Arm durch Arbeit

Vom Sinn und Unsinn der „Orientierungskurse“

Mit dem Orientierungskurs sollen Zuwanderer Deutschland näher kennenlernen. Was von den Teilnehmern aber abverlangt wird, sprengt teilweise den gesunden Menschenverstand: Riester-Rente, Einfluss des Bundesrates, Ehrenmord. Georg Niedermüller kennt den täglichen Wahnsinn. Er ist Integrationskurslehrer.

Der „Orientierungskurs“ stellt einen Teil im Integrationskurs dar, in dem die TeilnehmerInnen „Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland“ erlangen sollen. Im § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Integrationskursverordnung wird als Ziel des Kurses die „Vermittlung von Alltagswissen sowie von Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“ 1 angegeben. All dieses soll innerhalb von 60 Unterrichtseinheiten gelernt werden und mit einem Test abschließen, der aus 25 von 250 möglichen Fragen besteht. Werden mindestens 13 Fragen richtig beantwortet, gilt der Test als bestanden. Die Kursinhalte und Ziele lassen sich im 35-seitigen „Curriculum für einen bundesweiten Orientierungskurs“ nachlesen.

Mit dem Orientierungskurs soll erreicht werden, dass sich alle Zuwanderinnen und Zuwanderer „auf ein näheres Kennenlernen des deutschen Staates und der deutschen Gesellschaft“ einlassen und in einen „positiven Dialog“ eintreten. 2 Der Kurs besteht aus 7 Abschnitten, von denen drei als „Module“ bezeichnet werden, deren Stundenumfang vorgegeben ist. Zu jedem Abschnitt gibt es „Feinlernziele“, die „eine verbindliche Maßgabe für die genaue Kursplanung“ darstellen 3. Ganz offensichtlich handelt es sich um detaillierte Arbeitsanweisungen, die die Lehrkräfte zu befolgen haben.

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Die pädagogischen Vorstellungen des Curriculums sind sehr hoch gesteckt: „Die Teilnehmer sollen angeregt werden, sich aktiv in das Unterrichtsgeschehen einzubringen und an dessen Gestaltung zu partizipieren. Das Lernen wird als ganzheitlicher Prozess betrachtet, bei dem der Weg der Teilnehmer zur eigenständigen Erkenntnis im Mittelpunkt des Interesses steht.“ 4
Der Unterricht soll teilnehmer- und handlungsorientiert sein, multiperspektivisch, und mit wechselnden Sozialformen und vielfältigen Methoden das selbstständige Lernen auch noch fördern.

Aber damit nicht genug. Es soll auch „historisches Denken geschult und historisches Bewusstsein entwickelt werden“ 5 Im Unterricht sollen „kontroverse Standpunkte deutlich“ gemacht und diskutiert werden, die TeilnehmerInnen sollen einen „Perspektivenwechsel in der Sache“ vornehmen und so „Grundvoraussetzungen für Verständnis und Toleranz“ 6 einüben.
Das klingt so, als ob Ausländer, bevor sie nach Deutschland kamen, noch nie etwas von Toleranz gehört hätten.

Neben diesen didaktischen Vorgaben wird den TeilnehmerInnen zwei Mal 7 deutlich gemacht, „dass sie das Zertifikat Integrationskurs nur dann erlangen, wenn sie (…) im Test Leben in Deutschland die für das Bestehen des Orientierungskurses notwendige Punktzahl erreichen.“ Um Punkte geht es es hierbei nämlich auch. Wenn man das Zertifikat nicht erlangt, können sich negative Konsequenzen für die Aufenthaltsbewilligung ergeben. Der Test muss auch von Personen bestanden werden, die als Analphabeten in einem Alphabetisierungskurs angefangen und 900 Unterrichtsstunden Deutsch gelernt haben. Welche Inhalte werden im Test verlangt?

Zwar wird im Curriculum immer wieder erwähnt, dass sich der Kurs an den Alltagserfahrungen der Lernenden orientiert, die inhaltlichen Vorgaben sehen jedoch anders aus. So werden z.B. die „Aufgaben und Funktionen der Verfassungsorgane 1. Bundestag, 2. Bundesregierung, 3. Bundesrat: Beteiligung der Bundesländer bei Gesetzgebung, 4. Bundesverfassungsgericht, 5. Bundespräsident“, sowie „Parteien im Bundestag, Parteien vor Ort“ und „Staatssymbole: Hymne, Wappen, Flagge, Hauptstadt, 3. Oktober“ in nur vier Unterrichtseinheiten abgehandelt.

