichtsgeschehen einzubringen und an dessen Gestaltung zu partizipieren. Das Lernen wird als ganzheitlicher Prozess betrachtet, bei dem der Weg der Teilnehmer zur eigenständigen Erkenntnis im Mittelpunkt des Interesses steht.“ 4
Der Unterricht soll teilnehmer- und handlungsorientiert sein, multiperspektivisch, und mit wechselnden Sozialformen und vielfältigen Methoden das selbstständige Lernen auch noch fördern.
Aber damit nicht genug. Es soll auch „historisches Denken geschult und historisches Bewusstsein entwickelt werden“ 5 Im Unterricht sollen „kontroverse Standpunkte deutlich“ gemacht und diskutiert werden, die TeilnehmerInnen sollen einen „Perspektivenwechsel in der Sache“ vornehmen und so „Grundvoraussetzungen für Verständnis und Toleranz“ 6 einüben.
Das klingt so, als ob Ausländer, bevor sie nach Deutschland kamen, noch nie etwas von Toleranz gehört hätten.
Neben diesen didaktischen Vorgaben wird den TeilnehmerInnen zwei Mal 7 deutlich gemacht, „dass sie das Zertifikat Integrationskurs nur dann erlangen, wenn sie (…) im Test Leben in Deutschland die für das Bestehen des Orientierungskurses notwendige Punktzahl erreichen.“ Um Punkte geht es es hierbei nämlich auch. Wenn man das Zertifikat nicht erlangt, können sich negative Konsequenzen für die Aufenthaltsbewilligung ergeben. Der Test muss auch von Personen bestanden werden, die als Analphabeten in einem Alphabetisierungskurs angefangen und 900 Unterrichtsstunden Deutsch gelernt haben. Welche Inhalte werden im Test verlangt?
Zwar wird im Curriculum immer wieder erwähnt, dass sich der Kurs an den Alltagserfahrungen der Lernenden orientiert, die inhaltlichen Vorgaben sehen jedoch anders aus. So werden z.B. die „Aufgaben und Funktionen der Verfassungsorgane 1. Bundestag, 2. Bundesregierung, 3. Bundesrat: Beteiligung der Bundesländer bei Gesetzgebung, 4. Bundesverfassungsgericht, 5. Bundespräsident“, sowie „Parteien im Bundestag, Parteien vor Ort“ und „Staatssymbole: Hymne, Wappen, Flagge, Hauptstadt, 3. Oktober“ in nur vier Unterrichtseinheiten abgehandelt.
Danach müssen die Lernenden u.a. wissen und durchschauen, warum sich das Regieren auf Bundesebene erschweren könnte, wenn es bei einer Landtagswahl zu einem Regierungswechsel gekommen ist, so bei der Frage 66 des Orientierungskurs-Tests. Von den Fragen Nr. 61 bis 66 wären vier wahrscheinlich nicht einmal von deutschen Schülern der gymnasialen Oberstufe ohne Weiteres zu beantworten. Das gilt auch für die Fragen 72, 75, 76, 77, 78, 79 usw. Für viele Fragen braucht man spezielle und vertiefte Kenntnisse des deutschen Staatsaufbaus. Andere Fragen erinnern eher an Trivial Pursuit, z.B. die Frage, wer den Text der deutschen Nationalhymne schrieb (Frage 61).
