Interview mit Matthias Deiß und Jo Goll
„Der Tod von Hatun Sürücü hat das Bewusstsein geändert.“
Heute vor acht Jahren wurde Hatun Sürücü auf offener Straße ermordet. Motiv: Ehrenmord. Mattias Deiß und Jo Goll haben zu diesem Fall mehrere Jahre recherchiert. MiGAZIN sprach mit den beiden Journalisten über die Ehrenmord-Debatte.
Von Ekrem Şenol Donnerstag, 07.02.2013, 8:27 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 25.03.2014, 9:39 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Ekrem Şenol: Am 7. Februar jährt sich der Todestag von Hatun Sürücü. Sie wurde auf offener Straße erschossen. Das löste eine bundesweite Diskussion aus um Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen. Sie haben sich mit diesem Fall intensiv auseinandergesetzt. Wie beurteilen Sie öffentliche Debatte, wenn Sie zurückblicken?
Matthias Deiß berichtet als Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio für Tagesschau und Tagesthemen aus Berlin. Deiß ist (Co)Autor mehrerer preisgekrönter Fernsehdokumentationen, darunter auch der ARD-Dokumentation „Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü“, die 2011 als bestes europäisches Fernsehprogramm im Bereich „Aktuelles Zeitgeschen“ mit dem „Prix Europa“ ausgezeichnet wurde. Die Recherchen zu diesem Film bildeten die Grundlage für das Sachbuch „Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal“, das im Juli 2011 im Hoffmann und Campe Verlag erschien.
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Matthias Deiß: Mein Urteil ist geteilt. Klar ist: Uns alle, Bürger, Politiker und Medien hat der Mord schockiert. Einige haben in dieser Schock-Situation sicherlich überreagiert. Ich meine damit einen Teil der Medien, der in Berichten und Kommentaren pauschalisiert und skandalisiert hat. Einige Politiker, die unsinnige Gesetzesverschärfungen oder die Abschiebung der gesamten Familie Sürücü gefordert und damit eine ganze Familie in Sippenhaft genommen haben – darunter auch Hatuns unschuldige Schwestern, die bis heute an dieser Pauschalisierung leiden. Und einige Bürger, die all das unreflektiert übernommen haben.
Trotzdem war die Debatte notwendig. Der Fall hat deutlich gemacht, dass es Parallelgesellschaften in Deutschland gibt, für die ihr archaischer Ehrbegriff über den Gesetzen steht. Dies war vorher nicht allen klar. Wir haben mit Hatun Sürücüs Betreuerinnen im Jugendamt gesprochen. In den Akten finden sich klare Hinweise auf ihre damalige Situation. Schriftliche Hilferufe, in denen sie von den Bedrohungen Ihrer Brüder berichtet. Keiner der Beamten hat damals damit gerechnet, dass sie wirklich in Lebensgefahr ist. Heute wäre das anders. Der Tod von Hatun Sürücü hat das Bewusstsein geändert. In vielen Behörden ist man heute sensibler, hellhöriger und reagiert schneller, wenn Frauen um Hilfe bitten. Und das ist auch dringend notwendig. Schließlich hat der Staat die Aufgabe, alle seine Bürger zu schützen.
Ich beispielsweise wurde von einer älteren und äußerst netten Dame aus einem kleinen Dorf einmal gefragt, ob ich auch zwangsverheiratet bin. Sie hat diese Frage gestellt, als sie mitbekommen hat, dass ich türkischstämmig bin. Später erfuhr ich, dass sie bis dato noch nie Kontakt zu einem „Türken“ hatte. Sie hatte sich die Frage aus den Medienberichten zusammengereimt. Glauben Sie auch, dass die Berichterstattung dazu geführt hat, dass bestimmten Migrantengruppen in der öffentlichen Wahrnehmung in ein schlechtes Licht gerückt wurden?
Jo Goll ist Redakteur und Reporter für die ARD-Tagesschau, Autor für Kontraste und den rbb-Reporterpool. Schwerpunkt seiner Arbeit sind die Themenfelder Rechtsextremismus Islamismus, Migrationspolitik. In den vergangenen Jahren hat er zahlreiche TV-Reportagen und Dokumentationen verfasst, die mehrfach ausgezeichnet wurden.
Jo Goll: Sicherlich ist dieses Beispiel traurig und muss nachdenklich stimmen, keine Frage. Es wäre jedoch falsch, daraus abzuleiten, dass es keine Debatte nach dem Ehrenmord hätte geben dürfen. Ganz im Gegenteil. Dass es bis heute Ehrenmordfälle gibt, zeigt vielmehr, dass die Debatte weitergeführt werden muss. Vergessen wir bitte nicht, dass es nach der Tat auch Stimmen von Schülern und Bürgern mit Migrationshintergrund gab, die den Tod von Hatun Sürücü gerechtfertigt haben.
Ich finde allerdings, dass uns diese Debatte nicht weiterbringt. Besser wäre es, wenn alle Seiten aufeinander zugehen, statt mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Wir wollen eine gemeinsame Gesellschaft. Also sollten wir auch gemeinsam überlegen, wie diese Gesellschaft besser werden und was jeder dazu beitragen kann.
Können sie die Verstimmung in einigen migrantischen Communities nachvollziehen, die sich von dieser Debatte pauschal verurteilt und angeprangert gefühlt haben?