Danach müssen die Lernenden u.a. wissen und durchschauen, warum sich das Regieren auf Bundesebene erschweren könnte, wenn es bei einer Landtagswahl zu einem Regierungswechsel gekommen ist, so bei der Frage 66 des Orientierungskurs-Tests. Von den Fragen Nr. 61 bis 66 wären vier wahrscheinlich nicht einmal von deutschen Schülern der gymnasialen Oberstufe ohne Weiteres zu beantworten. Das gilt auch für die Fragen 72, 75, 76, 77, 78, 79 usw. Für viele Fragen braucht man spezielle und vertiefte Kenntnisse des deutschen Staatsaufbaus. Andere Fragen erinnern eher an Trivial Pursuit, z.B. die Frage, wer den Text der deutschen Nationalhymne schrieb (Frage 61).

Der „Bundesausschuss Politische Bildung“ schrieb 2007 eine vernichtende Stellungnahme über die Orientierungskurse. Darin heißt es: „Darüber hinaus fragen wir uns, warum das Niveau der Anforderungen an das Wissen, gemessen am Wissen eines durchschnittlichen deutschen Bürgers/Bürgerin und erst recht gemessen am vorgesehenen Sprachniveau, dermaßen hoch sein muss und bezweifeln, dass es mit den vorliegenden didaktischen Vorschlägen erreicht werden kann.“

Aber nicht nur das. Auch die hoch gesteckten pädagogischen Ziele hält der Bundesausschuss für unrealistisch und undurchführbar: „Entgegen jeder aktuellen Bildungsforschung soll hier ein input-orientiertes, stark reglementierendes und überfrachtetes Programm vorgegeben werden, das aus fachlicher und pädagogischer Sicht weit hinter die Anforderungen außerschulischer Jugend- und
Erwachsenenbildung, aber auch hinter aktuelle Anforderungen an die schulische Didaktik, zurückfällt. Das hier abgebildete Verständnis von politischer Bildung ist das einer reglementierenden Staatskunde und nicht ausreichend, die gesellschaftliche und politische Teilhabefähigkeit, schon gar nicht das Interesse der Betroffenen daran, auszubilden.“

Schließlich wird dem Curriculum sogar noch „Indoktrination“ vorgehalten: „Der Zuschnitt des Curriculums gewährleistet keineswegs eine „Abgrenzung zur politischen Indoktrination“ 8 und die geforderte Wertevermittlung 9, sondern begünstigt schon aus Zeitgründen im Gegenteil das Ausblenden derjenigen Vermittlungsmöglichkeiten….“

Als ein Beispiel für Indoktrination kann ein Punkt aus dem Modul des Sozialversicherungssystems angeführt werden, und zwar die angebliche „Notwendigkeit privater Vorsorge“ 10. Die private Vorsorge, besonders die Riester-Rente, ist ein so komplexes Thema, dass hier nicht einfach von einer Notwendigkeit gesprochen werden kann. Fernsehberichten zufolge birgt die Riester-Rente sogar große finanzielle Gefahren für die Anleger.

Besonders irritierend wird das Thema der Grundrechte aufbereitet. Hier soll mit einer „Verknüpfung mit Alltagserfahrungen der Teilnehmenden und aktuellen Debatten (z. B. Zwangsheirat, Gewalt in der Familie, „Ehrenmord“ etc.)“ gearbeitet werden 11. Wieso werden Gewalt und Ehrenmorde als Alltagserfahrungen ausländischer Familien dargestellt? Was für ein seltsames Bild wird hier von Ausländern gezeichnet?

Zusammenfassend stellen wir fest, dass der Orientierungskurs nur wenig mit den Alltagserfahrungen der Zu-Integrierenden zu tun hat. Die Fragen nach dem Bundesratspräsidenten, dem Bundestag, der Bundesversammlung, dem Bundespräsidenten und den Ministerpräsidenten der Länder erinnern sehr an Martin Sonneborns Fragen an ahnungslose Ostdeutsche, wo denn der westliche Kulturkreis anfange und wo er aufhöre. Sonneborn stellt in seiner Satire bei einer ostdeutschen Dame fest, dass sie mit den von ihr erreichten 27 Punkten eher in die Türkei passen würde und fragt, ob sie einen Integrationskurs besuchen möchte! Er sagt: „Sie sind schlecht angezogen, sprechen kein richtiges Deutsch, und haben nicht mal eine Heino-Platte. In der Zone wächst eine gefährliche Parallelgesellschaft heran.“

Sonneborn nimmt damit die hilflosen Eindeutschungsbemühungen der Integrations- und Orientierungskurse auf die Schippe. In der Satire heißt es: „Guten Tag, wir sind vom Amt für Integrationsförderung, nachgeordnet dem Innenministerium.“ Parallelen zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (einer Behörde des Innenministeriums) sind gewiss nicht zufällig. Leider ist bis heute das Bundesinnenministerium, und nicht etwa ein Bildungsministerium für die Integrations- und Orientierungskurse zuständig.

  1. S. 6
  2. S. 7
  3. S. 9
  4. S. 13
  5. S. 10
  6. S. 13
  7. S. 17 und S. 32
  8. S.2 des Entwurfs
  9. ebd.
  10. S. 21
  11. S. 21