Der „Bundesausschuss Politische Bildung“ schrieb 2007 eine vernichtende Stellungnahme über die Orientierungskurse. Darin heißt es: „Darüber hinaus fragen wir uns, warum das Niveau der Anforderungen an das Wissen, gemessen am Wissen eines durchschnittlichen deutschen Bürgers/Bürgerin und erst recht gemessen am vorgesehenen Sprachniveau, dermaßen hoch sein muss und bezweifeln, dass es mit den vorliegenden didaktischen Vorschlägen erreicht werden kann.“
Aber nicht nur das. Auch die hoch gesteckten pädagogischen Ziele hält der Bundesausschuss für unrealistisch und undurchführbar: „Entgegen jeder aktuellen Bildungsforschung soll hier ein input-orientiertes, stark reglementierendes und überfrachtetes Programm vorgegeben werden, das aus fachlicher und pädagogischer Sicht weit hinter die Anforderungen außerschulischer Jugend- und
Erwachsenenbildung, aber auch hinter aktuelle Anforderungen an die schulische Didaktik, zurückfällt. Das hier abgebildete Verständnis von politischer Bildung ist das einer reglementierenden Staatskunde und nicht ausreichend, die gesellschaftliche und politische Teilhabefähigkeit, schon gar nicht das Interesse der Betroffenen daran, auszubilden.“
Schließlich wird dem Curriculum sogar noch „Indoktrination“ vorgehalten: „Der Zuschnitt des Curriculums gewährleistet keineswegs eine „Abgrenzung zur politischen Indoktrination“ 8 und die geforderte Wertevermittlung 9, sondern begünstigt schon aus Zeitgründen im Gegenteil das Ausblenden derjenigen Vermittlungsmöglichkeiten….“
Als ein Beispiel für Indoktrination kann ein Punkt aus dem Modul des Sozialversicherungssystems angeführt werden, und zwar die angebliche „Notwendigkeit privater Vorsorge“ 10. Die private Vorsorge, besonders die Riester-Rente, ist ein so komplexes Thema, dass hier nicht einfach von einer Notwendigkeit gesprochen werden kann. Fernsehberichten zufolge birgt die Riester-Rente sogar große finanzielle Gefahren für die Anleger.
Besonders irritierend wird das Thema der Grundrechte aufbereitet. Hier soll mit einer „Verknüpfung mit Alltagserfahrungen der Teilnehmenden und aktuellen Debatten (z. B. Zwangsheirat, Gewalt in der Familie, „Ehrenmord“ etc.)“ gearbeitet werden 11. Wieso werden Gewalt und Ehrenmorde als Alltagserfahrungen ausländischer Familien dargestellt? Was für ein seltsames Bild wird hier von Ausländern gezeichnet?
Zusammenfassend stellen wir fest, dass der Orientierungskurs nur wenig mit den Alltagserfahrungen der Zu-Integrierenden zu tun hat. Die Fragen nach dem Bundesratspräsidenten, dem Bundestag, der Bundesversammlung, dem Bundespräsidenten und den Ministerpräsidenten der Länder erinnern sehr an Martin Sonneborns Fragen an ahnungslose Ostdeutsche, wo denn der westliche Kulturkreis anfange und wo er aufhöre. Sonneborn stellt in seiner Satire bei einer ostdeutschen Dame fest, dass sie mit den von ihr erreichten 27 Punkten eher in die Türkei passen würde und fragt, ob sie einen Integrationskurs besuchen möchte! Er sagt: „Sie sind schlecht angezogen, sprechen kein richtiges Deutsch, und haben nicht mal eine Heino-Platte. In der Zone wächst eine gefährliche Parallelgesellschaft heran.“
Sonneborn nimmt damit die hilflosen Eindeutschungsbemühungen der Integrations- und Orientierungskurse auf die Schippe. In der Satire heißt es: „Guten Tag, wir sind vom Amt für Integrationsförderung, nachgeordnet dem Innenministerium.“ Parallelen zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (einer Behörde des Innenministeriums) sind gewiss nicht zufällig. Leider ist bis heute das Bundesinnenministerium, und nicht etwa ein Bildungsministerium für die Integrations- und Orientierungskurse zuständig.
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Am 07.02.2013 strahlte ARTE einen 90 minütigen Beitrag mit dem Thema „Zertifikat Deutsch“ aus; hier zu sehen:
http://videos.arte.tv/de/videos/zertifikat-deutsch–7294792.html
Hier wird der Weg einer Integrationskursklasse bis zum Ende des Kurses, inklusive Orientierungskurs, gezeigt. Der Kurs lässt sich als niederschwellig umschreiben, zeigt darüber hinaus auch, mit welchen Randbedingungen die Migranten existenziell zu kämpfen haben. Nach meiner Lehrerfahrung ist dieser ARTE-Beitrag für Integrationskurse durchaus exemplarisch und nicht eine Ausnahme, wenngleich es auch manche dynamischeren Klassenzusammensetzungen gibt.