Jo Goll: Ja.
Im Zuge dieser Debatten wurde unter anderem das Zuwanderungsgesetz verschärft. Ehegatten aus dem Ausland, die zu ihren Partnern nach Deutschland ziehen wollen, müssen heute einen Sprachtest bestehen. Das verhindere Zwangsehen und in der Folge auch Ehrenmorde. Diese Regelung wird teilweise heftig kritisiert, weil das Thema Ehrenmord und Zwangsehen vom Gesetzgeber missbraucht worden sei, um den ungewollten Zuzug von Ausländern zu verhindern. Wie sehen sie das? Hat die Debatte dem Gesetzgeber eine willkommene Vorlage geliefert, um das Zuwanderungsrecht zu beschränken?
Matthias Deiß: Meiner Meinung nach nein. In der Politik ist mittlerweile angekommen, dass wir Einwanderer wegen des Fachkräftemangels und der sinkenden Geburtenrate dringender brauchen denn je. Wir haben im Zuge unserer Recherchen die Deutschkurse beim Goethe-Institut in Istanbul besucht, waren dort auch am deutschen Konsulat. Die Lehrer haben uns mitgeteilt, dass sie alle bereits von Frauen und Männern angesprochen wurden, die erzählt haben, dass sie selbst gar nicht nach Deutschland wollten und im Vertrauen um Hilfe gebeten haben. Auch am Konsulat gibt es solche Fälle bei der Beantragung von Visa immer wieder. Die Themen Zwangsehen und Ehrenmord werden also nicht missbraucht, sondern existieren tatsächlich und müssen angegangen werden. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Wir müssen Einwanderer in Deutschland herzlich willkommen heißen. Hier hat die so genannte Mehrheitsgesellschaft sicherlich Defizite.
Kommen wir zu einem aktuellen Fall. Erst vor wenigen Tagen wurden hohe Haftstrafen verhängt gegen die Familie eines Ehrenmordopfers. Wie beurteilen Sie diesen Richterspruch?
Jo Goll: Wir haben den Fall Arzu Ö. natürlich mit Interesse beobachtet. Anders als im Fall Sürücü hat das Gericht hier eine Beteiligung gleich mehrerer Familienmitglieder nachweisen können. So wurde der Vater verurteilt, weil er seine Söhne nicht von der Ermordung ihrer Schwester abgehalten hat und auch gegen die Mutter wird jetzt geklagt. Das Urteil ist sicherlich ein wichtiges Signal, weil es zeigt, dass ein Familienbeschluss zu einem Mord auch als solcher bestraft wird. Oft ist dieser Nachweis allerdings schwer zu führen und gelingt Gerichten nicht immer, ganz egal, ob sie in Deutschland, der Türkei oder in einem anderen Land verhandeln. Im Fall Sürücü wurden zwei mitangeklagte Brüder ja zunächst freigesprochen. Nach dem Freispruch sind sie dann in die Türkei geflohen. Einen der beiden konnten wir dort interviewen. Obwohl er mit nun wieder mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, fühlt er sich als freier Mann. Dass die deutschen Behörden zum Zeitpunkt unseres Treffens Anfang 2011 noch nicht einmal einen Auslieferungsantrag gestellt hatten, hat uns sehr zu denken gegeben.
Ihr Buch „Ehrenmord – ein deutsches Schicksal“ ist vor wenigen Tagen als Sonderdruck im Programm der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Ihre Dokumentation „Verlorene Ehre“ zum Hatun-Sürücü-Fall wurde mehrmals ausgezeichnet. Welches Signal geht hiervon aus?
Matthias Deiß: Es zeigt, dass unser Ansatz, den Dingen ohne Vorverurteilungen und Wertungen auf den Grund zu gehen, richtig gewesen ist und honoriert wird. Wir wollten ja bewusst die politische Debatte bei Seite lassen und stattdessen ganz grundsätzlich fragen: Warum ist dieser Ehrenmord passiert? Was ist bei Familie Sürücü falsch gelaufen? Wir freuen uns, zumindest zum Teil Antworten gefunden und das Thema damit auf eine sachlichere Ebene geführt zu haben. Aktuell Interview
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Mich stört wieder einmal der Begriff „Ehrenmord“. Was hat Mord mit Ehre zu tun? Könnte man nicht endlich auf diese verniedlichende Bezeichnung verzichten und einfach nur das Wort MORD (§ 211 StGB) benutzen.
@ H.Gross: Was hat Mord mit Ehre zu tun? Könnte man nicht endlich auf diese verniedlichende Bezeichnung verzichten und einfach nur das Wort MORD (§ 211 StGB) benutzen.
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„Ehrenmord“ ist Mord nach §21 StGB. Aber er hat eine andere Motivation als der „gewöhnliche“ Mord.
Der Begriff „Ehrenmord“ hat auch nichts Verniedlichendes. Es ist ie Beschreibung der widerlichen Vorstellung, dass die Frau die Trägerin der (Familien-) Ehre ist. Hat sie diese erst einmal „befleckt“, kan sie nichts eigenes mehr unternehmen, um diese „Schande“ wieder gutzumachen.
So wird sie ermordet, um die „Ehre der Familie“ wieder herzustellen… In dieser kranken, mittelalterlichen Welt leben die Täter…