Bei Minuten 60 sehen wir im Film die Überleitung hin zum anschließenden Orientierungskurs. Während der Kursleiter Dieter Hof bei Minute 81 begründet, warum die Teilnehmer vom zu leistenden Programm sprachlich überfordert seien, wird ganz anderes im Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen debattiert. Prof. Dr. Olaf Kölle sagt, dass es primär um Daten- und Faktenwissen ginge und er stellt die Kernfrage: „Wie sind die psychometrischen Eigenschaften der Items“ beschaffen. Ein Teilnehme des Gremiums, leider namentlich nicht identifiziert, trägt bei Minute 70 des Films vor: „Die Wahrscheinlichkeit, dass man primatenhaft die richtigen Antworten dann findet, ist eben doch sehr gering, so dass mit einer begrenzten Zahl von Items seine Einsicht in die Mechanismen demonstrieren kann.“
Angesichts der hier erwähnten Polaritäten stellt sich wirklich die Sinnfrage, aber auch die Frage nicht allein nach einem IQ, sondern auch nach einem EQ.
Leider wurde der Filmbeitrag nach sieben Tagen von ARTE automatisch vom Netz genommen. Wir sind derzeit gerade bemüht, die Nutzungsrechte zu erwerben.
Online-Petition für die Rechte der Freien beim rbb – bitte zeichnen und weitersagen!!!
Beim Rundfunk Berlin-Brandenburg kämpfen die Freien gerade darum, dass auch sie (als arbeitnehmerähnliche Personen) durch den Personalrat vertreten werden.
Das sollten wir unbedingt unterstützen. Wir brauchen so etwas auch: Einbeziehung der Freine in die Mitbestimmung, es geht um merh Rechte und mehr Schutz!
https://www.openpetition.de/petition/online/freie-in-den-rbb-personalrat
Wenngleich die Petition nicht gerade direkt unser Thema inhaltlich anspricht, halte ich es für wichtig, zu unterschreiben. Die Petition spricht nämlich die Situation vieler Freiberufler/Freigestellter und somit alle diejenigen Honorarathleten an, die von ihrem Beruf leben müssen und wollen und nicht nebenher nur mal ein bisschen hier und da was tun wollen.
Ob Lehrkräfte bei Bildungsträgern, Lehrbeauftrage an Universitäten oder freiberufliche Mitarbeiter beim RBB, Zalando, Amazon, Hermes, etc:
Dieses zum Himmel schreiende Dilemmate der beruflichen Randbedingungen sind politisch überhaupt nicht derart reguliert, dass dem Einhalt geboten werden könnte; nein: sogar politisch unter dem neoliberalen Stern gewollt.
So, wie jede Lehrkraft wegen Scheinselbstständigkeit solo mit oder gegen eine Rentenanstalt zu kämpfen hat und im Zweitverfahren mit vom Richter abhängigen Beschluss bezüglich ihres Status betreut oder alleingelassen wird, so sind wir alle in die Diaspora geschickt.
Jede Person für sich alleingestellt, jeder Berufsstand für sich alleingestellt, mit gewerkschaftlich kaum und nur zäher, geringfügiger Unterstützung. Es wäre auch vonnöten, den Gewerkschaften die Bude einzurennen. Zitat: „Jede Gewerkschaft ist nur so stark, wie ihre Mitglieder.“
Die Vereinzelung ist gut für die Lobbyisten und für den Weiterbestand einer Regierung mit einer Politik, die offenkundig und auf vielen ihrer Ebenen zeigt, dass der Mensch nichts mehr wert ist.
Während wir hier versuchen, die Gründe unserer Probleme aufzuzeigen, sind es, wie die Petition zeigt, die Gründe vieler! Es ist erforderlich, dass wir zusammenstehen und aus der politisch gewollten Diaspora einen Zusammenschluss bilden.
Ich erinnere mich an Zeiten, in denen wir noch selbstständig die Orientierungskurse geleitet haben, d.h. Zielgruppen orientiert gearbeitet haben. Es würde mich wirklich interessieren, wie viel diese ganzen Experten, Wissenschaftler und die Verlage an Geld kassieren und wo die Lobby steckt, die vorschreibt, wie und was man zu machen hat.
Es ist ja bekannt, dass die Kursleiter nun auch noch ein Seminar machen müssen, um überhaupt Orientierungskurse anbieten zu dürfen. Da bei uns immer Kurse (Sprache + Orie) vergeben werden, bleibt einem also nichts anderes übrig als dies auch zu tun.
Bis jetzt war es immer so, dass beim Landesverband in Hannover die Seminare am Wochenende stattfanden, so dass die Kursleiter „nur“ ihre Freizeit verloren haben. Nun finden die Seminare auch an Wochentagen statt, d.h. man verliert auch noch sein Einkommen für diese Tage.
Das ist wirklich unglaublich!
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